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Aktuelles Heft

INHALT #184

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Editorial
• das erste: Formal ungenügend
Darkest Hour, Protest the Hero
Darkest Hour, Protest the Hero (II)
the cycle continues
„My Bonnie is over the Ocean“
The Kids we used to be Tour
Into Outer Space
„La Colombe“-Tour
Zen Zebra, Kenzari's Middle Kata, The Hirsch Effekt
Wooohooooooo!
Kayo Dot
Aucan
Casualties
Electric Island
Veranstaltungsanzeigen
Sanierungs-Info
Aus dem Nähkästchen geplaudert
Eher ein schlechter als ein (r)echter Konsens
„CEE IEH“ and „bonjour tristesse“ go „Zoro“!
• review-corner buch: Eine Schwäche für die Gegenwart
• cyber-report: Neues aus dem Kasperletheater der Toleranz
• doku: Infantile Inquisition
• doku: Kultur als politische Ideologie
• doku: Bye, bye Multikulti – Es lebe Multikulti
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Wie veröffentlichen an dieser Stelle den Text „Kultur als politische Ideologie“ der beiden dänischen Autoren Frederik Stjernfelt und Jens-Martin Eriksen. Der Text ist dem in Dänemark herausgegebenen Buch „Adskillelsens Politik. Multikulturalisme – ideolog og virkelighed“ (Lindhardt & Ringhof, 2008 Kopenhagen) entnommen. Dieses von Stjernfelt und Eriksen veröffentlichte Buch erscheint demnächst in englischer Sprache unter dem Titel „Multiculturalism – Ideals and Reality“, eine französische Version ist bereits erschienen. Die deutsche Übersetzung des vorliegenden Textes ist im Oktober 2010 auf dem Portal http://perlentaucher.de erschienen. Wir bedanken uns bei den beiden Autoren, sowie dem Übersetzer für die freundliche Druckgenehmigung.



Kultur als politische Ideologie

Der Kulturalismus der heutigen Linken speist sich stark aus anti-imperialistischen Diskursen. Aber wer so denkt, spielt nicht nur einer reaktionären Haltung im Islam, sondern auch einer Politik des „Teile und Herrsche“ in die Hände.

I. Kulturalismus

Die Kontroverse über den Multikulturalismus hat die politischen Frontverläufe verändert. Die Linke verteidigt den Respekt vor Minderheitskulturen, während die Rechte als Hüterin der Nationalkultur auftritt. Doch diese beiden Positionen bilden lediglich zwei Spielarten einer kulturalistischen Ideologie. Kulturalismus nennen wir die Vorstellung, dass Individuen von ihrer Kultur determiniert sind, dass diese Kultur eine abgeschlossene, organische Ganzheit bildet und das Individuum nicht in der Lage ist, seine oder ihre Kultur zu verlassen, sich vielmehr nur innerhalb dieser verwirklichen kann. Zudem behauptet der Kulturalismus, Kulturen hätten Anspruch auf besondere Rechte und Schutzmaßnahmen – auch wenn sie selbst die Rechte des Einzelnen verletzen.
Der heutige Kulturalismus, der aus Kultur eine politische Ideologie macht, floriert bei der Linken wie bei der Rechten. Am bekanntesten ist der linke Multikulturalismus, den es in einer radikalen, antidemokratischen Variante gibt und in einer gemäßigten Variante, die ihn mit (sozial-) liberalen Vorstellungen in Einklang bringen möchte. Allerdings gibt es den Multikulturalismus auch bei der extremen Rechten, zum Beispiel in Form der französischen Konzepte des Ethnopluralismus. Danach haben alle Kulturen ein Recht auf Autonomie, solange sie jeweils innerhalb ihrer eigenen Territorien bleiben. Dieser rechte Ansatz führt zu dem politischen Schluss, dass Einwanderer es hinnehmen müssten, voll und ganz assimiliert zu werden, angefangen bei ihrer Religion bis hinunter zu ihrer Küche, wenn nicht, müssten sie in ihre ursprünglichen Heimatländer zurückkehren (was voraussetzt, dass es diese gibt).
Der Kulturalismus teilt eine Reihe von Denkmustern mit dem Nationalismus. Tatsächlich ist der Nationalismus, für den eine einzige Kultur das Fundament des Staates bildet, in Wirklichkeit eine Unterart des Kulturalismus. Es überrascht daher nicht, dass die gegenwärtige Renaissance des Nationalismus in Europa in hohem Maße auf kulturalistischen Vorstellungen gründet. Das eindringlichste Beispiel auf lokaler Ebene ist die Dänische Volkspartei(1), die nationalistisches Gedankengut aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert wiederbelebt, wozu auch ihre radikal antiaufklärerische Position zu zählen ist. Seit dem Streit um die Mohammed-Karikaturen hält es diese Partei aus strategischen Gründen für nötig, sich den Verteidigern der Redefreiheit gegen islamistische Machenschaften anzuschließen. Unabhängig von den Beweggründen für diese Kehrtwende muss festgehalten werden, dass sie nur möglich war, weil die Partei die Redefreiheit als „dänischen Wert“ in Anspruch nimmt – als ob sie eine hausgemachte Erfindung wäre. Offensichtlich handelt es sich um eine kulturalistische Geschichtsfälschung: Die Redefreiheit ist keine dänische Schöpfung. Sie hat ihren Ursprung in den Aufklärungsbewegungen verschiedener Länder; die Redefreiheit ist für Dänemark ein Import erster Güte. Liberale und demokratische Kräfte mussten sie unter großen Mühen und Kosten, in Auseinandersetzung mit dem dänischen Absolutismus und der dänischen Staatskirche erkämpfen, bis dieses Recht schließlich in der Juniverfassung von 1849, der ersten demokratischen Verfassung Dänemarks, festgeschrieben wurde. Ein drängendes Problem in Dänemark – wie auch in der internationalen Politik – besteht also darin, dass der Kulturalismus auf beiden Seiten des politischen Spektrums vertreten wird. Von der Linken hören wir kulturalistische Schlachtrufe nach Anerkennung der modernitätsfeindlichsten und unappetitlichsten kulturellen Praktiken; die Rechte propagiert das Dänentum und fordert die Neubelebung des modernitätsfeindlichsten und ungenießbarsten dänischen Nationalismus. Diese beiden Spielarten des Kulturalismus sind natürliche Feinde füreinander, und doch beruhen sie auf dem selben brüchigen Gedankengerüst. Ein Jahrhundert lang betrachteten der französische und der deutsche Nationalismus einander als Hauptfeinde, während beide sich doch ganz selbstverständlich auf dasselbe geistige Erbe beriefen. Der eine Kulturalismus ist automatisch der Feind des anderen, weil die Kulturalismen nun einmal zwangsläufig Partikularismen sind, weil jeder mit seinem erwählten Volk einhergeht – und nicht alle Völker gleichermaßen erwählt sein können.

Dieser schrille Wechselgesang von Partikularismen, bei dem das Erstarken des linken Kulturalismus der kulturalistischen Rechten weitere Wähler in die Arme treibt und umgekehrt, sollte jedoch niemanden zu dem Schluss verführen, die wesentliche Konfliktlinie der heutigen Politik verlaufe zwischen den Kulturalismen der Linken und der Rechten. Im Gegenteil, der eigentliche Konflikt besteht zwischen Aufklärung und Kulturalismus – zwischen der Demokratie, dem politischem Liberalismus, den Rechten des Individuums, dem Universalismus und der Aufklärung auf der einen Seite und der unaufgeklärten Bewahrung von Kultur, Tradition und Authentizität sowie dem konservativen Glauben, das Individuum sei schicksalhaft an eine bestimmte Kultur gebunden, auf der anderen Seite.
Somit gibt es zwei Arten, den Islam zu kritisieren, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Die eine kritisiert den Islam als solchen, weil er eine fremde Religion ist, unvereinbar mit dänischen Werten und dänischen Traditionen. Es ist die Kritik des einen Kulturalismus an der Stimme eines anderen; Jesus Christus gegen Mohammed. Eine mythische Gestalt im schicksalhaften Streit mit einer anderen. Die andere Kritik hingegen greift den Islamismus an, nicht weil er undänisch, sondern weil er eine totalitäre Ideologie ist, die mit den verschiedenen Totalitarismen aus der europäischen Zwischenkriegszeit verwandt ist. Hier geht es um die tief ansetzende Kritik an einer politischen Bewegung, die sich gegen die offene Gesellschaft und wesentliche demokratische Prinzipien richtet. Diese Kritik richtet sich nicht gegen den Islam als solchen, sie zielt vielmehr auf ideologische, politische und gesellschaftliche Hindernisse, die es dem Einzelnen verwerfen, seine Rechte in Anspruch zu nehmen. Ob diese Hindernisse nun auf kulturellen, politischen, religiösen oder anderen Dogmen beruhen, ist letztendlich belanglos. Es gibt kaum eine wichtigere Aufgabe in der heutigen Politik und politischen Philosophie, als sich mit größter Aufmerksamkeit der universellen Aufklärung zu widmen und sich mit aller Kraft gegen die vorherrschenden rechten und linken Formen des Kulturalismus und die Versklavung des Individuums innerhalb seiner jeweiligen „Kultur“ zu wenden.

Ein Blick auf die Kritik der Linken am Kulturalismus der Rechten bietet einen Anhaltspunkt dafür, wie weit die Linke von ihren Anfängen in der Aufklärung abgekommen ist. Es zeigt sich überdies, wie wenig die Linke im Grunde über ihre politischen Gegner in jenem Kampf weiß, der sich nun seit einigen Jahrzehnten abspielt. Die Debatte über Kultur hat inzwischen die Debatte über unterschiedliche politische Utopien ersetzt.
Sehen wir uns näher an, welche Aufgabe der linke Kulturalismus bewältigen muss, und wie blind die beiden Kulturalismen für ihre wechselseitige Ähnlichkeit sind. In Dänemark fällt auf, dass die Linke seit ihrer Niederlage bei den Parlamentswahlen 2001 nicht in der Lage war, ihren vermeintlichen Gegner, die Dänischen Volkspartei, zu analysieren. Offenbar sind viele Linke etliche Jahre nach ihrer Niederlage immer noch nicht fähig, einen Schritt weiterzugehen. Sie glauben immer noch, es habe an dem gelegen, was sie einzig und allein der Rechten zuschreiben: sie sei „rassistisch“, und auch die Wähler, welche die Rechte erfolgreich mobilisieren konnte, seien entweder „rassistisch“ oder würden unter anderen psychischen Defekten wie der „Islamophobie“ leiden. An die Stelle der politischen Analyse ist sozusagen eine ziemlich grobschlächtige sozialpsychologische Diagnostik getreten.
Der syrische Philosoph Aziz Al-Azmeh(2) zeigt in seinem Buch „Die Islamisierung des Islam“, dass sich der Differenzialismus, ein erweiterter Begriff für Rassismus, im Lauf der Zeit „de-rassifiziert“ hat. „Rasse“ wird nicht mehr als gültige Form der Identifizierung empfunden. Was bleibt, ist der Kulturalismus. Die Dänische Volkspartei muss als eine kulturalistische Partei begriffen werden, in deren Einstellungen der moderne Differenzialismus zur Geltung kommt. Keine wichtige politische Bewegung in Dänemark oder anderswo in Europa gründet ihr politisches Programm noch auf den Rassismus. Keine Elite vertritt mehr eine derartige Position, nur noch radikale Verlierer ohne politische Bedeutung.
Weshalb jedoch ist die Linke nicht in der Lage, den Kulturalismus bei ihrem politischen Gegner zu diagnostizieren und sich offensiv mit den Positionen auseinanderzusetzen, die die Dänische Volkspartei tatsächlich vertritt? Offenbar deshalb, weil sie die gleiche Auffassung von Kultur vertritt wie ihre spiegelbildlichen Gegner: Sie selbst ist kulturalistisch. Damit sind natürlich ihrer Fähigkeit Grenzen gesetzt, die Position des Gegners zu analysieren.
Beide Kulturalismen bekunden Respekt für kulturelle Differenzen und wollen kulturelle Identitäten schützen. Rechte und linke Kulturalisten sprechen sich nur unter verschiedenen Deckmänteln für solche Schutzvorkehrungen aus. Die linken Kulturalisten behaupten, dass unterschiedliche Kulturen in der Lage sein sollten, auf demselben Territorium oder im selben Staat zu koexistieren, wo dann, ob offiziell oder inoffiziell, individuell verschiedene Rechtsprechungen zur Anwendung kommen sollen - je nach der kulturellen Gruppe, in die der Einzelne hineingeboren wurde. Die rechten Kulturalisten verfechten die gleiche Position, was die Bewahrung der kulturellen Identität angeht, allerdings soll jede Kultur auf ihrem eigenen Territorium verbleiben, jede Kultur in ihrem eigenen Land.
Eine schwerwiegende Auswirkung dieser beiden erstarkten Formen des Kulturalismus auf die heutige Politik wird häufig übersehen: Gesellschaftliche Gruppen, die sich früher auf Basis gemeinsamer „Interessen“ organisiert haben, tun dies nun in wachsendem Maße auf der Basis von „Kultur“. Die politische Konsequenz ist natürlich die Zersplitterung dieser Gruppen.
Der britische Philosoph Brian Barry(3) schrieb dazu: „Die wuchernden Sonderinteressen, für die der Multikulturalismus ein Nährboden ist, führen … zu einer Politik des ‚Teile und Herrsche`, die nur jenen zugute kommen kann, die am meisten vom Status quo profitieren. Es gibt keine bessere Möglichkeit, den Albtraum einer einheitlichen politischen Bewegung durch die wirtschaftlich Benachteiligten zu verhindern, die in gemeinsamen Forderungen münden könnte, als verschiedene Gruppen von Benachteiligten gegeneinander aufzubringen. Den Blick abzulenken von gemeinsamen Benachteiligungen wie Arbeitslosigkeit, Armut, schlechte Unterkünfte und unzulängliche öffentliche Dienstleistungen ist langfristig natürlich eine anti-egalitäre Strategie. Alles, was die Partikularität der jeweiligen Probleme einer Gruppe betont und damit die Konzentration auf die Probleme, die sie mit anderen teilen, verhindert, ist aus dieser Sicht willkommen.“
Wenn unterprivilegierte Gruppen dazu gebracht werden können, sich vermehrt um ihre Religion, Kultur und Identität zu sorgen, werden sie sich aufsplittern, ihre Aufmerksamkeit wird von den konkreten politischen Problemen weggelenkt. Die gegenwärtige Konstellation der dänischen Politik, in der viele benachteiligte Dänen die kulturalistische Rechte unterstützen, Einwanderer und Multikulturalisten hingegen die Linke, ist ein schlagendes Beispiel für dieses Phänomen. Hier liegt vermutlich eine der wichtigsten strukturellen Ursachen für die tiefgehende Krise der Sozialdemokratischen Partei, deren Kernwähler sich inzwischen nach ihren kulturellen Bindungen gruppieren und nicht nach ihren gemeinsamen Interessen. Es stellt sich die Frage, wie lange die Sozialdemokraten und die restlichen Linken noch vorhaben, sich von der Illusion des Kulturalismus leiten zu lassen.

Die schrittweise Einbindung der Linken in das rigorose Konzept von Kultur sowohl in Dänemark als auch international, ist eine der wichtigsten, bislang kaum erhellten politischen Entwicklungen der letzten dreißig Jahre. Der Kulturalismus in seiner politischen und linken Erscheinungsform ist keineswegs ein neues Phänomen. Er betrat erstmals 1947 die Weltbühne, als amerikanische Anthropologen versuchten, die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen zu desavouieren4. Sie weigerten sich zu akzeptieren, dass es möglich sei, universelle Menschenrechte zu postulieren. Ihr Argument: Damit würden einzelne Kulturen unterdrückt. Damals jedoch war die westliche Linke – ob in ihrer kommunistischen, sozialdemokratischen oder sozialliberalen Variante – so stark international orientiert, dass der Kulturalismus noch unter der Oberfläche gehalten werden konnte.
Inzwischen ist durch den Niedergang des Marxismus und seiner Rolle als Bezugsrahmen für linke Parteien in den achtziger und neunziger Jahren ein Vakuum entstanden. In der Folge haben sich die letztendlich konservativen Ideen des Kulturalismus klammheimlich auf diesem Feld breit gemacht. Überraschenderweise hat sich dieser Wandel vollzogen, ohne dass es zu einem Schlagabtausch kam – obwohl der Kulturalismus dem Marxismus in vieler Hinsicht diametral entgegensteht. Während der Marxismus behauptet, dass die Kultur als ein Überbau auf sozioökonomischen Gesetzmäßigkeiten beruht, verkündet der Kulturalismus, dass die Wirtschaft einer Gesellschaft von ihrer Kultur und den Wertesystem dieser Kultur abhängt oder gar, dass die Ökonomie ununterscheidbar von allen anderen kulturellen Merkmalen der jeweiligen Gesellschaft ist. Aus dieser Sicht ist der Kulturalismus eine Art anthropologische Gegenrevolution, die den Marxismus auf den Kopf stellt. Wenn man sich die Argumentation der Linken in den sechziger und siebziger Jahren vor Augen hält, stellt man fest, dass in jener Zeit vor allem die Ökonomie, der Klassenkampf, die Produktionsmittel, soziale Verhältnisse, politische Systeme und Ressourcen von entscheidender Bedeutung waren. Der Ausdruck „Kultur“ wurde nur selten oder am Rande gebraucht. Heute trifft das Gegenteil zu. Die Kultur beansprucht weit mehr Aufmerksamkeit als die Wirtschaft und die Gesellschaft. Und doch gab es nie eine große Konfrontation, in deren Verlauf das eine Modell durch das andere ersetzt worden wäre, wie es in einer gewöhnlichen politischen Debatte zu erwarten gewesen wäre. Die Parteien haben sich nicht zornig darüber gestritten, welche Rolle der Wirtschaft oder der Kultur letztendlich zukommt. Der Wechsel der Gegensätze vollzog sich als sanfter Wandel, fast von einem Tag auf den anderen, häufig ohne dass die Persönlichkeiten, die diese beiden Haltungen verkörpern, erkannten, was sich abspielte. Vielleicht liegt dies daran, dass der Marxismus und der Kulturalismus ein noch einfacheres und tiefer liegendes Denkmuster miteinander teilen: über das Verhältnis einer unterdrückten Gruppe zu einer herrschenden Mehrheit. So ist es möglich, dass man sich politisch auf die Seite der Unterdrückten stellt, gemäß der linken Parole aus den siebziger Jahren: „Ein unterdrücktes Volk hat immer Recht.“ Dies wurde ganz wörtlich verstanden, mit Folgen, die weit darüber hinausgingen, dass ein unterdrücktes Volk das Recht habe, von seiner Unterdrückung befreit zu werden. Es hatte nun Recht auch mit all seinen kulturellen Dogmen, ohne Rücksicht darauf, ob diese Dogmen gerecht oder richtig waren. Entscheident war, dass sie zur Kultur eines unterdrückten Volkes gehörten. Ein Argument vollkommen ad hominem. So war es möglich, die Arbeiterklasse durch die „unterdrückte Kultur“ zu ersetzen, selbst wenn dies zur Folge hatte, dass die Emanzipation nun durch einen strikten Kulturalismus ersetzt wurde, der überholte und vormoderne Normen vertritt – was eine vollkommene Verkehrung sowohl der Philosophie als auch der Werte darstellt, für die die Linke einst gestanden hat.

In ihrem Buch „La tentation obscurantiste“ formuliert die französische Journalistin Caroline Fourest(5) eine interessante Hypothese zum Erstarken des von uns so genannten linken Kulturalismus. Sie stellt fest, dass die beiden wichtigsten prototypischen Bezugspunkte der europäischen Linken während und nach dem Zweiten Weltkrieg zum einen der antitotalitäre Kampf und zum anderen die Entkolonialisierung und der Antiimperalismus waren. Lange Zeit konnten beide konfliktlos nebeneinander existieren; nach dem beachtlichen Erstarken des Islamismus in den islamischen Ländern und in den muslimischen Einwanderergruppen fand sich die Linke jedoch in der Frage gespalten, welches der beiden wesentlichen Kampffelder das wichtigere sei. Wer den antitotalitären Kampf für entscheidend hielt, wandte sich eher gegen den Islamismus als einer neuen Erscheinungsform des Totalitarismus aus der Zwischenkriegszeit. Wer jedoch den antiimperialistischen Kampf wichtiger fand, tendierte dazu, den Islamismus als legitime Herausforderung des westlichen Imperialismus zu unterstützen – zunächst in dessen kolonialistischer Phase und dann in seiner globalisierten Version. Damit war die Linke natürlich offen für den Kulturalismus.
Der strikt multikulturellen Linken stellt sich somit ein doppeltes Problem: Kultur bedeutet zugleich zu wenig und zu viel. Einerseits ist sie sehr wichtig, insofern sie dem Einzelnen eine Identität bietet und damit das Recht auf politische Fürsorge und Schutz – eine Art von Konservatismus, der dem kulturalistischen Begriff der Kultur innewohnt. Andererseits hat die Linke historisch immer behauptet, die Kultur sei belanglos, da ökonomische und soziale Bedingungen die entscheidenden Bestimmungsfaktoren seien. Zugleich jedoch steckt diese marxistische Doktrin hinter der multikulturalistischen Vorstellung, dass alle Kulturen, wie antidemokratisch und antiliberal sie auch sein mögen, ohne weiteres in derselben Gesellschaft koexistieren können. Dieser Zwiespalt sorgt im rigorosen linken Multikulturalismus für ständige Verwirrung. Kultur soll einerseits unveränderliche Quelle tiefsitzender Identität sein und andererseits reines Oberflächenphänomen, das auf bestimmenden ökonomischen Faktoren beruht. Aber es kann unmöglich beides zutreffen.

II. Islamophobie

Immer häufiger stößt man auf den Begriff „Islamophobie“. Er wird eingesetzt, um jede Kritik am Islamismus und an jenen Aspekten des Islams zu stigmatisieren, die mit Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in Konflikt stehen. Die rigorose kulturalistische Auffassung von Kultur ist der Schlüssel für die Probleme, die man sich mit diesem Begriff einhandelt. Ursprünglich hat ihn die islamische Weltorganisation OIC in ihrem Kampf gegen die Menschenrechte – genauer: gegen die Redefreiheit – ins Spiel brachte. Die Kampagne gegen die Mohammed-Karikaturen, die in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten veröffentlicht wurden, und die darauf folgende Krise waren ein Teil dieses Kampfes. Das Wort „Islamophobie“ wird zunehmend von islamischen Organisationen und strikten Multikulturalisten eingesetzt, um Kritik an islamischen Bewegungen in die Schranken zu weisen. Sowohl stichhaltige als auch unbegründete Kritik an verschiedenen Erscheinungsformen des Islam wird mit dem Argument beiseite gewischt, hier handele es sich um „Islamophobie“ – Kritik landet in einem Topf mit Rassismus, Antisemitismus oder Homophobie. Auf diesem Weg fand der Begriff Eingang bei der Linken, für die er eine Spielart von „Fremdenfeindlichkeit“ ist. Das Wort drückt mit seiner medizinischen Endung „-phobie“ auch semantisch eine negative Eigenschaft aus – es bringt eine kritische Analyse in Zusammenhang mit einer klinischen Krankheit. Allerdings besteht das entscheidende Problem mit dem Wort „Islamophobie“ darin, dass es im Unterschied zu anderen Wörtern, die ähnlich konstruiert sind, eine ganze Reihe von Auffassungen bezeichnet. Rassismus, Homophobie usw. sind Wörter, die eine unverhältnismäßige Reaktion auf Eigenschaften zum Ausdruck bringen, die ein Individuum hat – Hautfarbe, sexuelle Orientierung usw.
Aber der Islam ist keine Rasse. Er besteht aus einem Konglomerat an Glaubensvorstellungen wie andere Glaubenssysteme auch, wie Christentum, Kommunismus, Liberalismus, Konservatismus, Nationalsozialismus, Hinduismus und viele andere sehr unterschiedliche Lehren religiösen, politischen oder philosophischen Charakters. Daran ändert die Tatsache nichts, dass bestimmte Muslime, darunter Islamisten, vehement davon überzeugt sind, ihr Glaubenssystem habe einen besonderen Rang und sei über Diskussionen, Entwicklungsprozesse und Reformen erhaben. Zwei in Dänemark geläufige Redensarten lauten, die Demokratie beruhe auf dem Grundsatz, dass man „gemäß seiner Meinung Partei ergreift“, aber auch, dass man „die eine Meinung vertritt, bis man eben eine andere übernimmt“. Philosophien laden zu offener und beständiger Kritik ein - und wenn man absolut überzeugt ist von seiner Position, hat man natürlich das Recht, diesen wahren Glauben in unveränderter Form aufrecht zu erhalten. Aber man kann nicht andere dazu zwingen, sich diese Position zu eigen zu machen, indem man von ihnen verlangt, auf Kritik zu verzichten. Und genau das ist es, was mit dem Wort „Islamophobie“ versucht wird. Mit ihrer unkritischen Übernahme des Begriffs, der eine gezielt manipulative und disziplinierende Wirkung hat, hat sich die Linke in den Dienst des Islamismus gestellt. Sie hat überdies ihre eigene Reflexionsfähigkeit gelähmt. Jede Kritik am Kulturalismus wird abgewehrt und als Islamophobie verurteilt. Und als islamophob wird die Kritik politisch exkommuniziert.
Es ist ein rigoroser Kulturbegriff, der dem Ausdruck Islamophobie den Weg bereitet hat – als ob es so etwas wie einen Homo islamicus gäbe. Dies steht im Einklang mit jenen Praktiken innerhalb des Islam, die darauf abzielen, aus der muslimischen Religion eine Art Schicksal werden zu lassen, das unbedingt verlangt, dass männliche Partner in gemischten Ehen zum Islam konvertieren, während die Aufklärung über andere Optionen verhindert wird, und das vor allem im Verbot der Apostasie zur Geltung kommt. (Die Apostasie wird immer bestraft, entweder durch Geldbuße, „Umerziehung“, Beschlagnahme des Eigentums und Zwangsscheidung vom Ehepartner, durch den sogenannten „bürgerlichen Tod“ oder aber den realen Tod.) Aus diesem Grund hinterlässt „Islamophobie“ einen besonders schlechten Geschmack im Mund. Das Wort verwandelt Religion in Rasse.

Der intellektuelle Islamismus hat es geschafft, in internationale Gremien, in die politische Linke und liberale Gruppen einzudringen, eben deshalb, weil er eine breite Akzeptanz für das kulturelle Argument gewinnen konnte. Erreicht hat er dies mit Hilfe des gängigen anthropologischen Kulturbegriffs, des Kulturalismus. Dies ist um so schädlicher für die demokratische Debatte, als nun Dogmen entpolitisiert werden, die im Kern politisch sind und daher der Kritik ausgesetzt sind – ebenso wie dem Spott. Politische Meinungen sind naturgemäß einseitig: Liberalismus, Konservatismus, Sozialliberalismus, Sozialdemokratie, Sozialismus etc. konkurrieren allesamt miteinander – während sie allerdings in der Regel auf tieferer Ebene übereinstimmen, da sie sich alle gegen den Faschismus, den Kommunismus, den Islamismus und andere totalitäre „Ismen“ wenden. Wenn jedoch das Dogmengebäude einer politischen Bewegung als „Kultur“ definiert wird, gibt es die Neigung, sie sofort in Frieden zu lassen und nicht mehr als partikularen, parteilichen und Diskussionen herausfordernden Standpunkt unter anderen zu betrachten. Diesem Denken zufolge sind Kulturen an und für sich organische, irreduzible Ganzheiten. Daher haben sie nicht nur ein Existenzrecht und ein Recht auf Respekt – wie auch auf Gewährung von Privilegien –, sie haben überdies einen Schutzanspruch und das Recht, unverändert fortexistieren zu dürfen. Deutlich wurde dies im Fall der Karikaturen im Jyllands-Posten, dem vorgeworfen wurde, eine Kultur zu beleidigen.

Im ersten Abschnitt dieses Buchs(6) haben wir Islamisten im multikulturellen Malaysia gefragt, warum sie der Auffassung sind, es sei unangebracht, Menschen, die andere Meinungen haben, zu kritisieren, zu verspotten oder zu beleidigen, und wie man sich stattdessen verhalten könnte im Umgang mit einem Thema, das Jyllands-Posten ansprechen wollte. Ein Studiendirektor an einer islamischen Universität erklärte, es sei zunächst nötig, mit jener Partei in einen Dialog zu treten, die man kritisieren wolle, bevor irgendetwas in Druck gehe. Im fraglichen Fall hätte Jyllands-Posten beispielsweise den Islamisk Trossamfund (“slamische Religionsgemeinschaft“ – ein dänischer Ableger der Muslimbrüderschaft) kontaktieren und um Erlaubnis bitten sollen. Dies hätte beträchtliche Folgen für die demokratische Auseinandersetzung: Wenn dieser Ansatz systematisch befolgt würde, verschwände jeglicher Meinungsaustausch aus der Öffentlichkeit, er könnte nur noch in geschlossenen Gremien stattfinden, der Mediation zwischen den Parteien würde absoluter Vorrang zukommen. Wenn Kulturen derartig geschützt würden, wäre dies das Ende einer freimütigen öffentlichen Diskussion und der freien Debatte unter Bürgern. Folgte man diesem Gedanken, hätte dies natürlich dramatische Auswirkungen auf die Funktionsweise von Demokratie. Jyllands-Posten hat mit seinen Karikaturen merkwürdige politische Ideen aufs Korn genommen, wie man die Religion in den Dienst von Politik stellen kann, etwa mit Kurt Westergaards berühmter Zeichnung des Propheten mit einer Bombe im Turban. Doch die Islamisten haben versucht, Jyllands-Posten ins Unrecht zu setzen, indem sie die Zeitung der Islamophobie bezichtigten.

In allen Spielarten, ob in seiner reformistischen, revolutionären oder terroristischen Variante, ist sich der Islamismus darin einig, dass die Gesellschaft nach den Grundsätzen der Sharia zu organisieren sei. Wenn dies nun unter „Kultur“ firmiert, wird es möglich, jede Kritik von außen als „Islamophobie“ oder „Rassismus“ abzuweisen, da die Kritiker eine „Kultur“ angeblich nicht „respektieren“ würden. Der Nationalsozialismus hat etwas ähnliches versucht, als er sich als die Fortsetzung einer uralten germanischen Kultur inszenierte; allerdings waren die Kritiker in jener Zeit gewitzter als heute und in der Lage, die Rhetorik zu durchschauen. Nun sind wir heute Zeugen, auf welche Weise islamische Bewegungen wie Deobandismus, Wahhabismus, Salafismus und die Muslimbrüderschaft (die direkt vom italienischen Faschismus und dem französischen Faschisten Alexis Carrel(7) beeinflusst ist) vom „kulturellen“ Argument geschützt werden: Es handele sich nämlich gar nicht um politischen Programme, sondern um „Kulturen“, die als solche nicht kritisiert werden könnten. Doch sobald Kulturen in der politischen Arena auftreten, müssen sie sich per definitionem ebenso der Diskussion und Kritik stellen wie alle anderen Vereinigungen, Gruppen, Parteien und Bewegungen, die politische Forderungen stellen. Hier haben weder Priester, Imame noch sonstige Kleriker - jedweden Glaubens - auch nur eine Unze mehr Recht auf Respekt als jedes andere Individuum, nur weil sie sich bei ihren politischen Forderungen einer religiösen Rhetorik bedienen.

Frederik Stjernfelt und Jens-Martin Eriksen
(Übersetzung Klaus Fritz)

Anmerkungen

(1) Anm. der Red.: Die Autoren des Textes leben und arbeiten in Dänemark. Aus diesem Grund beziehen sich Teile des Textes auf Dänemark.

(2) http://www.zeit.de/1997/21/Missionar_des_Islam

(3) Anm. der Red.: http://de.wikipedia.org/wiki/Brian_Barry

(4) http://www.facinghistory.org/resources/lesson_ideas/udhr-7-universal-rights-0

(5) Anm. der Red.: http://de.wikipedia.org/wiki/Caroline_Fourest

(6) Adskillelsens Politik. Multikulturalisme – ideolog og virkelighed; Copenhagen 2008;Lindhardt & Ringhof

(7) http://de.wikipedia.org/wiki/Alexis_Carrel

28.01.2011
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