• Titelbild
• Editorial
• das erste: Dorfgemeinschaft Connewitz
• teaser: Dezember 2011 & Januar 2012 im Conne Island
• Infoladen-Reopening
• Antisemitismus-Workshop
• Wut ist das neue Umarmen
• winterRADALE
• Hot Christmas Hip Hop Jam
• doku: 20 Jahre Nebenwiderspruch
• review-corner buch: Der Schwarze Engel
• position: Schönes neues Egalia
• doku: Wir gratulieren zu 20 Jahren Inselkoller
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• neues vom: business as usual...
Nichts da, ich bin kein Raunzer; mein Hass gegen diese Stadt ist nicht verirrte
Liebe, sondern ich habe eine völlig neue Art gefunden, sie
unerträglich zu finden.(1) Aus seiner Abneigung gegen die Stadt Wien, in
der er sich Zeit seines Lebens aufhielt, hat Karl Kraus nie ein Geheimnis
gemacht. Trotz der Verachtung des Wiener Alltags, die sich gegen die
Kaffeehausliteraten ebenso richtete wie gegen eine als korrupt empfundene
Presse und Politik, und in deren Zentrum nicht selten die Anklage der Wiener
Gemütlichkeit stand, ist dem, der mit aller Kraft gegen sie anschrieb,
gleichwohl nie ernsthaft der Gedanke gekommen, sich aufs Land oder in die
Einsamkeit zurückzuziehen. Es gibt ein Zeitgefühl, das sich
nicht betrügen lässt. Man kann auf Robinsons Insel gemütlicher
leben als in Berlin; aber nur, solange es Berlin nicht gibt. 1910 wird`s auf
Robinsons Insel ungemütlich.(2) Ganz jedoch scheint der moderne
Städter die Sehnsucht nach einer Insel, nach einem Stück Idylle und
Unschuld inmitten des Betons, niemals losgeworden zu sein. Was man in Hamburg,
Berlin oder Leipzig den Kiez nennt, steht für eben jenes Fleckchen
Erde, das irgendwie besser sein soll als seine Umgebung: überschaubar,
persönlich, eine Oase des Authentischen inmitten der allseitigen
Anonymität der Großstadt. Nicht zufällig verweist das Wort Kiez
begriffsgeschichtlich auf das Mittelalter. Glaubt man der Autorin der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Friederike Haupt, ist Leipzig, vor
allem der Leipziger Süden, ein solches kleines Paradies. Verzaubert muss
sie gewesen sein, als sie im Spätsommer zwei Studentinnen durch die
Heldenstadt begleitete und danach folgende Zeilen in ihren Computer tippte:
An ihrer Haustür holt man sie ab, in Connewitz, einem wilden
Viertel, es gibt besetzte Häuser und grünhaarige Punks, die mit ihren
Hunden herumsitzen, ohne dass es irgendjemandem auffiele. Es gibt vegane
Restaurants, in denen man für Freitagabend reservieren muss, um noch einen
Platz zu bekommen, deutschlandweit bekannte Indie-Clubs wie Ilses Erika`,
Arthouse-Kinos, Kulturzentren und sehr verrauchte Raucherkneipen wie Frau
Krause` [...] Die Altbauten stehen dicht und hoch, Großstadt eben, aber
trotzdem ist die Studentin [...] in fünf Minuten in der Natur. Bei den
Elchen, die unter hohen Bäumen dösen im Wildpark. [
]
Natur und Partys gehören in Leipzig zusammen, vor allem im Sommer, wenn
das Gras abends noch warm ist von der Sonne und niemand in einen Club gehen
will, weil es sich unter freiem Himmel viel besser tanzt.(3) Das insulare
Integrationsprojekt führt alles und jeden zusammen. Die Stadt verbindet
sich mit der Natur und dem Land, der Westen und seine Indie-Clubs existieren
friedlich neben dem Osten und seiner Frau Krause. Ja, Connewitz ist ein
wildes Viertel, so wild wie auf einem Abenteuerspielplatz. Hier trifft man sich
beim ersten Schnee zur großen Schneeballschlacht am Connewitzer Kreuz,
tollt wie junge Hunde im weißen Staub herum und wirft (am liebsten
teuren) Autos Schneebälle ins Fenster. An Silvester lässt sich die
Polizei alljährlich stoisch die Raketen und Böller um die Ohren
knallen, bevor am Ende eine handvoll erlebnisorientierter Jugendlicher in
Gewahrsam genommen wird.
Wann immer sich derartige Robinson-Abenteuerinseln bedroht sehen, betritt die
Kiezpolitik die Bühne. Mal äußert sie sich als deutscher Mob,
der das Viertel gegen Junkies, Migranten oder, wie jüngst im
sachsen-anhaltinischen Insel, gegen Sexualstraftäter verteidigen will; mal
ist es die grüne Mittelschicht, die sich ihren Bahnhof samt Bepflanzung
nicht nehmen lassen möchte; und mal ist es eine linke Kiezmiliz. Seit aus
der Soziologie der Begriff Gentrifizierung in den allgemeinen Sprachgebrauch
gesickert ist, verkauft vor allem zuletzt genannte den Milieu-Schutz
gern als Gentrifizierungskritik. So nun auch in Leipzig, genauer gesagt in
Connewitz. Nachdem man des Steinewerfens gegen den Netto an der Bornaischen
Straße, der einen beliebten Spätverkauf ersetzt hatte, müde
wurde, griff man regelmäßig sanierte Häuser im Viertel, das
Bürgeramt, einzelne Stadtvillen und schließlich einmal auch das
renovierte Vorderhaus des Conne Island an. Da die vermeintlichen
GentrifizierungskritikerInnen sich bis dato nicht durch lesbare Analyse zu Wort
gemeldet hatten, fragte der Plenumstext des Conne Island On the
streets...saving the scene from the forces of evil nach den Gründen.(4)
Diese sollten mit dem furchteinflößenden Flugblatt Tanzschuppen
zu Autonomen Zentren und dem milderen, um Diskussion bemühten, aber
gleichwohl trotzigen Text Wir gratulieren zu 20 Jahren Inselkoller
geliefert werden.(5) Um eine Analyse und Kritik der kapitalistischen Stadt
scheint es den AutorInnen dabei nicht zu gehen. Während das Stichwort
Gentrifizierung in den Texten kaum für mehr steht als steigende Mieten,
hohe Eintrittspreise und Aufwertung, wirft man dem Conne Island ganz konkret
Entpolitisierung vor. Anders als der Stadtkritiker Karl Kraus, der nur zu gut
wusste, dass das urbane Leben Möglichkeiten der Befreiung bietet, hinter
denen jede alternative Lebensform seiner Zeit zurückfiel, bleibt unter den
Leipziger GentrifizierungskritikerInnen der Geist der Urbanität
unbegriffen. Wo ein Stadtviertel als zu schützender und handgreiflich zu
verteidigender Kiez verstanden wird, ist man drauf und dran das
Glücksversprechen der Stadt zu verraten und als bornierte Dorfgemeinschaft
zu agieren. Gleichzeitig legen die GentrifizierungskritikerInnen mit dem was
sie sagen und was sie verschweigen offen, wie wenig Urbanität in Connewitz
eigentlich herrscht. Es gibt gerade mal eine Handvoll Kneipen, eine Reihe
obligatorischer Spätverkäufe, wo man sich wie überall
sonst kennt und alles soll sich bitte schön in einem Radius von 15
Minuten Fußweg befinden; die Fahrt nach Lindenau oder Plagwitz gleicht
für den Durchschnitts-Connewitzer einer Reise. Dass die Kiez-Romantik, die
in den Flugblättern zum Ausdruck kommt, damit gerade die Reproduktion der
unausweichlichen Enge der Dorfgemeinschaft bedeutet, deren Blick nichts entgeht
und der niemand entkommt, ist schlimm genug. Wenn dies aber zudem mit Slogans
wie Stadtteilkampf ist Klassenkampf oder dem Verweis auf den
antifaschistischen Kampf, aus dem sich das Conne Island
zurückgezogen habe, garniert wird, scheint das zugleich auf eine
Retraditionalisierung der Leipziger Linken hinzudeuten, die Böses ahnen
lässt.
Stadtgeschichte als dialektische Emanzipationsgeschichte
Unabhängigkeit von Naturzwang ist der Anfang aller Stadtkultur. Die
Häuser der Stadt, die sich wechselseitig schützen, die gepflasterten
Straßen, auf denen sich noch bei Regen flanieren lässt, die Lichter,
die die Nacht erhellen, nehmen der scheinbar unbezwingbaren Natur etwas von
ihrer Gewalttätigkeit. Das Leben in der Stadt befreit den Menschen von
ihrem unmittelbaren Diktat, indem es den Alltag von Wind und Wetter, Jahres-
und Tageszeiten unabhängig macht. Der Einzug in die Stadt bedeutet die
Emanzipation vom Zwang, sich mit einer unkultivierten Natur ums tägliche
Überleben auseinandersetzen zu müssen. Liegt an ihrem Anfang eine
erste Befreiung, so trägt sie das Versprechen in sich, in ihrem Fortgang
möge eine zweite folgen, die Befreiung aus verengten gesellschaftlichen
Verhältnissen, eine Emanzipation von der zweiten Natur.
Nirgends hat die Verknüpfung des urbanen Lebens mit der Hoffnung auf ein
Leben jenseits von Zwang, Mühe und Arbeit möglicherweise einen
deutlicheren Ausdruck gefunden als in dem Selbstverständnis der Griechen.
Die Scheidung zwischen Stadt und Land ist in der griechischen Antike die von
Muße und Arbeit. Die pulsierende Lebendigkeit, die auf den Plätzen
der Stadt, in den schützenden Hallen der Akropolis, in den kultivierten
Gärten der Gymnasien ebenso wie in den gefüllten Theatern herrschte,
war kein Ausdruck geschäftiger Betriebsamkeit, sondern der freien
Verfügung über Zeit. Fraglos hatte das befreite Leben der Athener
eine Kehrseite. Es war nur auf dem Rücken derer möglich, denen das
Attribut Städter verwehrt war und die für die Freiheit von der
Notwendigkeit der Bürger sorgten. Weil für die Griechen Freiheit
tatsächlich Befreiung von der Notwendigkeit selbst, durch Arbeit für
sein Überleben zu sorgen, hieß, waren die Eintrittspreise, die an
den Toren der Stadt zu entrichten waren hoch, zu hoch. Etwas von dieser
Trennung wiederholt sich heute in jeder Stadt. Aber auch davon schweigen die
AutorInnen der beiden Flugblätter, sobald es um den eigenen Kiez geht.
Dass das, was auftrumpfend Freiraumpolitik genannt wird, unter dem
Deckmantel von Ehrenamt und linker Projektsolidarität auf prekarisierter
Selbstausbeutung basiert, kommt ihnen nicht in den Sinn. Weil man den
Spätverkauf und die jeweilige Lieblingsbar als Teil des
Abenteuerspielplatzes akzeptiert hat, braucht einen auch nicht zu
interessieren, wie die langen Öffnungszeiten, die man so sehr
schätzt, eigentlich möglich sind. Darüber hinaus dürften
sich die Arbeitsverhältnisse, die Anstrengung, der Streit und Zank unter
Kollegen, die Forderung nach einer hohen Identifizierung mit dem
Projekt, die Abneigung gegen jene, die sich nicht genug
einbringen und nicht zuletzt die periodische Langeweile, oft kaum von
jedem stinknormalen bürgerlichen Job unterscheiden.
Doch nicht nur deswegen ist die Rede von Stadtteilkampf ist Klassenkampf
oder der Verweis auf jene, die sich die Eintrittspreise des Conne Island nicht
leisten können, mindestens Heuchelei. Denn tatsächlich möchte
man mit jenen, für die man dort scheinbar Partei ergreift gar nicht so
viel zu tun haben. Dabei war es in der industrialisierten Stadt, wo sich
überhaupt erstmals Menschen, die vorher durch Stand und Klasse getrennt
waren, auf engem Raum über den Weg liefen. Die sogenannte soziale
Durchmischung ist überhaupt erst mit dem Kapital wirklich geworden und
kaum jemand wehrt sich so entschieden gegen diese Tendenz, wie die alternativen
Kieze. Nicht nur sind auch die durchschnittlichen BewohnerInnen in Connewitz
nicht besser als die pikierten Bürger und würdigen die Punks, die
sich in erzwungener oder selbstgewählter Armut vor dem Rewe aufhalten,
keines Blickes. Was wäre, wenn dazu noch die Stammgäste aus dem
Bettenkölsch oder von Ingolfs Bierchen ihr Feierabendgetränk im
Könich Heinz oder dem Hotel Seeblick einnehmen wollten? Was wenn sie sich
des Abends auf eine Tanzveranstaltung ins Zoro verirrten? Tatsächlich ist
die Vermutung der Fremdenfeindlichkeit nicht im Sinne von Rassismus
sondern tatsächlich als Abneigung gegen Fremde , die im Text des
Conne Island Plenums geäußert wird, so falsch nicht und ihre
Zurückweisung mindestens unehrlich. Was die Stadt und der unbändige
Drang des Kapitals alles Stehende und Ständische aufzulösen,
ermöglichte, war die Erosion eines vorgegebenen sozialen Bezugsystems, das
die Beziehungen der Menschen zueinander lückenlos definiert. Es ist die
Abwesenheit eines solchen Rahmens, die es erst ermöglicht, dass sich
Individuen als Individuen und nicht als Träger eines sozialen Status
begegnen. Nur wo die sozialen Beziehungen aus den Abhängigkeiten und der
direkten Kontrolle vormoderner Bezugssysteme gelöst sind, können sich
Fremde als Fremde begegnen und zugleich als Gleichberechtigte anerkennen. Ganz
anders hingegen der O-Ton der Connewitzer Gentrifizierungskritik:
Schickie-Micki-Yuppie-Partys, die eben auch von Kiez-Fremden besucht
werden, die schlimmstenfalls erzbürgerliche Subjekte sind,
erklärt Tanzschuppen zu Autonomen Zentren ganz offen zum Feind,
während gleichzeitig von unkommerziellen Freiräume[n] für
alle gelogen wird.
Wohlgemerkt: Nicht, dass das Conne Island als Arbeitszusammenhang prinzipiell
offener sei. Doch die Bemühungen, Partizipation zu ermöglichen,
jemandem, der eben einmal fremd war (schließlich entstammt nicht jeder
und jede am Island dem linken Klüngel) Zugang zu Politik und Kultur zu
ermöglichen, sind ihm wie unperfekt auch immer schlichtweg
nicht abzusprechen. Billig deswegen auch die schlichte Ablehnung der Einladung
ins Plenum oder der Verweis darauf, erst einen Sitzfleischwettbewerb
[
] gewinnen(6) zu müssen. Merkwürdig ist auch das
Eingeständnis, sich das eine oder andere Mal am Einlass vorbei geschlichen
zu haben(7), womöglich noch bei einer Benefizdisse. Schließlich
zählt Projektsolidarität zu den linken Tugenden ersten Ranges.
Widersprüchlich ist die berechtigte Kritik an einer Security, die bei
geringsten Vergehen Gäste gewaltsam des Saales verweist.(8) Denn dies zu
beheben wäre gerade ein Mehr an Professionalität, also genau das,
wogegen sich die Romantisierung Autonomer Zentren doch richtet.
Die Gewalt der Kiez-Romantik oder die Gemeinschaft in der Gesellschaft
Karl Marx stellte einmal fest, dass die ganze menschliche Geschichte bis zum
Mittelalter eigentlich eine Geschichte des Landes sei. Auch wenn schon in der
Antike Städte als politische Zentren und Handelsorte eine bedeutende Rolle
spielten, so beginnt die Geschichte der Verstädterung erst in Folge der
ökonomischen, politischen und sozialen Umbrüche an der Schwelle zur
Moderne. Mit der Explosion der Städte veränderte sich auch ihr
Versprechen: Wo die Differenz zwischen Stadt und Land wie in der Antike im
Verhältnis zur Natur lag, da verhieß die Polis Befreiung vom
Naturzwang. Wenn hingegen in dem Gegensatz an die Stelle der Natur die
Gesellschaft tritt, dann stellt die Stadt die Befreiung aus verengten sozialen
und politischen Verhältnissen in Aussicht. So bedeutsam die
Industrialisierung fraglos für das Wachstum der Städte im 18. und 19.
Jahrhundert war ihre Anziehungskraft lässt sich nicht allein
ökonomisch erklären. Viel entscheidender war schon damals, dass die
Stadt die Möglichkeit bot, den Fesseln von Familie, Fürst und Pfarrer
zu entkommen. Wer seine Kindheit in der Enge der Provinz verbrachte, erinnert
sich vielleicht noch an das Glücksversprechen, das dem Umzug in die Stadt
und dem eigenen Zimmer in der WG innewohnte. Und auch heute, wo die Hoffnung
auf einen Fleck im Grünen durchaus eine Motivation ist, die die Menschen
jeden Morgen wieder zur Arbeit treibt und wo die immer größer
werdende Vorstädte die Geschichte der Verdörflichung der Stadt
erzählen, zieht es wenig Menschen wirklich zurück aufs Land. Die
unbesetzten Landarztstellen können davon ebenso Zeugnis ablegen, wie die
zu zweifelhafter Popularität gelangten TV-Formate à la Bauer sucht
Frau.
Was die Menschen heute in der Nähe der Stadt hält, die Ahnung von den
beengten und oft trostlosen Verhältnisse auf dem Land, war die Motivation,
die sie einst in die Städte zog. Dem war ein Prozess vorausgegangen, in
dem sich die Stadt selbst aus verengten ökonomischen, sozialen und
politischen Verhältnissen zu befreien begonnen hatte. Im ausgehenden
Mittelalter waren die europäischen Städte der gesellschaftliche Ort,
an dem die Feudalgesellschaft politisch und ökonomisch von der
bürgerlichen Gesellschaft abgelöst wurde. Dadurch wurde die
okzidentale Stadt des Mittelalters zum Ort einer dreifachen Emanzipation:
ökonomisch boten die neuen Verhältnisse die Möglichkeit, sich
aus den geschlossenen Verhältnissen der Feudalwirtschaft zu lösen;
politisch trat an die Stelle der erblichen Rechte des Adels das
Bürgerrecht; und sozial bereitete die bürgerliche Gesellschaft der
Idee der Individualität den Weg, der zufolge weder die Herkunft noch die
Gesellschaft, sondern die Person selbst darüber entscheiden soll, wer sie
ist. War die bürgerliche Gesellschaft folglich der Ort, an dem das Ideal
der Autonomie, die Idee der Selbstbestimmung in ökonomischer, politischer
und sozialer Hinsicht und damit die Idee der Befreiung von der zweiten Natur,
entstanden ist, so hat sie dieses Ideal zugleich der Ideologie
überführt. Nicht nur blieb bis ins 19. Jahrhundert das politische
Bürgerrecht an die auf Besitz gegründete Privatautonomie gebunden,
ohne dass die Gesellschaft die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen
erfüllt hätte, die jedem gleichermaßen die Chance
eingeräumt hätten, jene Privatautonomie zu erlangen. Vor allem war
der Preis den die Gesellschaft für die Ausweitung des Zugangs zum Reich
der Freiheit zu bezahlten hatte, die Unterwerfung aller unter das Diktat der
Notwendigkeit. Waren in der Antike einige wenige tatsächlich von den
Mühen und Zwängen der Arbeit befreit, so nahm die bürgerliche
Gesellschaft diese Freiheit zurück. Ihr Leitspruch war: Erst die Arbeit,
dann das Vergnügen.
Bis heute hat die Stadt ihr Emanzipationsversprechen nicht eingelöst und
die Erinnerung an eben jenes wäre die vorrangige Aufgabe und Voraussetzung
einer Kritik der kapitalistischen Stadt. Sie ist aufgehoben im Begriff der
Urbanität. Wo dieser nicht einfach als deskriptive Kategorie, sondern als
kritischer Begriff, der die städtische Realität an historisch
gewachsenen Maßstäben misst, verstanden wird, ist er Ausdruck der
bereits erreichten Befreiung des Individuums, das seine Existenz wenigstens ein
Stück weit sowohl gegen die Natur als auch gegen die Gesellschaft zu
behaupten vermag, wie des Potenzials, das über die bestehende Gesellschaft
hinausweist. Damit bezeichnet Urbanität mehr als die massenhafte
Konzentration der Menschen an einem Ort, an dem sie mehr schlecht als recht ein
Dach über dem Kopf finden. Mit diesem Begriff ist ein emphatisches
Verständnis von Stadtkultur verbunden: Stadtluft macht frei so viel
ist wahr daran, dass alle Freiheit, die die Menschheit bisher gekannt hat,
stadtgeboren ist. Nicht nur straft Connewitz dieses Ideal Lügen, sondern
was die GentrifizierungskritikerInnen der beiden Flugblätter propagieren,
ist gerade ein Zurück hinter das Glücksversprechen der
Urbanität.
Gemeinschaften, sei es nun das Dorf, die Scholle oder der Stamm, prägten
in der Vormoderne das Zusammenleben der Menschen. Als sozialer
Integrationsmodus versprachen sie Schutz und Wärme um den Preis des
Verzichts auf Unabhängigkeit und der Einwilligung in ein System der
sozialen Kontrolle. Erst in der Moderne ist an ihre Stelle die Gesellschaft
getreten. Sie ermöglicht Individualität und Autonomie um den Preis
der Anonymität und eines Verlustes an Sicherheit. Die Grenze zwischen
Gemeinschaft und Gesellschaft ist die zwischen Vertrautheit und
Nichtvertrautheit. Die Gemeinschaft will alles Individuelle vertilgen, sie will
sich den Menschen einverleiben, weil sie die ganze Person beansprucht. Die
Gesellschaft hingegen interessiert sich für den Menschen nicht als ganze
Person, sondern jeweils nur in einer bestimmten Rolle. Sie lässt ihn
Masken tragen und dies können wie in dieser Gesellschaft auch Masken sein,
an denen er leidet Marx hat sie Charaktermasken genannt , aber sie
lässt ihm das hinter der Maske versteckte Gesicht. Sie enthält
zumindest als Möglichkeit die Idee von Individualität. Auch wenn der
Entfaltung dieser Individualität durch die kapitalistische
Vergesellschaftung enge Grenzen gesetzt sein mögen, so hat das Leben in
der Stadt wenigstens einen Vorgeschmack darauf gegeben, was es heißen
kann, das Eigene wie das Fremde gleichermaßen anzuerkennen. Wo jedoch
jeder Widerspruch als Denunziationsversuch zurückgewiesen wird, da
bleibt kein Platz für ein Anderes, das fernab des eigenen
Selbstverständnisses liegt. Wer nicht dazugehört, wird ganz in der
Tradition der Vormoderne zum Feind erklärt. Dass es ihnen um Ausgrenzung
statt um Teilhabe geht, sprechen die SchreiberInnen des Flugblatts ganz
unverhohlen aus, indem sie die klassische Forderung der Gentrifizierungskritik
nach einem Recht auf Stadt durch die Fragen, für wen im Kiez Platz
ist, also wem der Kiez gehört ersetzen.
Dass ausgerechnet das Autonome Zentrum zum Gegenbild erhoben wird, steht
darüber hinaus für die lange linke Tradition, das Besondere,
Individuelle und Authentische im Groben, Rauen und Dreckigen zu suchen.
Graffiti, vergilbte Antifa-Poster oder die obligatorischen
Stahlschweißereien schlagen die Autonomen Zentren dieser Welt mindestens
genauso mit Ähnlichkeit, wie langweilige Glasfassaden die
Innenstädte. Mit der Liebe zum vermeintlich Unmittelbaren, Konkreten und
Direkten geht auch der unheimliche Hang zur Abschaffung jeder Distanz einher.
Ihr deutlichster Ausdruck sind Gewalt, Drohung und Einschüchterung:
Eure weiteren Ausführungen werten wir als Denunzierungsversuch, der
anmaßend ist und von uns als klare Provokation, Bedrohung und
ÖFFENTLICHE Anfeindung wahrgenommen wird. [
] Eins ist sicher: Ihr
und alle anderen, die offensiv Connewitz kaputtmachen und darüber hinaus
denunzieren, hetzen (ihr habt BILD-Niveau erreicht!) werden von uns aufmerksam
beobachtet. Bei diesen Worten ist scheinbar auch den AutorInnen von Wir
gratulieren zu 20 Jahren Inselkoller bang geworden; zumindest fügte man
dem Text eine mäßig glaubwürdige Distanzierung hinzu und
schrieb, das Flugblatt pflege das Freund-Feind-Denken und biete keine
Grundlage für einen Dialog.(9) Wenn sie es ernst meinten, wäre
ihnen Recht zu geben, denn wer auf den Grundsatz action speaks louder than
words setzt, der hat sich gegen eine politische Auseinandersetzung und für
einen Angriff entschieden. Wie ernst sie diese Distanzierung jedoch meinen,
wird fraglich, wenn es am Ende das Conne Island ist, dem trotz der Einladung
ins Plenum vorgeworfen wird, sich einer Auseinandersetzung kategorisch zu
verschließen.(10) Dabei besteht bei der Lektüre des Flugblatts kein
Zweifel: Wer zu Connewitz gehört und wer nicht, das entscheidet der Mob.
Was im bürgerlichen Recht einen Straftatbestand darstellt, ist eine linke
Verlängerung vormoderner Muster der Gemeinschaft unter dem Mantel der
Gentrifizierungskritik. Nicht unähnlich einer Mafia-Organisation macht man
sich selbst zum Richter über Wohl und Wehe im Kiez. Abhängig davon,
ob hinter einer derart bedrohlichen Geste Einzelne oder ganze Strukturen
stecken, wäre die Entsolidarisierung mit einer solchen Linken schon allein
eine Frage der eignen Sicherheit.
Es scheint, als haben die Bürger und ihre Kinder und das sind und
bleiben in letzter Instanz die meisten Connewitzer Inselbewohner die
Herauslösung aus Strukturen konkreter Herrschaftsverhältnisse, wo die
Hierarchie die Freiheit, und die Faust das Argument ersetzt, niemals
vollständig verwunden. Prinzipiell sind die im Nachmittagsfernsehen
präsentierten kleinbürgerlichen Nachbarschaftskriege, die einen eben
solchen Rückfall in die Grobheit des Dorfes darstellen, nichts anderes als
eine linke Kiez-Miliz; nur weniger bedrohlich. Man romantisiert das Rohe und
Raue, welches bei einem durchschnittlichen Punk-Konzert herrscht, auch
deswegen, weil man Distanz und Höflichkeit überhaupt einmal erfahren
hat. Für ein paar Jahre mögen sich die Bürgerkinder sogar mit
bröckelndem Putz und Ofenheizung arrangieren, denn vermutlich musste kaum
einer in Kindheit und Jugend frieren. Wer es tat, dem wird nichts lieber sein
als ein ordentlich sanierter Altbau. Die Liebe zur Grenzerfahrung, so spannend
sie auch sein mag sei es im besetzten Haus, der Demonstration oder im
Kampfsport hat eben nicht nur mit Selbstbestimmung, niedrigen Mieten
oder politischem Engagement zu tun, sondern mit den Bedürfnissen einer
noch nicht mit dem Ernst des Lebens konfrontierten adoleszenten
Mittelklasse. Vor der eigenen Tür beginnt der eigene Aktionsrahmen nicht,
sondern er endet dort.(11)
So krankt das, was bis jetzt in den Flugblättern als
Gentrifizierungskritik ausgegeben wurde, an einem schiefen Blick. Nicht die
Connewitzer Kiez-Miliz wird aus ihren Wohngemeinschaften verdrängt,
sondern die Bewohner des Hauses in der Windmühlenstraße, die sich zu
Recht nach Kräften dagegen wehren. Steigende Mieten wobei Leipzig
noch immer die billigste deutsche Stadt in der 500.000er Liga ist und
Häuser bewachende, prügelnde Securities sind tatsächlich
unangenehm; Mieterschutz und Mieterrechte durchaus legitime Felder politischen
Engagements. Die Verteidigung des Kiezes gegen Eindringlinge, der Kampf gegen
die Aufwertung durch farbbeutel-unterstützte Abwertung ist jedoch etwas
anderes; nämlich ein Fall dessen, was Theodor W. Adorno
Pseudo-Aktivität genannt hat: Pseudo-Aktivität ist
generell der Versuch, inmitten einer durch und durch vermittelten und
verhärteten Gesellschaft sich Enklaven der Unmittelbarkeit zu retten.(12)
Wo die wirklich umwälzende Praxis verstellt ist, wird das wenige, das
getan wird, umso mehr überhöht. Nicht nur weiß man, dass sich
die Durchmischung und Durchkapitalisierung der Stadt schlechterdings schwer
aufhalten lässt. Vielleicht ahnt man insgeheim sogar, dass man inzwischen
selbst als Gast im edlen Zest, in das man gern auch die Eltern
führt, oder im französischen Café am Herder-Park Teil
der Aufwertung des Viertels geworden ist.
Gruppe Contrecur