Der Raub- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion
Zur Veranstaltung der Initiative Geschichte vermitteln
zum Film GEH UND SIEH (SU 1985)
Über uns...
Die Initiative Geschichte vermitteln des Conne Island beschäftigt sich mit der nationalsozialistischen Geschichte und der damit verbundenen Erinnerungs- und Geschichtspolitik. Wir haben im Jahr 2009 ein Projekt unter dem Titel Geschichtsbilder jüdischer Migrantinnen aus der ehemaligen Sowjetunion in der Bundesrepublik und Israel durchgeführt. Die Broschüre des Projektes findet ihr im Infoladen oder zum Download unter geschichte.conne-island.de. Im letzten Jahr arbeiteten wir zum Thema Antiziganismus sowie Sinti und Roma im NS und führten im Herbst eine Veranstaltungsreihe dazu durch. Aktuell bieten wir einen Workshop über antiziganistische Stereotype an und werden uns im nächsten Jahr mit den Opfern der NS-Militärjustiz beschäftigen.
Wenn ihr Interesse an einer Mitarbeit oder unseren Workshops und Veranstaltungen habt, dann mailt uns: geschichte@public-ip.org
An den 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22.
Juni 1941 erinnerte die Landtagsfraktion der Linkspartei mit einem
Parlamentarischen Abend in der Leipziger Alten Handelsbörse. Neben
Reden von Mitgliedern der Landtagsfraktion der LINKEN und dem russischen
Generalkonsul Logutov gab es ein buntes Kulturprogramm von russischer Community
und Angehörigen der Jüdischen Gemeinde Leipzigs. Absoluter Tiefpunkt
des Abends war das Grußwort der Stadt Leipzig, die Rede des
Ordnungsbürgermeisters Heiko Rosenthal, der es schaffte, fast
ausschließlich über das in zwei Jahren anstehende große
Jubiläum 200 Jahre Völkerschlacht bei Leipzig und die bis
dahin zu festigende deutsch-russische Freundschaft zu reden. Er verglich
Napoleon und Hitler in ihrem Scheitern vor Moskau und
beglückwünschte am Ende die anwesenden Veteran_innen zu ihrem
Ehrentag. Da musste erst der russische Generalkonsul die Opferzahlen
nennen. Er sprach nicht nur von Kriegshandlungen, sondern auch von
Massenerschießungen und der Vernichtung der jüdischen
Bevölkerung, von Zwangsarbeit und der Zerstörung ganzer
Landstriche.
Das war eine der wenigen Veranstaltungen rund um diesen Tag. In den Medien war
das Thema kaum präsent. Wenn doch, so wurde mal wieder die
Präventivkriegsthese widerlegt und die massenhaften Kriegsverbrechen
spielten nur als Zahlenkasten am Rande eine Rolle.
Die deutsche Erinnerung an den Krieg im Osten heißt immer noch
fast ausschließlich Stalingrad und damit deutsche Niederlage und
russische Kriegsgefangenschaft und ein bisschen später kommt dann
die große Flucht der deutschen Bevölkerung aus den
germanisierten Gebieten des besetzten Polens und dem ehemals deutschen
Osten. An den rasseideologischen Raub- und Vernichtungskrieg und die in dessen
Verlauf begangenen Verbrechen mag sich hierzulande immer noch kaum eine_r
erinnern.
Der unter der euphemistischen Bezeichnung Unternehmen Barbarossa
begonnene rasseideologische Raub- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion
war von Anfang an auf die Zerstörung des sowjetischen Staates, auf die
rücksichtslose wirtschaftliche Ausbeutung und den Massenmord an der
Zivilbevölkerung ausgerichtet. Die heute geschätzten Opferzahlen von
27 Millionen Menschen, die als Bürger_innen der UdSSR im Zweiten Weltkrieg
starben sind für uns nicht vorstellbar. Ca. 12 Millionen von ihnen fielen
als Angehörige der Roten Armee und die Zahl der zivilen Opfer wird heute
mit über 15 Millionen angegeben.(1)
Die NSDAP war mit dem Programm zur Revision der europäischen
Staatenordnung nach dem Versailler Vertrag (der als Diktat- oder auch
Raubfrieden bezeichnet wurde) und der Forderung nach Lebensraum im
Osten angetreten. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieg wurden auch diese
Planungen konkret. Der Kriegsvorbereitung diente u.a. der deutsch-sowjetische
Nichtangriffspakt vom 23. August 1939, bei dem die
Interessensphären in Osteuropa zwischen dem Deutschen Reich und der
stalinistischen Sowjetunion aufgeteilt und diese Gebiete im September 1939
besetzt wurden. Bereits der deutsche Überfall auf Polen war der
Auftakt zum Vernichtungskrieg(2) und Erschießungen von
Zivilist_innen wie Kriegsgefangenen, Plünderungen, Vergewaltigungen sowie
die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung gehörten
vom ersten Kriegstag an dazu.
Im Frühjahr 1941 befahl Hitler, dass nun nach der erfolgreichen Besetzung
von halb Europa, der geplante Vernichtungskampf gegen den so genannten
bolschewistischen Erzfeind mit brutalster Gewalt geführt werden
sollte. Die so genannten Führererlasse der Wehrmachtsführung
setzten die Weisungen Hitlers in völkerrechtswidrige Befehle um. Dazu
gehört der Befehl zum Verhalten der deutschen Truppen in der
Sowjetunion vom 19. Mai 1941: Der Bolschewismus ist der Todfeind des
nationalsozialistischen deutschen Volkes... Dieser Kampf verlangt
rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische
Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jedes
aktiven oder passiven Widerstands.
Ein weiterer Befehl betraf den Umgang mit den politischen Kommissaren der Roten
Armee. Der so genannte Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941 sah die
Exekution aller gefangengenommener Politoffiziere der Roten Armee vor. Das
bedeutete die systematische Tötung von regulären Kriegsgefangenen,
denn für die Nazis waren sie der Inbegriff des auszurottenden
jüdischen Bolschewismus.(3)
Bereits mit Kriegsbeginn war die Gerichtsverfassung der Wehrmacht in Kraft
getreten, die rechtsstaatliche Verfahren von Anfang an verhinderte und durch
Änderung der Militärgerichtsbarkeit den Soldaten im Ostfeldzug
Straffreiheit für Verbrechen gegen Zivilist_innen garantierte.(4)
Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Kriegsführung der Wehrmacht war die
Hungerpolitik. Dazu gehörte nicht nur die Versorgung der eigenen Truppen
aus den besetzten Gebieten, sondern auch der Bevölkerung im deutschen
Reich. Durch die gezielte, rücksichtslose und systematische
Ausplünderung und Beschlagnahmung aller Lebensmittel, kalkulierte die
deutschen Heeresführung den Hungertod von Millionen Menschen in den
besetzten Gebieten mit ein. Hintergrund dessen war zum einen die angespannte
Versorgungslage im Reich aufgrund der britischen Seeblockade, zum anderen der
Generalplan Ost(5). Dieser beinhaltete die Nachkriegsplanung zur
Germanisierung der besetzten Gebiete bis zum Ural und sah dabei die
Umsiedlung von etwa 50 Millionen Menschen vor, die nach der Vernichtung der
jüdischen Bevölkerung nach Westsibirien vertrieben werden sollten.
Ein Teil der verbliebenen Bevölkerung sollte eingedeutscht werden
und so genannte Volksdeutsche gezielt angesiedelt werden. Auch in dieser
Planung ging man davon aus, dass Millionen Menschen den Krieg nicht
überleben würden. Das bekannteste Beispiel für die Hungerpolitik
ist die 900tägige Blockade der Stadt Leningrad. Hier verweigerte die
Wehrmacht nach der Einkesselung der Stadt im September 1941 die Übergabe
der Stadt und damit auch die Versorgung der 3,2 Millionen Einwohner_innen. Die
Zahl der verhungerten, erfrorenen, an Krankheiten gestorbenen und bei den
Kampfhandlungen um die Stadt gefallenen sowjetischen Zivilist_innen
schätzt man auf 900.000 bis 1,2 Millionen Menschen.
Die Leichenhalle ist voll. Es gibt nicht nur zu wenige Lastwagen, die
zum Friedhof fahren, sondern, wichtiger noch, zu wenig Benzin, mit dem die
Lastwagen betankt werden könnten. Vor allem aber haben die Lebenden nicht
mehr genügend Kraft, um die Toten zu begraben.
Vera Inber, Leningrader Tagebuch, 26. Dezember 1941
Beim Eintreten bot sich mir ein schrecklicher Anblick. Ein dunkles
Zimmer, dessen Wände mit Reif bedeckt waren, auf dem Fußboden
Wasserlachen. Auf einigen zusammengestellten Stühlen lag der Leichnam
eines Vierzehnjährigen. In einem Kinderwagen eine zweite Leiche, die eines
winzigen Säuglings. Auf dem Bett die Eigentümerin des Zimmers
tot. Neben ihr saß die älteste Tochter und rieb der Verstorbenen die
Brust mit einem Handtuch ab... An einem einzigen Tag hatte sie Mutter, Sohn und
Bruder verloren, alle drei waren an Hunger und Kälte zugrunde gegangen.
Bericht eines Leningrader Arztes, Januar 1942
Die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Der Holocaust war von Anfang an integraler Bestandteil des Ostfeldzuges. Er
war Teil und Kernstück [dieser] weitgespannten rassistischen
Herrschafts-, Versklavungs- und Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen
Deutschland gegen die unterworfenen Völker insbesondere des
Ostens, Polens und der Sowjetunion` (D. Peukert), und damit ein
strategisches Kriegsziel.
(6)
Die Vernichtung der Jüdinnen und Juden in den besetzten Gebieten wurde von
der Wehrmacht, den SS-Einsatzgruppen und den Polizeibataillonen
durchgeführt. Zur Durchführung der Sonderbehandlung, d.h. der
Exekutionen, wurden vier mobile Einsatzgruppen (A, B, C und D) gebildet. Diese
umfassten etwa 3.000 Mann Personal des Sicherheitsdienstes (SD), Gestapo und
Kripo, die zusammen mit Einheiten der Ordnungspolizei und der Waffen-SS hinter
der vorrückenden Wehrmacht die Massenerschießungen durchführte.
Dabei arbeiteten sie eng mit der Wehrmacht zusammen, die oft nicht nur
logistische Unterstützung für die Ermordung der jüdischen
Bevölkerung lieferte. Neben den Einsatzgruppen und der Wehrmacht waren in
Ostpolen und im südlichen Belorußland Waffen-SS-Brigaden zur
Säuberung der eroberten Gebiete und zur Liquidierung der
jüdischen Bevölkerung eingesetzt. Im deutsch-sowjetischen Grenzgebiet
operierten Polizeikommandos, die ausschließlich zur Ermordung der
jüdischen Bevölkerung ausgebildet worden waren. Auch die 170 mobilen
Polizeibataillone, die mit kollaborierenden Einheimischen aus Estland, Litauen,
Lettland und der Ukraine, zum Teil aber auch mit ehemaligen Kriegsgefangenen
verstärkt wurden und der deutschen Ordnungspolizei unterstellt waren,
mordeten mit. Im Hinterland der Front, wo mehrere Hunderttausend deutsche
Männer im Einsatz waren, lag der Schwerpunkt der Mordaktionen.
Die Opferzahlen sind aufgrund fehlender Vorkriegszahlen über die
jüdische Bevölkerung, die Fluchtbewegungen unter wechselnde
Besatzung, aber auch wegen der Masse der Morde und der lückenhaften
Überlieferung nur schwer genauer anzugeben. Man geht heute davon aus, dass
in den deutsch besetzten Gebieten etwa 2,75 bis 2,9 Millionen Jüdinnen und
Juden ermordet wurden.
Dabei unterschied sich das Vorgehen der deutschen Truppen. Wenn nicht bereits
die Wehrmacht Massaker unter den Bewohner_innen durchgeführt hatte, dann
gingen die nachrückenden Einsatzgruppen und die Besatzungsbehörden
systematisch vor. In unzähligen Dörfern und Kleinstädten wurden
unmittelbar nach dem Einmarsch die jüdischen Familien zusammengetrieben
und sofort erschossen.
In den von der Sowjetunion 1939/40 annektierten Gebieten (Lettland, Litauen,
Estland, Weißrussland und Ostpolen) wurde ähnlich wie im
Generalgouvernement vorgegangen: Kennzeichnungspflicht für die
jüdische Bevölkerung, Errichtung von Ghettos, Zwangsarbeit und
Deportationen und anschließende Ermordung. Nach zwölf bis 18 Monaten
gab es dort keine jüdische Bevölkerung mehr. Dagegen schien es auf
dem Gebiet der Sowjetunion nicht schnell genug zu gehen. Die Juden und
Jüdinnen galten den Nazis und ihrer Propaganda als Hauptstütze
des Bolschewismus und der Forderung nach deren Ausrottung wurde bereitwillig
gefolgt. Innerhalb weniger Wochen, spätestens nach drei Monaten waren alle
in den Gebieten noch verblieben Jüdinnen und Juden ermordet oder in den
Ghettos der großen Städte, u.a. in Riga, Vilnius, Minsk und Kiew,
zusammengepfercht und ihre Ermordung durch Zwangsarbeit nur aufgeschoben.
Bei den Mordaktionen wurden die Jüdinnen und Juden in nahegelegene
Wälder, Steinbrüche, Schluchten oder Panzerabwehrgräben
gebracht, wo sie gruppenweise erschossen wurden. Meist wurde der
Hinrichtungsplatz von Wehrmachtseinheiten gesichert. Die Menschen mussten sich
entkleiden und sich in Gruppen an den Rändern der vorher ausgehobenen
Gruben aufstellen, dann eröffnete man das Feuer. Auf diese Weise starben
Hunderttausende innerhalb kürzester Zeit bis zum Frühjahr 1942
waren bereits 600.000 sowjetische Jüdinnen und Juden ermordet worden.
Einen Eindruck über diese systematischen Tötungsaktionen, über
die Gründlichkeit mit der die Deutschen vorgingen, vermittelt das von
Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg herausgegebene Schwarzbuch, einer von
unzähligen Berichten:
Pjotr Tschepurenko Ein Augenzeuge des Massakers von Pirjatin:
Am 6. April 1942 ... brachten die Deutschen in der Stadt Pirjatin, im Gebiet
Poltawa, 1600 Juden um: Alte, Frauen und Kinder, denen es nicht mehr gelungen
war, nach Osten zu entkommen.
Die Juden wurden über den Grebenkowskaja-Weg hinausgeführt bis zur
Pirogowski-Trift drei Kilometer von der Stadt entfernet. Dort waren
geräumige Gruben vorbereitet worden. Die Juden mußten sich
entkleiden. Deutsche und Polizisten teilten sich die Sachen. Die Todgeweihten
wurden zu fünft in die Grube gejagt und mit Maschinenpistolen
erschossen.
Die Deutschen trieben 300 Einwohner aus Pirjatin herbei, die die Gruben
zuschütten sollten, zu ihnen gehörte Pjotr Lawrentjewitsch
Tschepurenko. Er berichtet:
Ich habe gesehen, wie sie mordeten. Um 5 Uhr nachmittags kam das
Kommando: Die Gruben zuschütten!` Doch aus den Gruben kamen Schreie,
Stöhnen. Unter der Erde bewegten sich die Leute noch. Plötzlich sah
ich, wie sich mein Nachbar Ruderman aus der Erde herauswühlte. Er war
Gespannführer im Werk. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er rief:
Gib mir den Gnadenstoß!` Auch hinter mir schrie jemand. Es war der
Tischler Sima. Sie hatten ihn verwundet, aber nicht getötet. Die Deutschen
und die Polizisten brachten sie nun endgültig um. Zu meinen
Füßen lag eine ermordete Frau. Unter ihrem Körper kroch ein
Junge von ungefähr fünf Jahren hervor und schrie verzweifelt:
Mamilein!` Mehr habe ich nicht gesehen ich fiel ohnmächtig zu
Boden.(7)
Das Schwarzbuchversammelt zahlreiche solcher Berichte und ist damit die
wichtigste Sammlung von Augenzeugenberichten für die Shoah in der
Sowjetunion. Dass diese Geschichte keineswegs aufgearbeitet ist noch jemals
umfassend dokumentiert wurde, belegt auch das eindrucksvolle Buch von Patrick
Desbois, der zwischen 2003 und 2007 vergessene Massengräber wiederfand und
die Berichte der Zeug_innen der Morde in der Ukraine festhielt.
Mit vierzehn Jahren bin ich als Krankenpflegerin in die Rote Armee
eingetreten, ich bin den Truppen bis nach Mittelasien gefolgt. Die deutschen
Faschisten begannen zu verlieren. Da ist mein Armeekorps in Polen
einmarschiert, in Krakau. Ich konnte mich einem großen Lager nähern,
das erbaut worden ist, um die Juden zu töten. Das war Auschwitz. Daraufhin
habe ich einen Bericht geschrieben, der in den Kolchosen gelesen wurde:
Bei uns erschießen die Nazis die Juden, im Westen bringen sie sie
in Lagern um.`
Polina Pawlona Kazenko am 2. Januar 2007, Bassan (Ukraine)(8)
Zwischen Juni 1941 und der Wannseekonferenz im Januar 1942 wurde die Mehrzahl
der Juden und Jüdinnen in Litauen, Lettland, Estland und Moldawien
ermordet. Die Wehrmacht hatte bis zu diesem Zeitpunkt Leningrad eingeschlossen,
stand vor Moskau und Rostow am Don, hatte Charkow und Kursk erobert. Vom
Frühjahr 1942 bis Ende 1943 erfolgte dann die Ermordung der meisten Juden
und Jüdinnen in den westlichen Gebieten der Ukraine und Belorußland
sowie in den südlichen Gebieten der russischen Sowjetrepublik. Zu diesem
Zeitpunkt hatte die Wehrmacht, trotz ihres Rückzugs vor Moskau, die
größte Fläche besetzt. Mit der Niederlage von Stalingrad im
Januar 1943 zogen sich die deutschen Truppen zurück. Das bedeutete aber
nicht nur riesige Schlachten, beispielsweise um Charkow und Kursk, bei denen
auch Zehntausende Zivilist_innen starben und das Hinterlassen von
verbrannter Erde, bei der die Wehrmacht die noch vorhandene
Infrastruktur völlig zerstörte und Hunderte von Dörfern im
gesamten besetzten Gebiet niederbrannte und ihre Bewohner_innen ermordete.
Dieser Rückzug hieß auch Exekution aller bis dahin überlebenden
Jüdinnen und Juden und die Liquidierung der großen Ghettos in
Vilnius, Kaunas, Riga, Minsk und anderen Orten. Nach einem Befehl Himmlers vom
21. Juni 1943 wurden alle Transportfähigen in Vernichtungslager wie
Bel?ec, Sobibór und Treblinka deportiert oder in der Nähe der
Ghettos zu Tausenden erschossen.
Um die Spuren der Massenmorde zu verwischen, mussten 1943/44 in der so
genannten Aktion 1005 oder Enterdungsaktion-Sonderkommandos aus
überwiegend jüdischen Häftlingen und Kriegsgefangenen die
Massengräber von NS-Opfern im gesamten besetzten Gebiet öffnen und
die Leichen exhumieren. Jens Hoffmann schildert in seinem Buch Das
kann man nicht erzählen` Aktion 1005, wie die Nazis die Spuren
ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten und wie die Leichen
anschließend an Sammelpunkten auf Eisenbahnschienen und Holzbohlen
geschichtet und verbrannt wurden. Asche und Knochenteile wurden wieder
vergraben. Vermutlich wurden über eine Million Leichen auf diese Weise
verbrannt, doch die angestrebte Verschleierung der Verbrechen wurde, trotz der
Ermordung fast aller Angehöriger der Sonderkommandos, nicht erreicht.
Bei der Befreiung der besetzten Gebiete im Sommer 1944 fand die Rote Armee
praktisch keine Juden und Jüdinnen mehr vor.
Überall [in den befreiten Städten und Dörfern] Schweigen.
Totenstille. Ein ganzes Volk ist brutal ermordet worden.
aus dem Tagebuch von Wassili Grossman
Initiative Geschichte vermitteln
Den zweiten Teil des Vortrages mit der Rezeption der Shoah und des
jüdischen Widerstandes in der Sowjetunion sowie zum Film Geh und
sieh findet ihr auf unserer Homepage
http://geschichte.conne-island.de.
Unsere nächste Veranstaltung findet am 06.09.2011 mit dem
Filmwissenschaftler Tobias Ebbrecht statt. Gezeigt wird der Film Der
nackte Mann auf dem Sportplatz (DDR 1973, Konrad Wolf). Beginn 20 Uhr Conne Island, der Eintritt ist frei.
Anmerkungen
(1) Zum Vergleich: Man geht von etwa 39 Millionen Toten in Europa während
des Zweiten Weltkrieges aus. Von den etwa 10 Millionen deutschen Soldaten,
kamen rund 5 Millionen im von ihnen besetzten Europa (und Nordafrika) um, davon
fielen etwa 3 Millionen Wehrmachtssoldaten an der Ostfront.
(2) Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt M. 2006.
(3) Felix Römer stellt in seinem Buch Kommissarbefehl fest, dass es kaum
einen Wehrmachtsstab gab, der diesen Befehl verweigerte. Ausgehend von fast 4.000 überlieferten Erschießungsmeldungen und zwar von allen 13
Armee, den 44 Armeekorps und über 90% der etwa 150 Frontdivisionen wird
die Zahl der ermordeten Politoffiziere auf etwa 10.000 geschätzt. Im Juni 1942 wird der Befehl aufgehoben.
(4) Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtsjustiz 1933-1945, Paderborn 2005.
(5) 1939 von Heinrich Himmler als Leiter des Reichskommissariats für
die Festigung deutschen Volkstums in Auftrag gegebene Studie, die am
Agrarwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität Berlin erstellt
wurde.
(6) Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1998, S. 325.
(7) Lustiger, Arno (Hg.); Al`tman, Il`ja A., Das Schwarzbuch. Der Genozid an
den sowjetischen Juden von Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg, Hamburg 1995,
S. 109.
(8) Desbois, Patrick, Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen
Juden eine Spurensuche, Berlin 2009.