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• doku: Vielfalt tut gut
• doku: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
• Es gibt tausend gute Gründe
• Resultat einer infantilen Inquisition
• Zu den Texten in diesem Heft
• review-corner film: Keeping it unreal
• doku: Sizilianische Verhältnisse
• doku: Macker, verpiss Dich!
• Sind die Dichotomien unser Unglück?
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• Punktsieg für den Antirassismus oder Reproduktion rassistischer Ausgrenzung?
• das letzte: Voll leer
Eine Erwiderung auf Nie wieder Antira! von Lou Sander aus dem CEE IEH #177 von Martin Dornis
Einem häufigen Missverständnis zufolge wird Antirassismus mit dem
Engagement von und für Migranten gleichgesetzt. Tatsächlich dominiert
im Spektrum derart Engagierter das antirassistische Denken. Beim Antirassismus
handelt es sich aber um eine bestimmte Ideologie, die von einer Bekämpfung
des Rassismus wenigstens prinzipiell unterschieden werden sollte. Nicht das
Eintreten gegen Rassismus oder ein Engagement für die Verbesserung der
Lage von Migranten bezeichnete ich als eine der gefährlichsten
Bastion des Antihumanismus innerhalb der Linken(1), sondern die antirassistische
Ideologie. Eine Agitation gegen den Antirassismus erscheint hochgradig
prekär. Allzu schnell tritt der logische Fehlschluss auf: wer gegen den
Antirassismus antritt, müsse ein Rassist sein. Tatsächlich versteht
die antirassistische Ideologie ihr Handwerk vortrefflich, jene, die sich ihr
entgegenstellen, als Rassisten zu diffamieren.
1.Rassismus und Antirassismus zwischen Dichotomien`, Differenzen`
und Kniffen`
Lou Sander (folgend meist kurz LS genannt) benennt selbst die zentralen
antihumanistischen Grundpfeiler des antirassistischen Denkens.
Im Zentrum steht dabei erstens die Position, nach der der Rassismus
untrennbarer Bestandteil der Moderne bzw. der Aufklärung sei. Damit wird
zwangsläufig das menschliche Streben nach Emanzipation per se als
rassistisch angegriffen.
Zweitens: Die mit der Moderne eng verflochtene Bildung des
Subjekt-Objekt-Dualismus gilt dem Antirassismus als grundsätzlich
rassistisch, da rassistisches Denken angeblich auf der Figur eines so genannten
ausgegrenzten Anderen basiere, da sich das Subjekt stets durch ein ihm
gegenüberstehendes Objekt begründe. Aber gerade erst durch die
Konstitution zum modernen Subjekt und die Aneignung der Welt als Objekt
entstand der moderne individuierte Mensch. Ihn von Anbeginn mit
menschenverachtenden Ideologien wie dem Rassismus in Einklang zu bringen,
gräbt wiederum emanzipatorischer Kritik das Wasser ab.
Drittens ist auch der antirassistischen Position, nach der Rassismus untrennbar
zur kapitalistischen Gesellschaft gehöre, entgegenzutreten. Ohne Zweifel
gehört er zur heutigen kapitalistischen Gesellschaft wie die
Henne zum Ei.(2)
Wird der Rassismus an den Anfangspunkt kapitalistischer Gesellschaft verlagert,
dann werden entscheidende Widersprüche dieser Gesellschaft annulliert, die
zunächst sowohl die Möglichkeit der Befreiung der Menschheit von
jeglicher Ausbeutung und Herrschaft als auch die Perspektive der Barbarei
enthielten. Der Antirassismus verleugnet in der Moderne, im Subjekt und in der
kapitalistischen Gesellschaft von Anbeginn die Dialektik. Dem Antirassismus
erscheinen das Subjekt, die Moderne und der Kapitalismus per se als
rassistisch. Damit wird verunglimpft, was einzig dem Rassismus entgegentreten
könnte. Das lässt sich nur als freiwillige Selbstzerstörung der
Kritik bezeichnen. Man freut sich des unmittelbaren Zugriffs auf die Vielfalt
der Differenzen und hat damit ganz heimlich, still und leise die Grundlage der
modernen Zivilisation eingeebnet oder eben dekonstruiert. Damit
aber stellt man sich auf die Seite dessen, was ohnehin geschieht: auf die Seite
der rasenden Selbstzerstörung der Aufklärung(3). Nicht
die Moderne ist rassistisch, sondern ihre Selbstzerstörung bringt
rassistisches Denken hervor. Die antirassistische Dekonstruktion des Subjekts
liegt auf der gleichen Flugbahn wie sein rassistischer Zerfall. Gegen den
Rassismus antreten heißt daher nicht, die Dichotomien zu dekonstruieren,
sondern das Subjekt gegen sich selbst zu kritisieren, die Dichotomien gegen
ihre Selbstzerstörung in Schutz zu nehmen.
Doch der Antirassismus ist nicht nur eine Zerstörung der materialistischen
Kritik durch das Denken, sondern Teil einer Zerstörung des Denkens durch
das Denken überhaupt er ist Ausdruck eben des
Selbstzerstörungsprozesses der Moderne. Indem er das Subjekt
zertrümmert, zerstört er das Zentrum des Sprechens, Argumentierens
und Handelns. Als Teil des Poststrukturalismus und seiner diversen Kreuzungen
mit Marxismus, Feminismus oder Kritischer Theorie ist der Antirassismus eine
aktuelle Gestalt der Konterrevolution. Als solche bedroht er keineswegs
lediglich die materialistische Kritik der radikalen Linken. Überall wo
diese Ideologie auftritt, werden die letzten Inseln nicht nur kritischen,
sondern im weiteren Sinne humanistischen Denkens weggespült. Seine
Eckpunkte sind.(4)
1. Die Ablehnung des angeblich selbstherrlichen Subjekts der Aufklärung.
2. Der Bruch mit der Idee des Fortschritts.
3. Die Abneigung gegen umfassende Theorien, die den Anspruch vertreten, die
Gesellschaft umfassend zu erklären, zu beschreiben oder zu kritisieren.
4. Die Aversion gegen alle Pläne eines grundlegenden Umsturzes aller
gesellschaftlichen Verhältnisse.
5. Mit Louis Althusser wird das moderne Subjekt, Zentrum des kritischen
Denkens, als nicht befreiendes, sondern als unterworfenes betrachtet. Das
Subjekt nämlich soll laut Althusser einzig das Ergebnis politischer
Unterwerfung durch den Staat sein. Das Subjekt solle daher aus den Angeln
gehoben werden.
6. Entscheidend bei der Aversion gegen das Subjekt ist die Rolle der Sprache.
Diese wird nicht als vom denkenden und handelnden Subjekt ausgehend begriffen,
vielmehr wäre das Subjekt seinerseits von der Sprache bestimmt, ja erst
durch ihre grammatische Struktur hervorgebracht. Mit Lacan gilt sie als eine
unbewusste Struktur. Sprache ist für den Poststrukturalismus kein Medium
der Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Umwelt, kein Mittel der
Erkenntnis.
7. Die von der Gesellschaft unterworfene Natur und Sexualität wird damit
als etwas sprachlich Konstituiertes begriffen, somit nicht als etwas zu
befreiendes.
8. Jeglichem Wesenskern des Subjekts wird unter der Chiffre des
Antiessenzialismus` eine strikte Absage erteilt. Unter rein strategischen
Gesichtspunkten ist dann wiederum ein Rekurs darauf gestattet, etwa um mit
Identitäten Politik machen` zu können.
9. Jegliche Vorstellung einer Versöhnung von Natur und Gesellschaft wird
als angebliche Romantik erledigt.
10. Mit Foucaults Verständnis von Macht wird eine klare Unterscheidung von
Herrschaft und Unterdrückung, Opfer und Täter aufgeweicht. Die Macht
wäre angeblich überall und ginge von unendlich vielen Punkten aus.
11. Gestützt wird das mit dem Argument, dass Macht nie nur repressiv,
sondern immer auch produktiv wäre, also stets etwas hervorbringe.
Bedenklich wären daher jene Theorien, die auf Befreiung von Herrschaft
zielen oder von einer klar benennbaren Herrschaft ausgehen.
12. Da alles Wahrgenommene konstruiert wäre, über Diskurse formiert,
gäbe es keinerlei Authentizität, die gegen die falschen
gesellschaftlichen Zustände in Stellung gebracht werden könnte.
13. Es gäbe damit keine Originale und von diesen dann Kopien. Jedes
Original ist stets schon seine eigene Kopie. Die Vorstellung eines richtigen
Lebens, das gegen das falsche gewendet werden könnte, wäre damit
erledigt.
14. Damit wäre die von der Aufklärung propagierte Autonomie des
Individuums obsolet. Es erscheine stets schon als in Strukturen eingebunden und
damit unaufhebbaren Zwängen ausgesetzt, mit denen sich allenfalls
spielen` lasse.
Was Freud, Marx und überhaupt jede kritische Theorie abschaffen wollten:
dass die Individuen nicht Herr sind im eigenen Hause, wird vom
Poststrukturalismus zur gefährlichen Selbstüberschätzung des
Subjekts erklärt, die ausgehend vom Westen als Unheil über die
gesamte Welt gekommen sei. --- Dies ist der theoretische Kern auch des
Antirassismus, darauf läuft sein Gerede von der Verquickung von Moderne
und Rassismus hinaus. Der Kampf gegen diesen Antihumanismus (und der
Antirassismus ist ein Teil dieses Antihumanismus) ist das vordringliche Ziel
kritischer Theorie heute.
Lou Sanders Ausführungen beginnen mit einem Zitat des Café
Morgenland: Wenn du über das Negative in Deutschland reden willst,
sollst du über den Islam reden.(5). Das klingt nur scheinbar kritisch, ist
nämlich abwertend gemeint. In den Augen von Morgenland und LS ist es
nämlich ein Kniff der biodeutschen Linken(6), den Islam für
deutsch zu erklären. Damit lenkten sie von rassistischen
Verhältnissen ab, wollten angeblich eine rationale theoretische
Absicherung(7) des eigenen(8) Rassismus deutscher Linker betreiben. Der
Islam ist sehr wohl eine aktuelle Ausprägung der deutschen Ideologie, die
innerhalb kapitalistischer Verhältnisse auf Herrschaft ohne Vermittlung
drängt. Sie erstrebt das Archaische in moderner Form, greift nach den
Artefakten(9) der Moderne, also nach Wissenschaft und Technik, ohne ihre
Denkformen annehmen zu wollen. Sie kämpft mit den Mitteln der Moderne
gegen die Moderne (so wie der Antirassismus mit denen des Denkens gegen das
Denken). Als klassische Ausprägung der Gegenmoderne ist der Islam,
explizit in seiner politischen Variante, heutzutage die deutsche Ideologie
schlechthin. Daher ist es dringend geboten, über den Islam zu sprechen,
wenn es um die Kritik deutscher Ideologie geht. Es handelt sich hier um keinen
Kniff und keine theoretische Absicherung eines eigenen Rassismus,
sondern um eine auf Emanzipation zielende Argumentation. Deutsche Ideologie
nicht als solche zu benennen und damit den Antisemitismus unkritisierbar zu
machen, das ist vielmehr der theoretische Kniff des Café
Morgenland: von Deutschland schweigen, indem unablässig davon geredet
wird.
2. Der Rassismus ein Phänomen der Moderne?
Lou Sander will den Rassismus nicht nur auf individuelle Rassifizierung
und Diskriminierung(10) beschränkt wissen. Rassismus ist als Ideologie eine
Reaktion des spätkapitalistischen Subjekts, das sich in seinem Zerfall
gegen die Natur verhärtet. Das entspringt seiner Konstitution: es ist
getrieben und bangt um seine Identität. Allerdings äußert sich
diese Ideologie in individuellen Einstellungen gegenüber Menschen anderer
Hautfarbe. Rassismus ist eine intellektuelle Verhaltensweise tatsächlich
des Individuums. Niemand anderes als ein Individuum (in der Form des Subjekts)
kann rassistisch sein.
Ebenso wenig ist in der Moderne schlechthin von einem kontinuierlichen
Rassismus zu sprechen, wie es bei LS geschieht. Er ist zwar eine Basisideologie
des bürgerlichen Subjekts, doch handelt es sich hierbei um das Subjekt
nach dem Untergang des liberalen Kapitalismus in den Krisen ab Ende des 19.
Jahrhunderts. Der Rassismus hat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft
seine spezifische Genesis. Er ist unmittelbar verschränkt mit einer
biologistischen und irrationalen Erklärung der Gesellschaft. Der liberale
Kapitalismus wurde von seinen Ideologen keineswegs irrational und biologisch,
sondern von Menschen gemacht und vernünftig sowie frei von Herrschaft und
Ausbeutung wahrgenommen. Da er diese aber in versachlichter Form perpetuierte,
irrationalisierte und biologisierte er sich. Das geschah, als die Individuen
sukzessive in Anhängsel der Maschinerie verwandelt wurden und ihrer gerade
erst erworbenen, nie wirklich durchgesetzten Mündigkeit alsbald wieder
verlustig gingen(11). Hier ist nicht von einer Kontinuität der Zivilisation,
sondern vielmehr von ihrem Schwinden zu sprechen(12). Den Rassismus unumwunden als
Phänomen der Moderne zu bezeichnen, läuft darauf hinaus, ganz
im Geiste von Heidegger, Foucault, Spivak, Said und Terkessides(13) die Dialektik
der Moderne zu bestreiten, Moderne mit Antimoderne in eins zu setzen. Das
leistet antimodernen Argumentationen Vorschub, die in der Ersetzung von
direkter durch versachlichte Herrschaft eine gewaltförmige
Zurechtschneidung heiler vormoderner Verhältnisse sehen. Diese
Argumentation unterstützt die Bewegung hin zur modernen Barbarei und ist
nicht in der Lage, ausgerechnet dem Rassismus entgegenzutreten.
Laut LS [enthält] [d]ie Gruppenzuordnung (
) bereits eine
Bewertung der Rassifizierten(14). Das ist wohl das Grundessential des linken
Antirassismus überhaupt. Es wird immer wiederholt, was es zwar vertraut,
aber nicht wahrer macht. Jeder kann einen Menschen einer Rasse zuordnen, ohne
ihn zu stigmatisieren. Die Frage, ob die Einteilung der Menschen in Rassen
biologisch gerechtfertigt ist, hat nichts mit Rassismus zu tun. Genau
andersrum: Wer den Rassismus durch Nachweis seiner wissenschaftlichen
Unhaltbarkeit widerlegt glaubt, arbeitet einer biologistischen Sicht auf den
Menschen zu und legitimiert den Kern des rassistischen Denkens. Das
antirassistische Beharren auf der Nichtexistenz von Rassen ist als
Rassifizierung der gesamten Welt zu betrachten, da implizit unterstellt wird:
Gäbe es Rassen, dann wären eine Unterscheidung zwischen Menschen in
qualitativer Hinsicht durchaus legitim. Da obendrein auch noch die Rassen als
Konstrukt gelten, Konstrukte aber für wahr gehalten werden, weil sie
wirkmächtig seien, ist die Rasse ohnehin wieder eingeführt: und zwar
rassischer` und unhinterfragbarer denn je zuvor. Rasse heißt im
Antirassismus qualitative Unterschiedlichkeit, ergo: ist mit dem rassistischen
Diskurs die Rasse als Ungleichheit zwischen Menschen wieder eingeführt.
Und zwar nicht als nebensächliche biologische Gegebenheit. Als höchst
wirkmächtiges Diskursprodukt kommt dem Antirassismus die zur Tür
hinauskomplementierte Rasse zum Fenster wieder hereingeschneit. Die Bestimmung
der Rassen als Ergebnis von Diskursen ist viel deterministischer als ihre
angeblich so verwerfliche Biologisierung(15).
Rassistische Diskriminierung knüpft sich nicht an die
naturwissenschaftliche Einteilung, sondern an die Konstitution des
bürgerlichen Subjekts und dessen katastrophischen Zerfall in der
spätkapitalistischen Gesellschaft. Aber auch historisch ist die Verbindung
von Rasse und Diskriminierung keineswegs so eindeutig. Kant, der den Begriff
der Rasse (race) in den deutschen Sprachgebrauch brachte, ging mit
Buffon davon aus, dass es zunächst nur eine menschliche Gattung gab, die
sich später unter der Einwirkung unterschiedlicher Umweltbedingungen in
verschiedene Gruppen unterteilte. Dabei bevorzugte er zwar anfangs die
europäische Rasse, nahm diese Position jedoch in seinem Aufsatz
Bestimmung des Begriffs der Menschenrasse von 1785 explizit zurück
und zählte nur noch die Hautfarbe zu den erblichen Merkmalen. Er sprach
zwar weiterhin von Unterschieden des Geistes und des Charakters, ging aber
davon aus, dass diese gerade nicht erblich seien. Selbst der Begründer der
Karniologie, also der Schädelkunde, der mit seinen Forschungen
unwiderlegliche Zuordnungen der Menschen zu Rassen suchte, von einer
jüdischen Rasse mit besonderer Schädelform ausging, musste letztlich
zugeben, dass eine eindeutige Zuordnung nicht möglich sei, dass es
vielmehr zahlreiche Abstufungen zwischen den Rassen gäbe und die Zuordnung
von charakterlichen und geistigen Merkmalen nicht möglich sei. Selbst als
der Antisemit, als der er sich verstand, musste er eingestehen, dass aus der
Einteilung der Menschen in Rassen keine charakterliche und geistige
Unterschiedlichkeit abzuleiten ist.
3. Rassenstaat, Rassismus und kapitalistische Gesellschaft
Lou Sander kritisiert, dass ich(16) den rassistischen Charakter des
nationalsozialistischen Staates bestreite und ihn als einen
ausschließlich antisemitischen Unstaat bezeichne: Martin Dornis
(...) verkennt (
) zum einen die komplexe Verknüpfung von
Antisemitismus [und] ethnisch-kolonialem Rassismus (...). Auch die Rolle und
Spezifik von Antislavismus und Antiziganismus blendet er aus. Weiterhin
unterstellt LS, dass für mich Rassismus, Eugenik und Biopolitik
(...) keine Rolle spielen würden.(17). Wie sich Antisemitismus,
Rassismus, arische Mystik und Eugenik verknüpft haben sollen, wird uns
aber von LS nicht erklärt, außer durch den Hinweis darauf, dass das
ziemlich komplex gewesen sein muss. Daher wage ich hier einen Vorschlag zur
Komplexitätsreduktion:
1. Als Staat bzw. besser: Unstaat war der Nazifaschismus antisemitisch und
nichts sonst. Antisemitismus ist nicht lediglich der Hass gegen Juden, sondern
der Hass auf das, wofür das Jüdische steht, nämlich das Prinzip
der Vermittlung von Ausbeutung und Herrschaft. Es ging um die
Umkremplung der gesamten Gesellschaft, ums Zusammenschweißen des in der
Krise zerbrechenden Staatswesens, seine Ersetzung durch ein von Antisemitismus
und Führerwille` zusammengehaltenes Gefüge aus Wehrmacht,
NSDAP, Staatsbürokratie und Monopolkapital(18). Alle diese Bereiche bildeten
einen zum bersten gespannten Gesellschaftsblock, den einzig Hass und Massenmord
zusammen hielten.
2. Den Rassismus betreffend behaupte ich keineswegs, es hätte ihn im
Nazifaschismus nicht gegeben, sondern ich betone, dass er im Gegensatz zum
Antisemitismus nicht das gesellschafts- und staatsstiftende Moment gewesen ist.
Genauer: Viele Aspekte des Nazifaschismus, die auf den ersten Blick als
rassistisch erscheinen (etwa die Verfolgung von Sinti und Roma; der Hass auf
Alte, Kranke, Schwache und Behinderte; die restriktive Politik gegen die
Arbeiterklasse), werden einer tiefergehenden Analyse als antisemitisch
kenntlich. Der nationalsozialistische war ein antisemitischer, aber kein
rassistischer Staat. Damit ist nicht gesagt, die Nazis seien nicht auch
Rassisten gewesen. Aber: Gerade die Rassentheorie der Nazis hatte
explizit antisemitischen Charakter. Rassismus und Antisemitismus sind
die beiden Momente, mit denen sich das spätkapitalistische Subjekt unter
gewaltförmiger Abgrenzung zusammenfügt. Rassistisch regrediert das
Subjekt als Privatbürger, antisemitisch als Staatsbürger. Rassistisch
sind daher die Subjekte tendenziell für sich, antisemitisch hingegen als
Gemeinschaft. Diese empfanden die Deutschen in dieser Ideologie als zersetzt
und unterminiert durch die Juden, gegen die sie sich kollektiv glaubten, zur
Wehr setzen zu müssen. Keine Massenideologie ist so geeignet wie der
Antisemitismus, gesellschaftsstiftende Funktion zu übernehmen. Daher liegt
es nahe, dass der Antisemitismus und nicht der Rassismus zu jener Ideologie
wurde, die Deutschland in der Dauerkrise zur Einheit formierte.
3. Arisch waren die Deutschen im nazifaschistischen Weltbild gerade in
Abgrenzung von den Juden. Der Ariernachweis` sollte v. a. zeigen, ob
jemand jüdische Vorfahren hatte.
4. Die Rede von Rassenhygiene Ausmerzung der
Artfremden und der Aufartung diente ebenso der Formierung zur
antisemitischen Volksgemeinschaft. Das war die Art und Weise, wie die
einzelnen, zu gesellschaftlichen Atomen zerstobenen Individuen zur
Volksgemeinschaft fusioniert werden sollten. Dazu gehörte es,
bedingungslos zu diktieren, wer dazu gehören darf und wer nicht, und
darüber absurde Bestimmungen zu erlassen, über die der Einzelne
nichts vermag. Russen und Polen sollten raubökonomisch zu dienstwilligen
Sklavenvölkern heran gezüchtet werden. Sinti und Roma galten als
undeutsch`, da die ihnen zugeschriebene bzw. wirklich existente
Lebensweise nicht dem volksdeutschen Leitbild entsprach. Unter Gesichtspunkten
der Rassentheorie war ihre Verfolgung durchaus umstritten, da sie
gemäß NS-Rassenlehre aufgrund ihrer angeblich indischen Herkunft als
arisch galten. Sie passten aber nicht ins Bild der antisemitisch gedachten
Volksgemeinschaft, der stolzen, arbeitenden und sesshaften Deutschen
ebenso wie Schwule und Lesben, Vagabunden und Kriminelle galten sie als
Schädlinge an der Reinheit, Gesundheit und dem kraftstrotzenden Wesen der
(antisemitisch gedachten) Volksdeutschen. Dieses Bild von den Deutschen war
antisemitisch bis ins Mark. Polen und Russen galten als verjudet. Die
Sowjetunion als Todfeind des Nazifaschismus wurde als Agent einer
jüdischen Weltverschwörung gegen Deutschland betrachtet. Der Krieg
gegen Polen und die Sowjetunion ist als explizit antisemitischer Krieg zu
betrachten, mit dem die Nazideutschen sich und die Welt vom angeblichen
Übel befreien wollten. Mit ihrer Politik knüpften die Nazis damit
zwar an die historisch durchaus älteren rassistischen Abneigungen gegen
slawische Nationen an, setzten diese jedoch in einen völlig neuen Kontext.
Sie bedienten sich klassischer Rassentheorien, ließen etwa Gobineau
aufleben, interpretierten diese jedoch antisemitisch.
5. Selbst die Unterwerfung der deutschen Arbeiter unter das Kapital ist unter
dem Gesichtspunkt des Antisemitismus zu analysieren. Grundmoment dafür ist
die Ausschaltung jeglicher Vermittlung (Zerschlagung der Gewerkschaften;
Streichung der Rechte der Arbeiter, der Wahl des Arbeitsplatzes, des Rechtes
auf Kündigung; Verschmelzung von Lohnarbeitern und Kapitalisten in der
Deutschen Arbeitsfront). Das heißt nicht, dass die deutschen Proletarier
ein Opfer des Antisemitismus gewesen wären, sondern dass das
Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital im nazifaschistischen
Deutschland antisemitisch strukturiert war. Der Antisemitismus stellte die
Klammer dar, der sie zur Volksgemeinschaft fusionierte. Auch der innere Kampf
der Nazis gegen Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberale, Christen richtete sich
gegen diese als Vertreter einer jüdischen Verschwörung.
6. Der Antisemitismus (und nicht etwa der Rassismus, nicht die arische Mystik
und nicht die Eugenik, auch nicht der Antikommunismus) ist daher jene
Ideologie, mittels derer die Nazifaschisten die Deutschen zur Volksgemeinschaft
formierten. Mit Horkheimer lässt sich sagen: im Nazifaschismus ist die
Gesellschaft nicht mehr der Grund des Antisemitismus, sondern der
Antisemitismus wird zur Ursache dafür, dass es so etwas wie Gesellschaft
überhaupt noch gibt(19). Die ganze Gesellschaft wird auf das Programm zum
Massenmord an den Juden umgeschaltet: an den Juden und nicht an Kommunisten,
nicht an Slaven, nicht an Behinderten, da die Juden jene sind, die als
verantwortlich für die Krise galten und an denen sie wieder und wieder
exorziert wurde. Die Krise wurde zum Dauerzustand(20) erhoben.(21)
Aber auch im heutigen Kapitalismus spielt der Rassismus eine weitaus geringere
Rolle, als es Lou Sander vermutet. Dass die menschenverachtende
Internierung und Versorgung in Gemeinschaftsunterkünften und
Abschiebelagern nicht [ö]konomisch pragmatisch(22) ist, nimmt LS als
Beweis für den rassistischen Charakter dieser Situation. Nun ist
spätkapitalistische Ökonomie niemals pragmatisch. Die
menschenverachtende Asylpolitik der Bundesrepublik als nicht-rassistisch,
sondern politisch-ökonomisch motiviert zu bezeichnen, ist etwas
völlig anderes, als sie ökonomisch pragmatisch zu nennen. Der
Autorin jedoch erscheint Ökonomie per se als pragmatisch.
Politisch-ökonomisch verursacht bedeutet, dass der Staat bestrebt ist,
bestimmte Menschen mittels Politik davon abzuhalten, nach Deutschland zu
kommen: etwa in dem er sie erniedrigend behandelt und unterbringt und sich dies
auch einiges kosten lässt. Die zentrale Aufgabe von Politik im
Spätkapitalismus besteht in der Verbreitung von Angst und Schrecken,
namentlich unter Unterpriviligierten. Das Unterbringen von Asylbewerbern in
Massenunterkünften ist eine Art dieser Politik; dazu gehört auch die
staatliche Hartz 4-Politik, oder die ganz und gar gegen Biodeutsche
gerichtete Abrieglung von dörflichen Regionen, in denen unter Kühen
die Maul-und-Klauenseuche auftrat. Dazu gehören auch die Maßnahmen
der Bundesregierung im Zuge der Vogelgrippenhysterie. In diesen Zeiten wurden
ganze Hühnerhöfe und freilaufende Hunde und Katzen gekeult`.
Damit will nicht ich Menschen und Tiere gleichsetzen, sondern: Sie
werden gleichgesetzt. Mit der Chiffre Rassismus` ist das alles
nicht zu erfassen. Das Wort Rassismus verkommt im Antirassismus zum Platzhalter
für einen fehlenden Begriff von Gesellschaft, die sich ihnen auf die ewige
Immergleichheit von Eigenem` und Fremdem` reduziert.
Eine gleichfalls geringe Rolle spielt der (
) Rassismus bei der
globalen und nationalen Verteilung von Reichtum und Arbeit (...) und auch
(...) für die Konstitution von Nationalstaaten (...)(23) war er
keineswegs prinzipiell entscheidend. Beide Behauptungen verweisen auf ein
verkehrtes Verständnis von Gesellschaft. Tatsächlich haben zwar
Weiße mehr und bessere Arbeitsplätze und daher kommt ihnen ein
größeres Segment des globalen gesellschaftlichen Reichtums zugute.
Aber die Ursachen dafür liegen nicht im Rassismus, sondern vielmehr in den
ungleichen historischen Startbedingungen im kapitalistischen Weltmarkt. Die
westlichen Regionen der Erde hatten sich viel eher zu bürgerlichen
Nationalstaaten formiert und waren vorneweg bei der Durchsetzung
kapitalistischer Verhältnisse, während südliche Gegenden lange
Zeit den Status von Kolonien innehatten. Die Länder des Trikont leiden
heute unter den Nachwirkungen des Kolonialismus. Dieser ist die Wurzel
ihrer heutigen Armut. Aber die Wurzel ist etwas anderes als die Sache selbst
und Kolonialismus ist nicht Rassismus. Auch hier an LS der Appell an das, was
sie nicht müde wird, bei anderen einzufordern: Differenzierung.
Diese wäre auch bei ihrer These von der Rolle des Rassismus bei der
Gründung des Nationalstaates angebracht gewesen. Die ersten
kapitalistischen Nationalstaaten Frankreich, England, die USA, die Niederlande
kamen zunächst ohne rassistische Legitimierung aus. Nicht ohne
Kolonialismus, nicht ohne Vertreibung der nordamerikanischen Ureinwohner, aber
diese waren nicht rassistisch legitimiert. Die führenden
Ideologen dieser Form von Gesellschaft, heißen sie Rousseau oder
Smith oder Mill, argumentierten oft antikolonialistisch. Smith forderte England
dazu auf, alle Kolonien in die Freiheit zu entlassen. Der frühe
Kapitalismus kolonisierte ganz ohne theoretische Legitimation. Er brauchte
keinen Rassismus. Auch dass Schwarze bei der Gründung des
französischen Nationalstaates nicht unter die Menschenrechte fielen, war
kein Ergebnis des Rassismus, sondern verstand sich einfach von selbst. Erst als
die Unterwerfung der kolonialen Gebiete fragwürdig geworden war,
verspürten bürgerliche Ideologen die Notwendigkeit einer
theoretischen Legitimation: der Rassismus entstand.
In einem Text in der Interventionen-Broschüre setzte sich LS
eingehender mit dem Verhältnis des Rassismus zur kapitalistischen
Gesellschaft auseinander. Aber der Wert ist keine formal-abstrakte
Kategorie(24), als welchen LS ihn beschreibt, sondern er abstrahiert von
allem Dinglichen und Sinnlichen. Real: und nicht etwa im Kopf von Theoretikern.
Der Wert ist in keiner Weise formal. Er ist keine theoretische Kategorie
der Analyse, sondern eine praktische der Realität. Unter der Vermittlung
durch den Wert wird die Gesellschaft in eine unheilvolle und destruktive
Dynamik versetzt. Keineswegs handelt der Wert von einer Sphäre der
kapitalistischen Ökonomie(25). Er ist keine ökonomische, sondern eine
gesellschaftliche Kategorie und zwar eine des realen Denkens wie des Handelns.
Der Wert sorgt für die permanente gewaltförmige Vergleichung der
Produkte zu Waren und der Individuen zu Subjekten. Wer ihn auf eine Kategorie
der Ökonomie reduziert, versteht Marx wie Marxisten und Ökonomen.
Kann man ja machen. Nur darf man ihn danach nicht des Ökonomismus zeihen,
den man zuvor in ihn hineingelesen hat.
4. Rassismus, Antisemitismus und die Anderen`
Lou Sander ist durchaus bemüht, die antisemitischen Konsequenzen vieler
antirassistischer Ansätze aufzudecken und fordert daher einen
Antirassismus, der sich von diesen absetzt: Er solle gar nicht erst damit
anfangen, den Kampf gegen Antisemitismus (...) platt gegen den Kampf gegen
Rassismus auszuspielen(26). Aber kann LS halten, was sie da verspricht? Die
Antwort gibt sie selbst: Kolonialer Rassismus, Antiziganismus,
Antislavismus, Sexismus und Antisemitismus haben (...) einiges, aber nicht
alles gemeinsam: Sie konstituieren das Eigene in Abgrenzung zu einem als fremd
erscheinenden Anderen` (...) und sie sind Ideologien, die das Soziale
biologisieren, weil sie gesellschaftliche Vorgänge zu natürlichen
verklären(27). Hier geht einiges zu schnell. Durchaus ist die
kapitalistische Gesellschaft fetischistisch, was bedeutet: Der
gesellschaftliche Zusammenhang stellt sich an einem Gegenstand, dem Geld dar
ein Ausdruck der Tatsache, dass der Wert einer Ware immer nur als
(gesellschaftlicher) Tauschwert am (natürlichen) Material einer anderen
Ware erscheinen kann. Gesellschaftliches erscheint an etwas Natürlichem
und Natürliches wird Ausdruck von Gesellschaft. Das Subjekt der
kapitalistischen Gesellschaft dichtet sich in der Phase seines Zerfalls
gewaltförmig gegen Natur einerseits, gegen den selbstgeschaffenen,
katastrophisch verlaufenden gesellschaftlichen Zusammenhang andererseits ab. So
ist es in sich widersprüchlich und zerrissen. Einerseits biologisiert es
seinen gesellschaftlichen Zusammenhang, schreibt es Anderen im Rassismus und
Sexismus die bedrängende Natur zu und andererseits rebelliert es
antisemitisch dagegen, dass es seine Natur zivilisieren muss. Es gibt also eine
gemeinsame fetischistische Grundlage. Die ideologische Reaktion darauf ist
aber bei Rassismus und Sexismus einerseits und bei Antisemitismus andererseits
völlig gegensätzlich. Sehr wohl biologisiert der Rassismus das
Soziale nicht jedoch der Antisemitismus. Ganz im Gegenteil: Während
im Rassismus tatsächlich die Anderen` zum Ausdruck von Natur
werden(28), sind die Deutschen im Antisemitismus selbst die Anderen. Die
Deutschen errichteten ihre Volksgemeinschaft, indem sie sich zur ausgegrenzten
und marginalisierten Subalterne` erklärten, der deutsche
Nationalsozialismus war seinem Wesen nach der antiimperialistische,
antikolonialistische und antirassistische Kampf derer, die sich vom Westen
versklavt fühlten.(29) Damit war der Nazifaschismus mithin das völlige
Gegenteil einer zugespitzten Fortsetzung des westlichen Kolonialismus(30). Er war
vielmehr der Aufstand gegen die Kolonisierung der Welt durch den Westen. Daher
findet er heute seine Fortsetzung im Kampf der umma und ihrer westlichen
anirassistischen Helfershelfer gegen die westlichen Zumutungen. Der
Nationalsozialismus war strikt antiwestlich. Die deutsche Volksgemeinschaft
das war die Subalterne an der Macht. Nur in diesem Sinne ergibt die Rede
von einem Anderen in Bezug auf Rassismus und Antisemitismus wirklich Sinn:
Einmal richtet sich das spätkapitalistische Subjekt rassistisch gegen die
Anderen und einmal ist es selbst das Andere, das sich von dem in den Juden
personifizierten Allgemeinen geknechtet wähnt. Die Juden waren gerade
nicht das Andere der Deutschen, sondern die Darstellung des Abstrakten
im antisemitischen Weltbild. Die Deutschen sahen sich gerade als das Andere
gegenüber den Juden. Die Einordnung des Antisemitismus in einer Reihe mit
Formen des Rassismus und des Sexismus streicht somit den Antisemitismus in
seiner besonderen Qualität gerade durch. Lou Sanders Bestimmung des
Antisemitismus lässt ihn zu einer Variante des Rassismus verschwimmen.
In Lou Sanders Antirassismus behält diese Ideologie ihren problematischen
Kern, auch wenn sie sich verbal gegen den Antisemitismus wendet, einer
solidarischen Haltung zum israelischen Staat zumindest nicht abgeneigt und
bereit ist, den Antizionismus anderer Antirassisten kritisch unter die Lupe zu
nehmen. Um die antihumanistische Substanz dieser Ideologie aufzusprengen,
müsste sie über den Antirassismus hinausgehen, keinen kritischen
Antirassismus formulieren (was vermutlich ihr Konzept ist), sondern eine
Kritik des Antirassismus wagen.
5. Das objektive Wissen, die Rassismuserfahrungen und die
materialistische Kritik
Im letzten Teil ihres Textes setzt sich Lou Sander mit den
Rassismuserfahrungen der People of Color und Migrant_innen(31)
auseinander und setzt diese ins Verhältnis zu Theorien über
Rassismus, wie sie von wie die Autorin hervorhebt, zumeist weißen
Theoretikern entwickelt werden. Ihre These: weiße deutsche
Linke mit gesellschaftskritischem Anspruch (können) empirische Evidenzen
und theoretische Erkenntnisse der Rassismusforschung einfach ignorieren, weil
sie von ihnen nicht betroffen seien. Das sei ein Privileg. Andere
hätten diese Wahl nicht(32). Soweit, so gut.. oder so schlecht.
Jedenfalls müssen die empirischen Evidenzen gedeutet werden.
LS schert sie aber schlichtweg über den antirassistischen Leisten.
Über (...) Othering als Analysekategorie wird sich eben
nicht nur lustig machen, wer selber vollständig
christlich-biodeutsch aussieht(33) (Wie sehen eigentlich Christen aus?). Der
Kern des Otheringkonzepts besteht darin, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus zu
Formen der Diskriminierung des Anderen` zu erklären. Damit sind
diese Ideologien jedoch nicht praktisch kritisiert, sondern vielmehr
theoretisch nivelliert.
Es sei priviligierte Ignoranz, andere Erfahrungswelten abfällig
wegzuwischen und gesellschaftliche Verhältnisse ausschließlich
anhand formal-abstrakter Kategorien wie den Wert erklärt wissen zu
wollen(34). Hier handelt es sich freilich um eine pure Unterstellung. Wer diese
Erfahrungswelten anders deutet als die Betroffenen` selbst oder
jene, die sich zu ihren Vertretern aufschwingen und behaupten, in ihrem Sinne
zu sprechen, wird der Ignoranz bezichtigt. Eine zwar fiese, aber
glücklicherweise recht durchsichtige Masche. Allein schon der Bezug dieser
Erfahrungswelten auf eine gesellschaftliche Totalität (wie sie im
Begriff des Werts formuliert ist) fällt für LS unter Ignoranz.
Das korrespondiert freilich der unkritischen, durch und durch affirmativen
Weltsicht des Antirassismus, die als poststrukturalistische jede
große Erzählung` als Selbstgefälligkeit des arroganten
Subjekts der Aufklärung diffamiert. Das ist, wie oben bereits
festgestellt, nichts als die freiwillige Selbstzerstörung des Denkens.
Um ein Privileg handelt es sich freilich allemal, wenn man in der Lage
ist, gesellschaftliche Diskriminierung auf die Totalität dieser
Gesellschaft zu beziehen. Soviel sei zugestanden. Aber was macht man mit
Privilegien? Doch wohl sie nutzen? Um den Wert als Vermittlungsprinzip der
kapitalistischen Gesellschaft zu kritisieren, sollte man sich mit Marx und
Adorno beschäftigen. Das heißt: Abgesehen davon, dass man die
Chance (das Privileg!) gehabt haben muss, überhaupt lesen zu
lernen, benötigt man dafür disponible Zeit, die weder dem
Lebensunterhalt noch der Abwehr von Übergriffen gewidmet ist. Nicht nur
sollte man in der philosophischen Diskussion des westlich-universalistischen
Denkens geschult sein. Man sollte auch emotional offen sein für eigenes
und fremdes Leid sowie bereit und fähig, auf dieses zu reflektieren. Dazu
in der Lage zu sein, ist ohne Zweifel ein Privileg, ein Privileg,
dass es, so man in seinen Genuss gekommen ist (und auch unter
Biodeutschen ist das äußerst selten), nach Kräften zu
nutzen gilt. Opfern rassistischer Ausgrenzung ist herzlich wenig geholfen,
einfach ihre Erfahrungen zur theoretischen Grundlage einer
Rassismusforschung zu erheben. Als globale Verlierer sind viele der von
LS hofierten Marginalisierten (ebenso wie die Deutschen) prädisponiert,
der Aufklärung und der Moderne die Feindschaft zu erklären. Das
führt sie leider häufiger zu Israelhass und Antiamerikanismus als zu
materialistischer Gesellschaftskritik. Das heißt selbstverständlich
nicht, dass sie sich nicht individuell über diese Prädisposition
erheben könnten. Dazu wäre es aber nötig, dass sie individuell
mit ihren kollektiven Zwangsgemeinschaften brechen und sich von deren
Erfahrungen` und Betroffenheiten` emanzipieren, anstatt sich als
subalterne`, vom Westen geknechtete Minivolksgemeinschaften zu bestimmen.
Sie müssten im Bündnis mit weißen kritischen
Theoretikern all die Butlers, Spivaks und Saids samt ihrem
spätheideggerianischen Geraune von Othering, Differenzen und Dichotomien
zum Teufel jagen. Wer sich jedoch als subalternes` Opfer des Westens
bestimmt, hat immer schon das antisemitische Ticket in der Tasche. Dies
darzulegen ist keine Überheblichkeit eines weißen, westlichen und
männlichen Theoretikers, sondern gehört zu den grundlegenden
Einsichten kritischer Theorie nach Auschwitz.
Martin Dornis