• Titelbild
• Editorial
• das erste: Formal ungenügend
• Darkest Hour, Protest the Hero
• Darkest Hour, Protest the Hero (II)
• the cycle continues
• My Bonnie is over the Ocean
• The Kids we used to be Tour
• Into Outer Space
• La Colombe-Tour
• Zen Zebra, Kenzari's Middle Kata, The Hirsch Effekt
• Wooohooooooo!
• Kayo Dot
• Aucan
• Casualties
• Electric Island
• Veranstaltungsanzeigen
• Sanierungs-Info
• Aus dem Nähkästchen geplaudert
• Eher ein schlechter als ein (r)echter Konsens
• CEE IEH and bonjour tristesse go Zoro!
• review-corner buch: Eine Schwäche für die Gegenwart
• cyber-report: Neues aus dem Kasperletheater der Toleranz
• doku: Infantile Inquisition
• doku: Kultur als politische Ideologie
• doku: Bye, bye Multikulti – Es lebe Multikulti
• Anzeigen
Der Kulturalismus der heutigen Linken speist sich stark aus anti-imperialistischen Diskursen. Aber wer so denkt, spielt nicht nur einer reaktionären Haltung im Islam, sondern auch einer Politik des „Teile und Herrsche“ in die Hände.
I. Kulturalismus
Die Kontroverse über den Multikulturalismus hat die politischen
Frontverläufe verändert. Die Linke verteidigt den Respekt vor
Minderheitskulturen, während die Rechte als Hüterin der
Nationalkultur auftritt. Doch diese beiden Positionen bilden lediglich zwei
Spielarten einer kulturalistischen Ideologie. Kulturalismus nennen wir die
Vorstellung, dass Individuen von ihrer Kultur determiniert sind, dass diese
Kultur eine abgeschlossene, organische Ganzheit bildet und das Individuum nicht
in der Lage ist, seine oder ihre Kultur zu verlassen, sich vielmehr nur
innerhalb dieser verwirklichen kann. Zudem behauptet der Kulturalismus,
Kulturen hätten Anspruch auf besondere Rechte und Schutzmaßnahmen
auch wenn sie selbst die Rechte des Einzelnen verletzen.
Der heutige Kulturalismus, der aus Kultur eine politische Ideologie macht,
floriert bei der Linken wie bei der Rechten. Am bekanntesten ist der linke
Multikulturalismus, den es in einer radikalen, antidemokratischen Variante gibt
und in einer gemäßigten Variante, die ihn mit (sozial-) liberalen
Vorstellungen in Einklang bringen möchte. Allerdings gibt es den
Multikulturalismus auch bei der extremen Rechten, zum Beispiel in Form der
französischen Konzepte des Ethnopluralismus. Danach haben alle Kulturen
ein Recht auf Autonomie, solange sie jeweils innerhalb ihrer eigenen
Territorien bleiben. Dieser rechte Ansatz führt zu dem politischen
Schluss, dass Einwanderer es hinnehmen müssten, voll und ganz assimiliert
zu werden, angefangen bei ihrer Religion bis hinunter zu ihrer Küche, wenn
nicht, müssten sie in ihre ursprünglichen Heimatländer
zurückkehren (was voraussetzt, dass es diese gibt).
Der Kulturalismus teilt eine Reihe von Denkmustern mit dem Nationalismus.
Tatsächlich ist der Nationalismus, für den eine einzige Kultur das
Fundament des Staates bildet, in Wirklichkeit eine Unterart des Kulturalismus.
Es überrascht daher nicht, dass die gegenwärtige Renaissance des
Nationalismus in Europa in hohem Maße auf kulturalistischen Vorstellungen
gründet. Das eindringlichste Beispiel auf lokaler Ebene ist die
Dänische Volkspartei(1), die nationalistisches Gedankengut aus dem
neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert wiederbelebt, wozu auch
ihre radikal antiaufklärerische Position zu zählen ist. Seit dem
Streit um die Mohammed-Karikaturen hält es diese Partei aus strategischen
Gründen für nötig, sich den Verteidigern der Redefreiheit gegen
islamistische Machenschaften anzuschließen. Unabhängig von den
Beweggründen für diese Kehrtwende muss festgehalten werden, dass sie
nur möglich war, weil die Partei die Redefreiheit als dänischen
Wert in Anspruch nimmt als ob sie eine hausgemachte Erfindung
wäre. Offensichtlich handelt es sich um eine kulturalistische
Geschichtsfälschung: Die Redefreiheit ist keine dänische
Schöpfung. Sie hat ihren Ursprung in den Aufklärungsbewegungen
verschiedener Länder; die Redefreiheit ist für Dänemark ein
Import erster Güte. Liberale und demokratische Kräfte mussten sie
unter großen Mühen und Kosten, in Auseinandersetzung mit dem
dänischen Absolutismus und der dänischen Staatskirche erkämpfen,
bis dieses Recht schließlich in der Juniverfassung von 1849, der ersten
demokratischen Verfassung Dänemarks, festgeschrieben wurde. Ein
drängendes Problem in Dänemark wie auch in der internationalen
Politik besteht also darin, dass der Kulturalismus auf beiden Seiten des
politischen Spektrums vertreten wird. Von der Linken hören wir
kulturalistische Schlachtrufe nach Anerkennung der
modernitätsfeindlichsten und unappetitlichsten kulturellen Praktiken; die
Rechte propagiert das Dänentum und fordert die Neubelebung des
modernitätsfeindlichsten und ungenießbarsten dänischen
Nationalismus. Diese beiden Spielarten des Kulturalismus sind natürliche
Feinde füreinander, und doch beruhen sie auf dem selben brüchigen
Gedankengerüst. Ein Jahrhundert lang betrachteten der französische
und der deutsche Nationalismus einander als Hauptfeinde, während beide
sich doch ganz selbstverständlich auf dasselbe geistige Erbe beriefen. Der
eine Kulturalismus ist automatisch der Feind des anderen, weil die
Kulturalismen nun einmal zwangsläufig Partikularismen sind, weil jeder mit
seinem erwählten Volk einhergeht und nicht alle Völker
gleichermaßen erwählt sein können.
Dieser schrille Wechselgesang von Partikularismen, bei dem das Erstarken des
linken Kulturalismus der kulturalistischen Rechten weitere Wähler in die
Arme treibt und umgekehrt, sollte jedoch niemanden zu dem Schluss
verführen, die wesentliche Konfliktlinie der heutigen Politik verlaufe
zwischen den Kulturalismen der Linken und der Rechten. Im Gegenteil, der
eigentliche Konflikt besteht zwischen Aufklärung und Kulturalismus
zwischen der Demokratie, dem politischem Liberalismus, den Rechten des
Individuums, dem Universalismus und der Aufklärung auf der einen Seite und
der unaufgeklärten Bewahrung von Kultur, Tradition und Authentizität
sowie dem konservativen Glauben, das Individuum sei schicksalhaft an eine
bestimmte Kultur gebunden, auf der anderen Seite.
Somit gibt es zwei Arten, den Islam zu kritisieren, die nicht miteinander
verwechselt werden dürfen. Die eine kritisiert den Islam als solchen, weil
er eine fremde Religion ist, unvereinbar mit dänischen Werten und
dänischen Traditionen. Es ist die Kritik des einen Kulturalismus an der
Stimme eines anderen; Jesus Christus gegen Mohammed. Eine mythische Gestalt im
schicksalhaften Streit mit einer anderen. Die andere Kritik hingegen greift den
Islamismus an, nicht weil er undänisch, sondern weil er eine
totalitäre Ideologie ist, die mit den verschiedenen Totalitarismen aus der
europäischen Zwischenkriegszeit verwandt ist. Hier geht es um die tief
ansetzende Kritik an einer politischen Bewegung, die sich gegen die offene
Gesellschaft und wesentliche demokratische Prinzipien richtet. Diese Kritik
richtet sich nicht gegen den Islam als solchen, sie zielt vielmehr auf
ideologische, politische und gesellschaftliche Hindernisse, die es dem
Einzelnen verwerfen, seine Rechte in Anspruch zu nehmen. Ob diese Hindernisse
nun auf kulturellen, politischen, religiösen oder anderen Dogmen beruhen,
ist letztendlich belanglos. Es gibt kaum eine wichtigere Aufgabe in der
heutigen Politik und politischen Philosophie, als sich mit größter
Aufmerksamkeit der universellen Aufklärung zu widmen und sich mit aller
Kraft gegen die vorherrschenden rechten und linken Formen des Kulturalismus und
die Versklavung des Individuums innerhalb seiner jeweiligen Kultur zu
wenden.
Ein Blick auf die Kritik der Linken am Kulturalismus der Rechten bietet einen
Anhaltspunkt dafür, wie weit die Linke von ihren Anfängen in der
Aufklärung abgekommen ist. Es zeigt sich überdies, wie wenig die
Linke im Grunde über ihre politischen Gegner in jenem Kampf weiß,
der sich nun seit einigen Jahrzehnten abspielt. Die Debatte über Kultur
hat inzwischen die Debatte über unterschiedliche politische Utopien
ersetzt.
Sehen wir uns näher an, welche Aufgabe der linke Kulturalismus
bewältigen muss, und wie blind die beiden Kulturalismen für ihre
wechselseitige Ähnlichkeit sind. In Dänemark fällt auf, dass die
Linke seit ihrer Niederlage bei den Parlamentswahlen 2001 nicht in der Lage
war, ihren vermeintlichen Gegner, die Dänischen Volkspartei, zu
analysieren. Offenbar sind viele Linke etliche Jahre nach ihrer Niederlage
immer noch nicht fähig, einen Schritt weiterzugehen. Sie glauben immer
noch, es habe an dem gelegen, was sie einzig und allein der Rechten
zuschreiben: sie sei rassistisch, und auch die Wähler, welche die
Rechte erfolgreich mobilisieren konnte, seien entweder rassistisch oder
würden unter anderen psychischen Defekten wie der Islamophobie
leiden. An die Stelle der politischen Analyse ist sozusagen eine ziemlich
grobschlächtige sozialpsychologische Diagnostik getreten.
Der syrische Philosoph Aziz Al-Azmeh(2) zeigt in seinem Buch Die
Islamisierung des Islam, dass sich der Differenzialismus, ein erweiterter
Begriff für Rassismus, im Lauf der Zeit de-rassifiziert hat.
Rasse wird nicht mehr als gültige Form der Identifizierung
empfunden. Was bleibt, ist der Kulturalismus. Die Dänische Volkspartei
muss als eine kulturalistische Partei begriffen werden, in deren Einstellungen
der moderne Differenzialismus zur Geltung kommt. Keine wichtige politische
Bewegung in Dänemark oder anderswo in Europa gründet ihr politisches
Programm noch auf den Rassismus. Keine Elite vertritt mehr eine derartige
Position, nur noch radikale Verlierer ohne politische Bedeutung.
Weshalb jedoch ist die Linke nicht in der Lage, den Kulturalismus bei ihrem
politischen Gegner zu diagnostizieren und sich offensiv mit den Positionen
auseinanderzusetzen, die die Dänische Volkspartei tatsächlich
vertritt? Offenbar deshalb, weil sie die gleiche Auffassung von Kultur vertritt
wie ihre spiegelbildlichen Gegner: Sie selbst ist kulturalistisch. Damit sind
natürlich ihrer Fähigkeit Grenzen gesetzt, die Position des Gegners
zu analysieren.
Beide Kulturalismen bekunden Respekt für kulturelle Differenzen und wollen
kulturelle Identitäten schützen. Rechte und linke Kulturalisten
sprechen sich nur unter verschiedenen Deckmänteln für solche
Schutzvorkehrungen aus. Die linken Kulturalisten behaupten, dass
unterschiedliche Kulturen in der Lage sein sollten, auf demselben Territorium
oder im selben Staat zu koexistieren, wo dann, ob offiziell oder inoffiziell,
individuell verschiedene Rechtsprechungen zur Anwendung kommen sollen - je nach
der kulturellen Gruppe, in die der Einzelne hineingeboren wurde. Die rechten
Kulturalisten verfechten die gleiche Position, was die Bewahrung der
kulturellen Identität angeht, allerdings soll jede Kultur auf ihrem
eigenen Territorium verbleiben, jede Kultur in ihrem eigenen Land.
Eine schwerwiegende Auswirkung dieser beiden erstarkten Formen des
Kulturalismus auf die heutige Politik wird häufig übersehen:
Gesellschaftliche Gruppen, die sich früher auf Basis gemeinsamer
Interessen organisiert haben, tun dies nun in wachsendem Maße auf
der Basis von Kultur. Die politische Konsequenz ist natürlich die
Zersplitterung dieser Gruppen.
Der britische Philosoph Brian Barry(3) schrieb dazu: Die wuchernden
Sonderinteressen, für die der Multikulturalismus ein Nährboden ist,
führen
zu einer Politik des Teile und Herrsche`, die nur
jenen zugute kommen kann, die am meisten vom Status quo profitieren. Es gibt
keine bessere Möglichkeit, den Albtraum einer einheitlichen politischen
Bewegung durch die wirtschaftlich Benachteiligten zu verhindern, die in
gemeinsamen Forderungen münden könnte, als verschiedene Gruppen von
Benachteiligten gegeneinander aufzubringen. Den Blick abzulenken von
gemeinsamen Benachteiligungen wie Arbeitslosigkeit, Armut, schlechte
Unterkünfte und unzulängliche öffentliche Dienstleistungen ist
langfristig natürlich eine anti-egalitäre Strategie. Alles, was die
Partikularität der jeweiligen Probleme einer Gruppe betont und damit die
Konzentration auf die Probleme, die sie mit anderen teilen, verhindert, ist aus
dieser Sicht willkommen.
Wenn unterprivilegierte Gruppen dazu gebracht werden können, sich vermehrt
um ihre Religion, Kultur und Identität zu sorgen, werden sie sich
aufsplittern, ihre Aufmerksamkeit wird von den konkreten politischen Problemen
weggelenkt. Die gegenwärtige Konstellation der dänischen Politik, in
der viele benachteiligte Dänen die kulturalistische Rechte
unterstützen, Einwanderer und Multikulturalisten hingegen die Linke, ist
ein schlagendes Beispiel für dieses Phänomen. Hier liegt vermutlich
eine der wichtigsten strukturellen Ursachen für die tiefgehende Krise der
Sozialdemokratischen Partei, deren Kernwähler sich inzwischen nach ihren
kulturellen Bindungen gruppieren und nicht nach ihren gemeinsamen Interessen.
Es stellt sich die Frage, wie lange die Sozialdemokraten und die restlichen
Linken noch vorhaben, sich von der Illusion des Kulturalismus leiten zu
lassen.
Die schrittweise Einbindung der Linken in das rigorose Konzept von Kultur
sowohl in Dänemark als auch international, ist eine der wichtigsten,
bislang kaum erhellten politischen Entwicklungen der letzten dreißig
Jahre. Der Kulturalismus in seiner politischen und linken Erscheinungsform ist
keineswegs ein neues Phänomen. Er betrat erstmals 1947 die Weltbühne,
als amerikanische Anthropologen versuchten, die Menschenrechtscharta der
Vereinten Nationen zu desavouieren4. Sie weigerten sich zu akzeptieren, dass es
möglich sei, universelle Menschenrechte zu postulieren. Ihr Argument:
Damit würden einzelne Kulturen unterdrückt. Damals jedoch war die
westliche Linke ob in ihrer kommunistischen, sozialdemokratischen oder
sozialliberalen Variante so stark international orientiert, dass der
Kulturalismus noch unter der Oberfläche gehalten werden konnte.
Inzwischen ist durch den Niedergang des Marxismus und seiner Rolle als
Bezugsrahmen für linke Parteien in den achtziger und neunziger Jahren ein
Vakuum entstanden. In der Folge haben sich die letztendlich konservativen Ideen
des Kulturalismus klammheimlich auf diesem Feld breit gemacht.
Überraschenderweise hat sich dieser Wandel vollzogen, ohne dass es zu
einem Schlagabtausch kam obwohl der Kulturalismus dem Marxismus in
vieler Hinsicht diametral entgegensteht. Während der Marxismus behauptet,
dass die Kultur als ein Überbau auf sozioökonomischen
Gesetzmäßigkeiten beruht, verkündet der Kulturalismus, dass die
Wirtschaft einer Gesellschaft von ihrer Kultur und den Wertesystem dieser
Kultur abhängt oder gar, dass die Ökonomie ununterscheidbar von allen
anderen kulturellen Merkmalen der jeweiligen Gesellschaft ist. Aus dieser Sicht
ist der Kulturalismus eine Art anthropologische Gegenrevolution, die den
Marxismus auf den Kopf stellt. Wenn man sich die Argumentation der Linken in
den sechziger und siebziger Jahren vor Augen hält, stellt man fest, dass
in jener Zeit vor allem die Ökonomie, der Klassenkampf, die
Produktionsmittel, soziale Verhältnisse, politische Systeme und Ressourcen
von entscheidender Bedeutung waren. Der Ausdruck Kultur wurde nur selten
oder am Rande gebraucht. Heute trifft das Gegenteil zu. Die Kultur beansprucht
weit mehr Aufmerksamkeit als die Wirtschaft und die Gesellschaft. Und doch gab
es nie eine große Konfrontation, in deren Verlauf das eine Modell durch
das andere ersetzt worden wäre, wie es in einer gewöhnlichen
politischen Debatte zu erwarten gewesen wäre. Die Parteien haben sich
nicht zornig darüber gestritten, welche Rolle der Wirtschaft oder der
Kultur letztendlich zukommt. Der Wechsel der Gegensätze vollzog sich als
sanfter Wandel, fast von einem Tag auf den anderen, häufig ohne dass die
Persönlichkeiten, die diese beiden Haltungen verkörpern, erkannten,
was sich abspielte. Vielleicht liegt dies daran, dass der Marxismus und der
Kulturalismus ein noch einfacheres und tiefer liegendes Denkmuster miteinander
teilen: über das Verhältnis einer unterdrückten Gruppe zu einer
herrschenden Mehrheit. So ist es möglich, dass man sich politisch auf die
Seite der Unterdrückten stellt, gemäß der linken Parole aus den
siebziger Jahren: Ein unterdrücktes Volk hat immer Recht. Dies
wurde ganz wörtlich verstanden, mit Folgen, die weit darüber
hinausgingen, dass ein unterdrücktes Volk das Recht habe, von seiner
Unterdrückung befreit zu werden. Es hatte nun Recht auch mit all seinen
kulturellen Dogmen, ohne Rücksicht darauf, ob diese Dogmen gerecht oder
richtig waren. Entscheident war, dass sie zur Kultur eines unterdrückten
Volkes gehörten. Ein Argument vollkommen ad hominem. So war es
möglich, die Arbeiterklasse durch die unterdrückte Kultur zu
ersetzen, selbst wenn dies zur Folge hatte, dass die Emanzipation nun durch
einen strikten Kulturalismus ersetzt wurde, der überholte und vormoderne
Normen vertritt was eine vollkommene Verkehrung sowohl der Philosophie
als auch der Werte darstellt, für die die Linke einst gestanden hat.
In ihrem Buch La tentation obscurantiste formuliert die
französische Journalistin Caroline Fourest(5) eine interessante Hypothese
zum Erstarken des von uns so genannten linken Kulturalismus. Sie stellt fest,
dass die beiden wichtigsten prototypischen Bezugspunkte der europäischen
Linken während und nach dem Zweiten Weltkrieg zum einen der
antitotalitäre Kampf und zum anderen die Entkolonialisierung und der
Antiimperalismus waren. Lange Zeit konnten beide konfliktlos nebeneinander
existieren; nach dem beachtlichen Erstarken des Islamismus in den islamischen
Ländern und in den muslimischen Einwanderergruppen fand sich die Linke
jedoch in der Frage gespalten, welches der beiden wesentlichen Kampffelder das
wichtigere sei. Wer den antitotalitären Kampf für entscheidend hielt,
wandte sich eher gegen den Islamismus als einer neuen Erscheinungsform des
Totalitarismus aus der Zwischenkriegszeit. Wer jedoch den antiimperialistischen
Kampf wichtiger fand, tendierte dazu, den Islamismus als legitime
Herausforderung des westlichen Imperialismus zu unterstützen
zunächst in dessen kolonialistischer Phase und dann in seiner
globalisierten Version. Damit war die Linke natürlich offen für den
Kulturalismus.
Der strikt multikulturellen Linken stellt sich somit ein doppeltes Problem:
Kultur bedeutet zugleich zu wenig und zu viel. Einerseits ist sie sehr wichtig,
insofern sie dem Einzelnen eine Identität bietet und damit das Recht auf
politische Fürsorge und Schutz eine Art von Konservatismus, der dem
kulturalistischen Begriff der Kultur innewohnt. Andererseits hat die Linke
historisch immer behauptet, die Kultur sei belanglos, da ökonomische und
soziale Bedingungen die entscheidenden Bestimmungsfaktoren seien. Zugleich
jedoch steckt diese marxistische Doktrin hinter der multikulturalistischen
Vorstellung, dass alle Kulturen, wie antidemokratisch und antiliberal sie auch
sein mögen, ohne weiteres in derselben Gesellschaft koexistieren
können. Dieser Zwiespalt sorgt im rigorosen linken Multikulturalismus
für ständige Verwirrung. Kultur soll einerseits unveränderliche
Quelle tiefsitzender Identität sein und andererseits reines
Oberflächenphänomen, das auf bestimmenden ökonomischen Faktoren
beruht. Aber es kann unmöglich beides zutreffen.
II. Islamophobie
Immer häufiger stößt man auf den Begriff Islamophobie.
Er wird eingesetzt, um jede Kritik am Islamismus und an jenen Aspekten des
Islams zu stigmatisieren, die mit Demokratie, Menschenrechten und
Rechtsstaatlichkeit in Konflikt stehen. Die rigorose kulturalistische
Auffassung von Kultur ist der Schlüssel für die Probleme, die man
sich mit diesem Begriff einhandelt. Ursprünglich hat ihn die islamische
Weltorganisation OIC in ihrem Kampf gegen die Menschenrechte genauer:
gegen die Redefreiheit ins Spiel brachte. Die Kampagne gegen die
Mohammed-Karikaturen, die in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten
veröffentlicht wurden, und die darauf folgende Krise waren ein Teil dieses
Kampfes. Das Wort Islamophobie wird zunehmend von islamischen
Organisationen und strikten Multikulturalisten eingesetzt, um Kritik an
islamischen Bewegungen in die Schranken zu weisen. Sowohl stichhaltige als auch
unbegründete Kritik an verschiedenen Erscheinungsformen des Islam wird mit
dem Argument beiseite gewischt, hier handele es sich um Islamophobie
Kritik landet in einem Topf mit Rassismus, Antisemitismus oder
Homophobie. Auf diesem Weg fand der Begriff Eingang bei der Linken, für
die er eine Spielart von Fremdenfeindlichkeit ist. Das Wort drückt
mit seiner medizinischen Endung -phobie auch semantisch eine negative
Eigenschaft aus es bringt eine kritische Analyse in Zusammenhang mit
einer klinischen Krankheit. Allerdings besteht das entscheidende Problem mit
dem Wort Islamophobie darin, dass es im Unterschied zu anderen
Wörtern, die ähnlich konstruiert sind, eine ganze Reihe von
Auffassungen bezeichnet. Rassismus, Homophobie usw. sind Wörter, die eine
unverhältnismäßige Reaktion auf Eigenschaften zum Ausdruck
bringen, die ein Individuum hat Hautfarbe, sexuelle Orientierung usw.
Aber der Islam ist keine Rasse. Er besteht aus einem Konglomerat an
Glaubensvorstellungen wie andere Glaubenssysteme auch, wie Christentum,
Kommunismus, Liberalismus, Konservatismus, Nationalsozialismus, Hinduismus und
viele andere sehr unterschiedliche Lehren religiösen, politischen oder
philosophischen Charakters. Daran ändert die Tatsache nichts, dass
bestimmte Muslime, darunter Islamisten, vehement davon überzeugt sind, ihr
Glaubenssystem habe einen besonderen Rang und sei über Diskussionen,
Entwicklungsprozesse und Reformen erhaben. Zwei in Dänemark geläufige
Redensarten lauten, die Demokratie beruhe auf dem Grundsatz, dass man
gemäß seiner Meinung Partei ergreift, aber auch, dass man
die eine Meinung vertritt, bis man eben eine andere übernimmt.
Philosophien laden zu offener und beständiger Kritik ein - und wenn man
absolut überzeugt ist von seiner Position, hat man natürlich das
Recht, diesen wahren Glauben in unveränderter Form aufrecht zu erhalten.
Aber man kann nicht andere dazu zwingen, sich diese Position zu eigen zu
machen, indem man von ihnen verlangt, auf Kritik zu verzichten. Und genau das
ist es, was mit dem Wort Islamophobie versucht wird. Mit ihrer
unkritischen Übernahme des Begriffs, der eine gezielt manipulative und
disziplinierende Wirkung hat, hat sich die Linke in den Dienst des Islamismus
gestellt. Sie hat überdies ihre eigene Reflexionsfähigkeit
gelähmt. Jede Kritik am Kulturalismus wird abgewehrt und als Islamophobie
verurteilt. Und als islamophob wird die Kritik politisch exkommuniziert.
Es ist ein rigoroser Kulturbegriff, der dem Ausdruck Islamophobie den Weg
bereitet hat als ob es so etwas wie einen Homo islamicus gäbe. Dies
steht im Einklang mit jenen Praktiken innerhalb des Islam, die darauf abzielen,
aus der muslimischen Religion eine Art Schicksal werden zu lassen, das
unbedingt verlangt, dass männliche Partner in gemischten Ehen zum Islam
konvertieren, während die Aufklärung über andere Optionen
verhindert wird, und das vor allem im Verbot der Apostasie zur Geltung kommt.
(Die Apostasie wird immer bestraft, entweder durch Geldbuße,
Umerziehung, Beschlagnahme des Eigentums und Zwangsscheidung vom
Ehepartner, durch den sogenannten bürgerlichen Tod oder aber den
realen Tod.) Aus diesem Grund hinterlässt Islamophobie einen
besonders schlechten Geschmack im Mund. Das Wort verwandelt Religion in
Rasse.
Der intellektuelle Islamismus hat es geschafft, in internationale Gremien, in
die politische Linke und liberale Gruppen einzudringen, eben deshalb, weil er
eine breite Akzeptanz für das kulturelle Argument gewinnen konnte.
Erreicht hat er dies mit Hilfe des gängigen anthropologischen
Kulturbegriffs, des Kulturalismus. Dies ist um so schädlicher für die
demokratische Debatte, als nun Dogmen entpolitisiert werden, die im Kern
politisch sind und daher der Kritik ausgesetzt sind ebenso wie dem
Spott. Politische Meinungen sind naturgemäß einseitig: Liberalismus,
Konservatismus, Sozialliberalismus, Sozialdemokratie, Sozialismus etc.
konkurrieren allesamt miteinander während sie allerdings in der
Regel auf tieferer Ebene übereinstimmen, da sie sich alle gegen den
Faschismus, den Kommunismus, den Islamismus und andere totalitäre
Ismen wenden. Wenn jedoch das Dogmengebäude einer politischen
Bewegung als Kultur definiert wird, gibt es die Neigung, sie sofort in
Frieden zu lassen und nicht mehr als partikularen, parteilichen und
Diskussionen herausfordernden Standpunkt unter anderen zu betrachten. Diesem
Denken zufolge sind Kulturen an und für sich organische, irreduzible
Ganzheiten. Daher haben sie nicht nur ein Existenzrecht und ein Recht auf
Respekt wie auch auf Gewährung von Privilegien , sie haben
überdies einen Schutzanspruch und das Recht, unverändert
fortexistieren zu dürfen. Deutlich wurde dies im Fall der Karikaturen im
Jyllands-Posten, dem vorgeworfen wurde, eine Kultur zu beleidigen.
Im ersten Abschnitt dieses Buchs(6) haben wir Islamisten im multikulturellen
Malaysia gefragt, warum sie der Auffassung sind, es sei unangebracht, Menschen,
die andere Meinungen haben, zu kritisieren, zu verspotten oder zu beleidigen,
und wie man sich stattdessen verhalten könnte im Umgang mit einem Thema,
das Jyllands-Posten ansprechen wollte. Ein Studiendirektor an einer
islamischen Universität erklärte, es sei zunächst nötig,
mit jener Partei in einen Dialog zu treten, die man kritisieren wolle, bevor
irgendetwas in Druck gehe. Im fraglichen Fall hätte Jyllands-Posten
beispielsweise den Islamisk Trossamfund (slamische
Religionsgemeinschaft ein dänischer Ableger der
Muslimbrüderschaft) kontaktieren und um Erlaubnis bitten sollen. Dies
hätte beträchtliche Folgen für die demokratische
Auseinandersetzung: Wenn dieser Ansatz systematisch befolgt würde,
verschwände jeglicher Meinungsaustausch aus der Öffentlichkeit, er
könnte nur noch in geschlossenen Gremien stattfinden, der Mediation
zwischen den Parteien würde absoluter Vorrang zukommen. Wenn Kulturen
derartig geschützt würden, wäre dies das Ende einer
freimütigen öffentlichen Diskussion und der freien Debatte unter
Bürgern. Folgte man diesem Gedanken, hätte dies natürlich
dramatische Auswirkungen auf die Funktionsweise von Demokratie.
Jyllands-Posten hat mit seinen Karikaturen merkwürdige politische
Ideen aufs Korn genommen, wie man die Religion in den Dienst von Politik
stellen kann, etwa mit Kurt Westergaards berühmter Zeichnung des Propheten
mit einer Bombe im Turban. Doch die Islamisten haben versucht,
Jyllands-Posten ins Unrecht zu setzen, indem sie die Zeitung der
Islamophobie bezichtigten.
In allen Spielarten, ob in seiner reformistischen, revolutionären oder
terroristischen Variante, ist sich der Islamismus darin einig, dass die
Gesellschaft nach den Grundsätzen der Sharia zu organisieren sei. Wenn
dies nun unter Kultur firmiert, wird es möglich, jede Kritik von
außen als Islamophobie oder Rassismus abzuweisen, da die
Kritiker eine Kultur angeblich nicht respektieren würden.
Der Nationalsozialismus hat etwas ähnliches versucht, als er sich als die
Fortsetzung einer uralten germanischen Kultur inszenierte; allerdings waren die
Kritiker in jener Zeit gewitzter als heute und in der Lage, die Rhetorik zu
durchschauen. Nun sind wir heute Zeugen, auf welche Weise islamische Bewegungen
wie Deobandismus, Wahhabismus, Salafismus und die Muslimbrüderschaft (die
direkt vom italienischen Faschismus und dem französischen Faschisten
Alexis Carrel(7) beeinflusst ist) vom kulturellen Argument geschützt
werden: Es handele sich nämlich gar nicht um politischen Programme,
sondern um Kulturen, die als solche nicht kritisiert werden
könnten. Doch sobald Kulturen in der politischen Arena auftreten,
müssen sie sich per definitionem ebenso der Diskussion und Kritik stellen
wie alle anderen Vereinigungen, Gruppen, Parteien und Bewegungen, die
politische Forderungen stellen. Hier haben weder Priester, Imame noch sonstige
Kleriker - jedweden Glaubens - auch nur eine Unze mehr Recht auf Respekt als
jedes andere Individuum, nur weil sie sich bei ihren politischen Forderungen
einer religiösen Rhetorik bedienen.
Frederik Stjernfelt und Jens-Martin Eriksen
(Übersetzung Klaus Fritz)