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• Darkest Hour, Protest the Hero
• Darkest Hour, Protest the Hero (II)
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• The Kids we used to be Tour
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• La Colombe-Tour
• Zen Zebra, Kenzari's Middle Kata, The Hirsch Effekt
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• Eher ein schlechter als ein (r)echter Konsens
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• cyber-report: Neues aus dem Kasperletheater der Toleranz
• doku: Infantile Inquisition
• doku: Kultur als politische Ideologie
• doku: Bye, bye Multikulti – Es lebe Multikulti
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Es herrscht Konfusion um Multikulti. Thilo Sarrazin, Mitglied im Vorstand der Bundesbank und in der SPD, sieht sich von MigrantInnen bedroht, die „jede Menge kleiner Kopftuchmädchen produzieren“. Umgekehrt plädieren Teile der Naziszene für die multikulturelle Gesellschaft, während Oskar Lafontaine „Schnittmengen zwischen dem Islam und der Linken“ sieht. Pro Asyl ruft Kritiker des Islamismus mit dem bei iranischen Mullahs entlehnten Kampfbegriff der „Islamophobie“ zur Ordnung. Viele AnhängerInnen von Multikulti schweigen gegenüber Zwangsverheiratungen, Kopftuchzwang und Ehrenmorden. Falsche Toleranz und unterlassene Hilfeleistung. Trotzdem: Ein Plädoyer für die Multikulturelle Gesellschaft – gerade jetzt.
Vor dem Hintergrund deutschen Glaubens an die
Volksgemeinschaft(1) erscheint die Herausbildung einer multikulturellen
Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten als Kulturbruch. Dem lagen zuallererst
wirtschaftliche Entwicklungen zugrunde: Anwerbung von Arbeitskräften aus
Südeuropa und Globalisierung sorgten dafür, dass Deutschland
zum Einwanderungsland wurde. Seit den 70er Jahren entwickelte sich eine soziale
und politische Bewegung, die die multikulturelle Idee als Leitfaden vertrat und
die Deutschtümelei und Borniertheit teilweise mit Erfolg
zurückdrängen konnte. Trotzdem werden große Teile der
Bevölkerung mit Migrationshintergrund ökonomisch, sozial und
politisch ausgegrenzt. Anders als etwa in den USA, Kanada oder Frankreich ist
das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht immer noch eng verbunden mit der
Herkunft der Eltern und der Volkszugehörigkeit. Eine unmenschliche
Asylpolitik sorgt begleitet von der klammheimlichen Sympathie
großer Teile der Bevölkerung für jährlich sinkende
Asylbewerberzahlen. Sarrazin, der ehemalige Finanzsenator der rot-roten
Koalition in Berlin, spricht von zwanzig Prozent der Bevölkerung,
die nicht ökonomisch gebraucht werden(2) und liefert die rassistische
Begleitmusik zur kapitalistischen Krise gleich mit. Dieser gefährlichen
Melange aus Rassismus und Sozialdarwinismus ist entschieden entgegenzutreten.
Als Ruf nach der Durchsetzung gleicher Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten
für alle hier lebenden Menschen ist die Forderung nach einer
multikulturellen Gesellschaft nach wie vor berechtigt und aktuell.
Freiheit des Individuums
Doch nicht nur kapitalistische Krisenwirtschaft, staatliche Repression und
deutsche Leitkultur machen es vielen MigrantInnen schwer.
Größtenteils sind auch ihre eigenen Herkunftskollektive alles
andere als emanzipatorisch. Insbesondere Frauen leiden oft unter einer
reaktionären, extrem patriarchalen und religiös aufgeladenen
Herrschaft. Deren Auswirkungen reichen von Kopftuchzwang und Zwangsverheiratung
bis hin zu Ehrenmorden und Verherrlichung des islamistischen Terrorismus als
Spitze des Eisbergs.
Der Kampf für das Recht, in den Herkunftsgesellschaften erlernte
Lebensweisen beizubehalten, auch wenn sie sich erheblich von im
Einwanderungsland vorgefundenen Mustern unterscheiden, ist notwendig.
Allerdings gilt dies nur, solange es um Rechte von Individuen und nicht von
Kollektiven geht. Doch gerade der Einsatz für ein derartiges Recht
auf Kollektivzwang gilt bei vielen der sich als links, liberal und
antirassistisch verstehenden AktivistInnen oder in der Flüchtlingsarbeit
Tätigen als Ausdruck der Solidarität mit MigrantInnen und
Flüchtlingen. Da zeigen auf einmal Leute, die sich sonst zu Recht
über machohafte Anmache und Unterdrückung von Frauen empören,
erstaunlich viel Zurückhaltung, wenn es um eine klare Positionierung gegen
Ehrenmorde, Zwangsheiraten, Schleierzwang, Genitalverstümmelung und
Homophobie geht. Die Angst davor, RassistIn zu sein, wenn man all dies
entschieden, laut und unmissverständlich kritisiert, ist aber
unbegründet. Andersherum: Es ist rassistisch, zu glauben, die
Araber, die Türken und andere sind halt nun mal so, das ist ihre Kultur
und sie können nicht anders.
Die rechte Multikultiszene
Ein kollektivistisches Verständnis, das Gruppenrechte über die von
Individuen stellt, bietet reichlich Anknüpfungspunkte für
faschistische, völkische und rassistische Konzepte. Im neofaschistischen
Spektrum postuliert der Ethnopluralismus: Jedes Volk habe eine
spezifische Identität, die an eine spezifische Kultur, Religion, Sitten
und Normen, an eine bestimmte Sprache und einen als angestammt betrachteten
Siedlungsraum gebunden sei. Diese Identitäten gelten als natürlich
und erhaltenswert. EthnopluralistInnen formulieren eine Pflicht zur Differenz
Vermischung gilt als schädlich. Mithilfe des
Kulturrelativismus wird ein Rassismus begründet, der sich
antirassistisch gibt. Eng verwandt damit ist der Bioregionalismus. Er
setzt auf kleinere Einheiten wie Stämme statt auf Nationen und
Völker. Sie sollen als Teil einer als natürlich vorgestellten
charakteristischen Landschaft organisch in diese eingebunden sein. Er versteht
sich als Gegner von Globalisierung und Welteinheitszivilisation und
setzt dem ein ausdrückliches Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt
entgegen. Die aber sieht er durch Mc-Donaldisierung, Coca-Colonisierung,
MTVisierung, also durch die USA, bedroht(3). Das sind nicht zufällig auch
im linken und liberalen Diskurs gängige Codes. Beiden gemeinsam ist das
antiamerikanische Ressentiment, das sich aus einer oberflächlichen
Kapitalismuskritik speist und die von ihm wahrgenommenen schlechten
Seiten der kapitalistischen Globalisierung als angloamerikanisches Werk
betrachtet. Die Kampfansage der BioregionalistInnen an
Schmelztiegel-Ideologie und Vermischung, für die Neonazis
nicht zufällig immer wieder New York und Israel als
angeblich abschreckende Beispiele anführen, macht deutlich, welche
kulturelle Identität sie meinen. Dies zeigt auch, in welche
Nähe man unfreiwillig gerät, wenn man auf dem vermeintlichen Recht
auf Zwang unters Kollektiv beharrt(4).
Hätschelkind Islam
Linke wie rechte AnhängerInnen kultureller Vielfalt rücken den
Islam ins Zentrum ihrer Forderung nach Toleranz und lassen dabei oft genug eine
entschiedene Distanzierung vom islamischen Fundamentalismus vermissen. Nicht
nur Pro Asyl beklagt die Islamophobie(5) und knüpft damit
faktisch an eine Kampagne an, die das iranische Mullahregime in den 80er Jahren
im Kampf gegen Frauen gestartet hat, die sich der reaktionären
Kleiderordnung im Land widersetzten. Soweit der heute gebräuchlichere
Begriff des antimuslimischen Rassismus lediglich als Synonym für
Islamophobie gebraucht wird, macht dies die Sache
selbstverständlich auch nicht besser. Auch in dem Aufruf
Gerechtigkeit für die Muslime!(6) von 60 MigrationsforscherInnen
werden Zwangsverheiratungen systematisch verharmlost, relativiert und
Kritikerinnen wie Necla Kelek denunziert und herabgewürdigt. So wird aus
dem linken und liberalen Spektrum heraus islamischen FundamentalistInnen der
Weg in die Mitte der Gesellschaft geebnet. Dahinter steht häufig mehr als
bloße Relativierung unverzichtbarer zivilisatorischer Standards durch das
Zugeständnis kulturspezifischer Rechtsnormen und Verhaltensmuster sowie
Blindheit gegenüber Antisemitismus.
Manche Linke und Liberale sehen sich offenbar genauso wie die
ethnopluralistische Rechte islamischen Moral- und Ehrenkodices mehr verbunden
als den ethischen Vorstellungen, die zu Zeiten des Aufstiegs der
bürgerlichen Gesellschaft im Namen der Aufklärung und des Humanismus
in harten Kämpfen gegen Kirche und Allmachtsanspruch der Religion in
Europa durchgesetzt wurden und die bis heute keineswegs gesichert sind.
Es gibt Schnittmengen zwischen linker Politik und islamischer Religion:
Der Islam setzt auf die Gemeinschaft, damit steht er im Widerspruch zum
übersteigerten Individualismus, dessen Konzeption im Westen zu scheitern
droht, meint etwa Oskar Lafontaine(7). Ähnlich sehen es die Neonazis von
Synergon Deutschland: Und noch etwas spricht für die
islamische Option: die Tatsache, dass konsequenter Wider stand gegen die
Amerikanisierung der Welt nur noch von Muslimen kommt, heißt es dort.
Und zu Schleier und Kopftuch: Exotischer, fremder als die Transvestiten-,
SM- oder Gothic-Szene ist das auch nicht, dafür um vieles seriöser,
innerlicher, gesünder(8). Eine Muslimin, die sich in Deutschland gegen den
Schleier entscheide, habe sich die Möglichkeit genommen, ihre
kulturelle Differenz gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck zu
bringen. Nein, dies stammt nicht von irgendwelchen Neonazis, sondern von den
Feministinnen Christina von Braun und Bettina Mathes(9) und zeigt, wie weit auch
frau kommen kann, wenn sie auf einem falsch verstandenen Multikulti-Trip ist.
Falsche Toleranz und Idyllisierung nichtwestlicher Lebensweisen beziehen sich
keineswegs nur auf den Islam. Die Romantisierung indianischer Kulturen, wie sie
vor allem in der bekannten, auf etwa 1855 datierten Rede des Häuptlings
Seattle zum Ausdruck kommt, mutet noch vergleichsweise harmlos an. Erst
wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch
gefangen ist, werden die Menschen feststellen, dass man Geld nicht essen kann,
lautet der berühmte, seit den 1970er Jahren verbreitete Kernsatz, bei dem
es sich allerdings um ein die Nachfrage nach Zivilisationskritik befriedigendes
Fake(10) handelt. Die Leugnung oder gar Rechtfertigung des dem jamaikanischen
Rasta-Kult und Teilen der Reggae-Szene immanenten Antisemitismus und der damit
engverknüpften militanten Homophobie sind da schon wesentlich ernster zu
nehmen(11).
Falsche Toleranz ist unterlassene Hilfeleistung
Erfreulicherweise sehen sich viele Menschen mit islamisch geprägtem
Migrationshintergrund nicht von Verbänden wie Ditib oder dem
Zentralrat der Muslime vertreten. Trotzdem werden diese und
ähnliche Organisationen nicht müde, zu behaupten, sie seien
Sprachrohr der Muslime. Solche Verbände dürfen und müssen
dafür kritisiert werden, dass sie beispielsweise den Kopftuchzwang
propagieren, Musliminnen verbieten, Nicht-Moslems zu heiraten(12) und die
Religionsfreiheit einschränken, indem sie MuslimInnen das Recht
absprechen, aus der Religion auszutreten. Das hindert sie nicht daran, sich
unter dem Label des Dialogs liberal und weltoffen zu geben. Wünschenswert
wäre eine kritischere Haltung statt freundliche Dialog-Projekte mit ihnen
durchzuführen. Auch falsche Toleranz ist unterlassene Hilfeleistung. Denn
es geht um die individuellen Freiheitsrechte der etwa 3 Millionen Menschen
muslimischer Herkunft in Deutschland. Zivilisatorische Mindeststandards und
Freiheitsrechte des Individuums sind nicht verhandelbar. Religionsfreiheit
meint nicht nur Freiheit der Religionsausübung, sondern auch das Recht auf
Freiheit von Religion. Es darf kein Recht von Gruppen geben, die ihnen wirklich
oder vermeintlich Zugehörigen auf eine kulturell, religiös, national
oder sonstwie festgelegte Lebensweise zu verpflichten. Beispielsweise wenn
junge Musliminnen, die kein Kopftuch tragen möchten, wegen ihres
westlichen Lebensstils attackiert werden. Es geht nicht um einen
ideologisch aufgeladenen Kopftuchstreit, sondern darum, ob eine Muslimin
gerade angesichts oft genug erzwungener Freiwilligkeit so wie
jeder andere Mensch auch darüber entscheiden darf, was sie auf dem Kopf
trägt und was nicht.
Ja zur multikulturellen Gesellschaft Gegen Deutschtümelei,
Nazis und Islamisten
Der in Teilen der linken und liberalen Szene herrschende Kulturrelativismus
widerspricht der ursprünglichen Intention der multikulturellen
Gesellschaft. Er teilt die Menschen per Geburt in verschiedene Gruppen ein,
für die jeweils spezielle Rechte gelten sollen. Jeder Mensch muss
entscheiden können, ob er die Riten einer gewissen Kultur ausüben
möchte oder nicht. Man darf weder übersehen, dass der in der
Mehrheitsgesellschaft verbreitete Rassismus den Rückzug vieler
Stigmatisierter in ihre eigenen Zwangskollektive befördert, noch
ignorieren, dass Zwangskollektive immer antiemanzipatorisch sind. Nicht nur
dasjenige der Deutschen, gegen das die Bewegung für die
multikulturelle Gesellschaft mit vollem Recht angetreten ist. Wir treten
entschieden für eine multikulturelle Gesellschaft ein, die allen Menschen,
egal welcher Herkunft, ein Leben in Frieden und Freiheit ermöglicht. Es
geht um ein gutes Leben für ausnahmslos alle Menschen. Und es ist gerade
der Schmelztiegel und die Vermischung, die einen
emanzipatorischen Multikulturalismus kennzeichnen.
Es geht nicht um den Erhalt von Kulturen, weder der deutschen noch der
christlichen, der westlichen oder der islamischen. Es geht
um die Verteidigung und Durchsetzung zivilisatorischer Mindeststandards wie
Freiheit von Folter, gleiche Rechte und gleiche Wertschätzung für
alle Menschen, um das Recht aller Menschen, weder illegal noch
überflüssig zu sein, um Gleichstellung der Geschlechter und
Emanzipation der Frau, Befreiung von der Herrschaft religiösen Wahns,
Trennung von Staat und Religion, Befreiung aus Clanherrschaft und Patriarchat
um nur einige zu nennen. Hinter sie darf es kein Zurück geben.
Aktion 3.Welt Saar
Redaktion: Michael Scherer, Klaus Blees,
Lothar Galow-Bergemann, Roland Röder
Gemeinsam herausgegeben mit
Emanzipation und Frieden, Stuttgart