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Aktuelles Heft

INHALT #182

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• das erste: Unsere Insel stinkt
„ …a Mala Beat is a Mala Beat is a Mala Beat is a…“
Springtoifel
Karnivool, The Intersphere
The Creator: Pete Rock & CL Smooth
Napalm Death, Immolation, Macabre
Hot Christmas Hip Hop Lounge
Paperclip Release Night
We can feel the mountains in our skin and bones
Clash of the Monsters
Weihnachts-Tischtennis-Turnier
Man overboard
Caliban
Snowshower
NYE @ Conne Island
Kritik und Ressentiment
Veranstaltungsanzeigen
Großbaustelle Conne Island
Konzertabsage Maroon
Zur Absage der Veranstaltung mit Justus Wertmüller
• doku: Vielfalt tut gut
• doku: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
Es gibt tausend gute Gründe
Resultat einer infantilen Inquisition
Zu den Texten in diesem Heft
• review-corner film: Keeping it unreal
• doku: Sizilianische Verhältnisse
• doku: Macker, verpiss Dich!
Sind die Dichotomien unser Unglück?
Anzeigen
Punktsieg für den Antirassismus oder Reproduktion rassistischer Ausgrenzung?
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Sind die Dichotomien unser Unglück?

– oder: Warum denkt die Subalterne deutsch?

Eine Erwiderung auf „Nie wieder Antira!“ von Lou Sander aus dem CEE IEH #177 von Martin Dornis

Einem häufigen Missverständnis zufolge wird Antirassismus mit dem Engagement von und für Migranten gleichgesetzt. Tatsächlich dominiert im Spektrum derart Engagierter das antirassistische Denken. Beim Antirassismus handelt es sich aber um eine bestimmte Ideologie, die von einer Bekämpfung des Rassismus wenigstens prinzipiell unterschieden werden sollte. Nicht das Eintreten gegen Rassismus oder ein Engagement für die Verbesserung der Lage von Migranten bezeichnete ich als eine der „gefährlichsten Bastion des Antihumanismus innerhalb der Linken“(1), sondern die antirassistische Ideologie. Eine Agitation gegen den Antirassismus erscheint hochgradig prekär. Allzu schnell tritt der logische Fehlschluss auf: wer gegen den Antirassismus antritt, müsse ein Rassist sein. Tatsächlich versteht die antirassistische Ideologie ihr Handwerk vortrefflich, jene, die sich ihr entgegenstellen, als Rassisten zu diffamieren.

1.Rassismus und Antirassismus zwischen ‚Dichotomien`, ‚Differenzen` und ‚Kniffen`

Lou Sander (folgend meist kurz LS genannt) benennt selbst die zentralen antihumanistischen Grundpfeiler des antirassistischen Denkens.
Im Zentrum steht dabei erstens die Position, nach der der Rassismus untrennbarer Bestandteil der Moderne bzw. der Aufklärung sei. Damit wird zwangsläufig das menschliche Streben nach Emanzipation per se als rassistisch angegriffen.
Zweitens: Die mit der Moderne eng verflochtene Bildung des Subjekt-Objekt-Dualismus gilt dem Antirassismus als grundsätzlich rassistisch, da rassistisches Denken angeblich auf der Figur eines so genannten ausgegrenzten Anderen basiere, da sich das Subjekt stets durch ein ihm gegenüberstehendes Objekt begründe. Aber gerade erst durch die Konstitution zum modernen Subjekt und die Aneignung der Welt als Objekt entstand der moderne individuierte Mensch. Ihn von Anbeginn mit menschenverachtenden Ideologien wie dem Rassismus in Einklang zu bringen, gräbt wiederum emanzipatorischer Kritik das Wasser ab.
Drittens ist auch der antirassistischen Position, nach der Rassismus untrennbar zur kapitalistischen Gesellschaft gehöre, entgegenzutreten. Ohne Zweifel gehört er zur heutigen kapitalistischen Gesellschaft „wie die Henne zum Ei.“(2)
Wird der Rassismus an den Anfangspunkt kapitalistischer Gesellschaft verlagert, dann werden entscheidende Widersprüche dieser Gesellschaft annulliert, die zunächst sowohl die Möglichkeit der Befreiung der Menschheit von jeglicher Ausbeutung und Herrschaft als auch die Perspektive der Barbarei enthielten. Der Antirassismus verleugnet in der Moderne, im Subjekt und in der kapitalistischen Gesellschaft von Anbeginn die Dialektik. Dem Antirassismus erscheinen das Subjekt, die Moderne und der Kapitalismus per se als rassistisch. Damit wird verunglimpft, was einzig dem Rassismus entgegentreten könnte. Das lässt sich nur als freiwillige Selbstzerstörung der Kritik bezeichnen. Man freut sich des unmittelbaren Zugriffs auf die Vielfalt der Differenzen und hat damit ganz heimlich, still und leise die Grundlage der modernen Zivilisation eingeebnet – oder eben „dekonstruiert“. Damit aber stellt man sich auf die Seite dessen, was ohnehin geschieht: auf die Seite der rasenden „Selbstzerstörung der Aufklärung“(3). Nicht die Moderne ist rassistisch, sondern ihre Selbstzerstörung bringt rassistisches Denken hervor. Die antirassistische Dekonstruktion des Subjekts liegt auf der gleichen Flugbahn wie sein rassistischer Zerfall. Gegen den Rassismus antreten heißt daher nicht, die Dichotomien zu dekonstruieren, sondern das Subjekt gegen sich selbst zu kritisieren, die Dichotomien gegen ihre Selbstzerstörung in Schutz zu nehmen.
Doch der Antirassismus ist nicht nur eine Zerstörung der materialistischen Kritik durch das Denken, sondern Teil einer Zerstörung des Denkens durch das Denken überhaupt – er ist Ausdruck eben des Selbstzerstörungsprozesses der Moderne. Indem er das Subjekt zertrümmert, zerstört er das Zentrum des Sprechens, Argumentierens und Handelns. Als Teil des Poststrukturalismus und seiner diversen Kreuzungen mit Marxismus, Feminismus oder Kritischer Theorie ist der Antirassismus eine aktuelle Gestalt der Konterrevolution. Als solche bedroht er keineswegs lediglich die materialistische Kritik der radikalen Linken. Überall wo diese Ideologie auftritt, werden die letzten Inseln nicht nur kritischen, sondern im weiteren Sinne humanistischen Denkens weggespült. Seine Eckpunkte sind.(4)

1. Die Ablehnung des angeblich selbstherrlichen Subjekts der Aufklärung.
2. Der Bruch mit der Idee des Fortschritts.
3. Die Abneigung gegen umfassende Theorien, die den Anspruch vertreten, die Gesellschaft umfassend zu erklären, zu beschreiben oder zu kritisieren.
4. Die Aversion gegen alle Pläne eines grundlegenden Umsturzes aller gesellschaftlichen Verhältnisse.
5. Mit Louis Althusser wird das moderne Subjekt, Zentrum des kritischen Denkens, als nicht befreiendes, sondern als unterworfenes betrachtet. Das Subjekt nämlich soll laut Althusser einzig das Ergebnis politischer Unterwerfung durch den Staat sein. Das Subjekt solle daher aus den Angeln gehoben werden.
6. Entscheidend bei der Aversion gegen das Subjekt ist die Rolle der Sprache. Diese wird nicht als vom denkenden und handelnden Subjekt ausgehend begriffen, vielmehr wäre das Subjekt seinerseits von der Sprache bestimmt, ja erst durch ihre grammatische Struktur hervorgebracht. Mit Lacan gilt sie als eine unbewusste Struktur. Sprache ist für den Poststrukturalismus kein Medium der Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Umwelt, kein Mittel der Erkenntnis.
7. Die von der Gesellschaft unterworfene Natur und Sexualität wird damit als etwas sprachlich Konstituiertes begriffen, somit nicht als etwas zu befreiendes.
8. Jeglichem Wesenskern des Subjekts wird unter der Chiffre des ‚Antiessenzialismus` eine strikte Absage erteilt. Unter rein strategischen Gesichtspunkten ist dann wiederum ein Rekurs darauf gestattet, etwa um mit Identitäten ‚Politik machen` zu können.
9. Jegliche Vorstellung einer Versöhnung von Natur und Gesellschaft wird als angebliche Romantik erledigt.
10. Mit Foucaults Verständnis von Macht wird eine klare Unterscheidung von Herrschaft und Unterdrückung, Opfer und Täter aufgeweicht. Die Macht wäre angeblich überall und ginge von unendlich vielen Punkten aus.
11. Gestützt wird das mit dem Argument, dass Macht nie nur repressiv, sondern immer auch produktiv wäre, also stets etwas hervorbringe. Bedenklich wären daher jene Theorien, die auf Befreiung von Herrschaft zielen oder von einer klar benennbaren Herrschaft ausgehen.
12. Da alles Wahrgenommene konstruiert wäre, über Diskurse formiert, gäbe es keinerlei Authentizität, die gegen die falschen gesellschaftlichen Zustände in Stellung gebracht werden könnte.
13. Es gäbe damit keine Originale und von diesen dann Kopien. Jedes Original ist stets schon seine eigene Kopie. Die Vorstellung eines richtigen Lebens, das gegen das falsche gewendet werden könnte, wäre damit erledigt.
14. Damit wäre die von der Aufklärung propagierte Autonomie des Individuums obsolet. Es erscheine stets schon als in Strukturen eingebunden und damit unaufhebbaren Zwängen ausgesetzt, mit denen sich allenfalls ‚spielen` lasse.

Was Freud, Marx und überhaupt jede kritische Theorie abschaffen wollten: dass die Individuen nicht Herr sind im eigenen Hause, wird vom Poststrukturalismus zur gefährlichen Selbstüberschätzung des Subjekts erklärt, die ausgehend vom Westen als Unheil über die gesamte Welt gekommen sei. --- Dies ist der theoretische Kern auch des Antirassismus, darauf läuft sein Gerede von der Verquickung von Moderne und Rassismus hinaus. Der Kampf gegen diesen Antihumanismus (und der Antirassismus ist ein Teil dieses Antihumanismus) ist das vordringliche Ziel kritischer Theorie heute.
Lou Sanders Ausführungen beginnen mit einem Zitat des „Café Morgenland“: „Wenn du über das Negative in Deutschland reden willst, sollst du über den Islam reden.“(5). Das klingt nur scheinbar kritisch, ist nämlich abwertend gemeint. In den Augen von Morgenland und LS ist es nämlich ein „Kniff der biodeutschen Linken“(6), den Islam für deutsch zu erklären. Damit lenkten sie von rassistischen Verhältnissen ab, wollten angeblich eine „rationale theoretische Absicherung“(7) des „eigenen“(8) Rassismus deutscher Linker betreiben. Der Islam ist sehr wohl eine aktuelle Ausprägung der deutschen Ideologie, die innerhalb kapitalistischer Verhältnisse auf Herrschaft ohne Vermittlung drängt. Sie erstrebt das Archaische in moderner Form, greift nach den „Artefakten“(9) der Moderne, also nach Wissenschaft und Technik, ohne ihre Denkformen annehmen zu wollen. Sie kämpft mit den Mitteln der Moderne gegen die Moderne (so wie der Antirassismus mit denen des Denkens gegen das Denken). Als klassische Ausprägung der Gegenmoderne ist der Islam, explizit in seiner politischen Variante, heutzutage die deutsche Ideologie schlechthin. Daher ist es dringend geboten, über den Islam zu sprechen, wenn es um die Kritik deutscher Ideologie geht. Es handelt sich hier um keinen „Kniff“ und keine „theoretische Absicherung“ eines eigenen Rassismus, sondern um eine auf Emanzipation zielende Argumentation. Deutsche Ideologie nicht als solche zu benennen und damit den Antisemitismus unkritisierbar zu machen, das ist vielmehr der theoretische Kniff des „Café Morgenland“: von Deutschland schweigen, indem unablässig davon geredet wird.

2. Der Rassismus – ein Phänomen der Moderne?

Lou Sander will den Rassismus „nicht nur auf individuelle Rassifizierung und Diskriminierung“(10) beschränkt wissen. Rassismus ist als Ideologie eine Reaktion des spätkapitalistischen Subjekts, das sich in seinem Zerfall gegen die Natur verhärtet. Das entspringt seiner Konstitution: es ist getrieben und bangt um seine Identität. Allerdings äußert sich diese Ideologie in individuellen Einstellungen gegenüber Menschen anderer Hautfarbe. Rassismus ist eine intellektuelle Verhaltensweise tatsächlich des Individuums. Niemand anderes als ein Individuum (in der Form des Subjekts) kann rassistisch sein.
Ebenso wenig ist in der Moderne schlechthin von einem kontinuierlichen Rassismus zu sprechen, wie es bei LS geschieht. Er ist zwar eine Basisideologie des bürgerlichen Subjekts, doch handelt es sich hierbei um das Subjekt nach dem Untergang des liberalen Kapitalismus in den Krisen ab Ende des 19. Jahrhunderts. Der Rassismus hat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft seine spezifische Genesis. Er ist unmittelbar verschränkt mit einer biologistischen und irrationalen Erklärung der Gesellschaft. Der liberale Kapitalismus wurde von seinen Ideologen keineswegs irrational und biologisch, sondern von Menschen gemacht und vernünftig sowie frei von Herrschaft und Ausbeutung wahrgenommen. Da er diese aber in versachlichter Form perpetuierte, irrationalisierte und biologisierte er sich. Das geschah, als die Individuen sukzessive in Anhängsel der Maschinerie verwandelt wurden und ihrer gerade erst erworbenen, nie wirklich durchgesetzten Mündigkeit alsbald wieder verlustig gingen(11). Hier ist nicht von einer Kontinuität der Zivilisation, sondern vielmehr von ihrem Schwinden zu sprechen(12). Den Rassismus unumwunden als „Phänomen der Moderne“ zu bezeichnen, läuft darauf hinaus, ganz im Geiste von Heidegger, Foucault, Spivak, Said und Terkessides(13) die Dialektik der Moderne zu bestreiten, Moderne mit Antimoderne in eins zu setzen. Das leistet antimodernen Argumentationen Vorschub, die in der Ersetzung von direkter durch versachlichte Herrschaft eine gewaltförmige Zurechtschneidung heiler vormoderner Verhältnisse sehen. Diese Argumentation unterstützt die Bewegung hin zur modernen Barbarei und ist nicht in der Lage, ausgerechnet dem Rassismus entgegenzutreten.
Laut LS „ [enthält] [d]ie Gruppenzuordnung (… ) bereits eine Bewertung der Rassifizierten“(14). Das ist wohl das Grundessential des linken Antirassismus überhaupt. Es wird immer wiederholt, was es zwar vertraut, aber nicht wahrer macht. Jeder kann einen Menschen einer Rasse zuordnen, ohne ihn zu stigmatisieren. Die Frage, ob die Einteilung der Menschen in Rassen biologisch gerechtfertigt ist, hat nichts mit Rassismus zu tun. Genau andersrum: Wer den Rassismus durch Nachweis seiner wissenschaftlichen Unhaltbarkeit widerlegt glaubt, arbeitet einer biologistischen Sicht auf den Menschen zu und legitimiert den Kern des rassistischen Denkens. Das antirassistische Beharren auf der Nichtexistenz von Rassen ist als Rassifizierung der gesamten Welt zu betrachten, da implizit unterstellt wird: Gäbe es Rassen, dann wären eine Unterscheidung zwischen Menschen in qualitativer Hinsicht durchaus legitim. Da obendrein auch noch die Rassen als Konstrukt gelten, Konstrukte aber für wahr gehalten werden, weil sie wirkmächtig seien, ist die Rasse ohnehin wieder eingeführt: und zwar ‚rassischer` und unhinterfragbarer denn je zuvor. Rasse heißt im Antirassismus qualitative Unterschiedlichkeit, ergo: ist mit dem rassistischen Diskurs die Rasse als Ungleichheit zwischen Menschen wieder eingeführt. Und zwar nicht als nebensächliche biologische Gegebenheit. Als höchst wirkmächtiges Diskursprodukt kommt dem Antirassismus die zur Tür hinauskomplementierte Rasse zum Fenster wieder hereingeschneit. Die Bestimmung der Rassen als Ergebnis von Diskursen ist viel deterministischer als ihre angeblich so verwerfliche „Biologisierung“(15).
Rassistische Diskriminierung knüpft sich nicht an die naturwissenschaftliche Einteilung, sondern an die Konstitution des bürgerlichen Subjekts und dessen katastrophischen Zerfall in der spätkapitalistischen Gesellschaft. Aber auch historisch ist die Verbindung von Rasse und Diskriminierung keineswegs so eindeutig. Kant, der den Begriff der Rasse („race“) in den deutschen Sprachgebrauch brachte, ging mit Buffon davon aus, dass es zunächst nur eine menschliche Gattung gab, die sich später unter der Einwirkung unterschiedlicher Umweltbedingungen in verschiedene Gruppen unterteilte. Dabei bevorzugte er zwar anfangs die „europäische Rasse“, nahm diese Position jedoch in seinem Aufsatz „Bestimmung des Begriffs der Menschenrasse“ von 1785 explizit zurück und zählte nur noch die Hautfarbe zu den erblichen Merkmalen. Er sprach zwar weiterhin von Unterschieden des Geistes und des Charakters, ging aber davon aus, dass diese gerade nicht erblich seien. Selbst der Begründer der Karniologie, also der Schädelkunde, der mit seinen Forschungen unwiderlegliche Zuordnungen der Menschen zu Rassen suchte, von einer jüdischen Rasse mit besonderer Schädelform ausging, musste letztlich zugeben, dass eine eindeutige Zuordnung nicht möglich sei, dass es vielmehr zahlreiche Abstufungen zwischen den Rassen gäbe und die Zuordnung von charakterlichen und geistigen Merkmalen nicht möglich sei. Selbst als der Antisemit, als der er sich verstand, musste er eingestehen, dass aus der Einteilung der Menschen in Rassen keine charakterliche und geistige Unterschiedlichkeit abzuleiten ist.

3. Rassenstaat, Rassismus und kapitalistische Gesellschaft

Lou Sander kritisiert, dass ich(16) den rassistischen Charakter des nationalsozialistischen Staates bestreite und ihn als einen ausschließlich antisemitischen Unstaat bezeichne: „Martin Dornis (...) verkennt (…) zum einen die komplexe Verknüpfung von Antisemitismus [und] ethnisch-kolonialem Rassismus (...). Auch die Rolle und Spezifik von Antislavismus und Antiziganismus blendet er aus“. Weiterhin unterstellt LS, dass für mich „Rassismus, Eugenik und Biopolitik (...) keine Rolle spielen“ würden.(17). Wie sich Antisemitismus, Rassismus, arische Mystik und Eugenik verknüpft haben sollen, wird uns aber von LS nicht erklärt, außer durch den Hinweis darauf, dass das ziemlich komplex gewesen sein muss. Daher wage ich hier einen Vorschlag zur Komplexitätsreduktion:

1. Als Staat bzw. besser: Unstaat war der Nazifaschismus antisemitisch und nichts sonst. Antisemitismus ist nicht lediglich der Hass gegen Juden, sondern der Hass auf das, wofür das Jüdische steht, nämlich das Prinzip der Vermittlung von Ausbeutung und Herrschaft. Es ging um die Umkremplung der gesamten Gesellschaft, ums Zusammenschweißen des in der Krise zerbrechenden Staatswesens, seine Ersetzung durch ein von Antisemitismus und ‚Führerwille` zusammengehaltenes Gefüge aus Wehrmacht, NSDAP, Staatsbürokratie und Monopolkapital(18). Alle diese Bereiche bildeten einen zum bersten gespannten Gesellschaftsblock, den einzig Hass und Massenmord zusammen hielten.
2. Den Rassismus betreffend behaupte ich keineswegs, es hätte ihn im Nazifaschismus nicht gegeben, sondern ich betone, dass er im Gegensatz zum Antisemitismus nicht das gesellschafts- und staatsstiftende Moment gewesen ist. Genauer: Viele Aspekte des Nazifaschismus, die auf den ersten Blick als rassistisch erscheinen (etwa die Verfolgung von Sinti und Roma; der Hass auf Alte, Kranke, Schwache und Behinderte; die restriktive Politik gegen die Arbeiterklasse), werden einer tiefergehenden Analyse als antisemitisch kenntlich. Der nationalsozialistische war ein antisemitischer, aber kein rassistischer Staat. Damit ist nicht gesagt, die Nazis seien nicht auch Rassisten gewesen. Aber: Gerade die Rassentheorie der Nazis hatte explizit antisemitischen Charakter. Rassismus und Antisemitismus sind die beiden Momente, mit denen sich das spätkapitalistische Subjekt unter gewaltförmiger Abgrenzung zusammenfügt. Rassistisch regrediert das Subjekt als Privatbürger, antisemitisch als Staatsbürger. Rassistisch sind daher die Subjekte tendenziell für sich, antisemitisch hingegen als Gemeinschaft. Diese empfanden die Deutschen in dieser Ideologie als zersetzt und unterminiert durch die Juden, gegen die sie sich kollektiv glaubten, zur Wehr setzen zu müssen. Keine Massenideologie ist so geeignet wie der Antisemitismus, gesellschaftsstiftende Funktion zu übernehmen. Daher liegt es nahe, dass der Antisemitismus und nicht der Rassismus zu jener Ideologie wurde, die Deutschland in der Dauerkrise zur Einheit formierte.
3. Arisch waren die Deutschen im nazifaschistischen Weltbild gerade in Abgrenzung von den Juden. Der ‚Ariernachweis` sollte v. a. zeigen, ob jemand jüdische Vorfahren hatte.
4. Die Rede von „Rassenhygiene“‚ „Ausmerzung“ der „Artfremden“ und der „Aufartung“ diente ebenso der Formierung zur antisemitischen Volksgemeinschaft. Das war die Art und Weise, wie die einzelnen, zu gesellschaftlichen Atomen zerstobenen Individuen zur Volksgemeinschaft fusioniert werden sollten. Dazu gehörte es, bedingungslos zu diktieren, wer dazu gehören darf und wer nicht, und darüber absurde Bestimmungen zu erlassen, über die der Einzelne nichts vermag. Russen und Polen sollten raubökonomisch zu dienstwilligen Sklavenvölkern heran gezüchtet werden. Sinti und Roma galten als ‚undeutsch`, da die ihnen zugeschriebene bzw. wirklich existente Lebensweise nicht dem volksdeutschen Leitbild entsprach. Unter Gesichtspunkten der Rassentheorie war ihre Verfolgung durchaus umstritten, da sie gemäß NS-Rassenlehre aufgrund ihrer angeblich indischen Herkunft als arisch galten. Sie passten aber nicht ins Bild der antisemitisch gedachten Volksgemeinschaft, der stolzen, arbeitenden und sesshaften Deutschen – ebenso wie Schwule und Lesben, Vagabunden und Kriminelle galten sie als Schädlinge an der Reinheit, Gesundheit und dem kraftstrotzenden Wesen der (antisemitisch gedachten) Volksdeutschen. Dieses Bild von den Deutschen war antisemitisch bis ins Mark. Polen und Russen galten als „verjudet“. Die Sowjetunion als Todfeind des Nazifaschismus wurde als Agent einer jüdischen Weltverschwörung gegen Deutschland betrachtet. Der Krieg gegen Polen und die Sowjetunion ist als explizit antisemitischer Krieg zu betrachten, mit dem die Nazideutschen sich und die Welt vom angeblichen Übel befreien wollten. Mit ihrer Politik knüpften die Nazis damit zwar an die historisch durchaus älteren rassistischen Abneigungen gegen slawische Nationen an, setzten diese jedoch in einen völlig neuen Kontext. Sie bedienten sich klassischer Rassentheorien, ließen etwa Gobineau aufleben, interpretierten diese jedoch antisemitisch.
5. Selbst die Unterwerfung der deutschen Arbeiter unter das Kapital ist unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus zu analysieren. Grundmoment dafür ist die Ausschaltung jeglicher Vermittlung (Zerschlagung der Gewerkschaften; Streichung der Rechte der Arbeiter, der Wahl des Arbeitsplatzes, des Rechtes auf Kündigung; Verschmelzung von Lohnarbeitern und Kapitalisten in der Deutschen Arbeitsfront). Das heißt nicht, dass die deutschen Proletarier ein Opfer des Antisemitismus gewesen wären, sondern dass das Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital im nazifaschistischen Deutschland antisemitisch strukturiert war. Der Antisemitismus stellte die Klammer dar, der sie zur Volksgemeinschaft fusionierte. Auch der innere Kampf der Nazis gegen Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberale, Christen richtete sich gegen diese als Vertreter einer jüdischen Verschwörung.
6. Der Antisemitismus (und nicht etwa der Rassismus, nicht die arische Mystik und nicht die Eugenik, auch nicht der Antikommunismus) ist daher jene Ideologie, mittels derer die Nazifaschisten die Deutschen zur Volksgemeinschaft formierten. Mit Horkheimer lässt sich sagen: im Nazifaschismus ist die Gesellschaft nicht mehr der Grund des Antisemitismus, sondern der Antisemitismus wird zur Ursache dafür, dass es so etwas wie Gesellschaft überhaupt noch gibt(19). Die ganze Gesellschaft wird auf das Programm zum Massenmord an den Juden umgeschaltet: an den Juden und nicht an Kommunisten, nicht an Slaven, nicht an Behinderten, da die Juden jene sind, die als verantwortlich für die Krise galten und an denen sie wieder und wieder exorziert wurde. Die Krise wurde zum Dauerzustand(20) erhoben.(21)

Aber auch im heutigen Kapitalismus spielt der Rassismus eine weitaus geringere Rolle, als es Lou Sander vermutet. Dass die „menschenverachtende Internierung und Versorgung in Gemeinschaftsunterkünften und Abschiebelagern“ nicht „[ö]konomisch pragmatisch“(22) ist, nimmt LS als Beweis für den rassistischen Charakter dieser Situation. Nun ist spätkapitalistische Ökonomie niemals pragmatisch. Die menschenverachtende Asylpolitik der Bundesrepublik als nicht-rassistisch, sondern politisch-ökonomisch motiviert zu bezeichnen, ist etwas völlig anderes, als sie „ökonomisch pragmatisch“ zu nennen. Der Autorin jedoch erscheint Ökonomie per se als pragmatisch. Politisch-ökonomisch verursacht bedeutet, dass der Staat bestrebt ist, bestimmte Menschen mittels Politik davon abzuhalten, nach Deutschland zu kommen: etwa in dem er sie erniedrigend behandelt und unterbringt und sich dies auch einiges kosten lässt. Die zentrale Aufgabe von Politik im Spätkapitalismus besteht in der Verbreitung von Angst und Schrecken, namentlich unter Unterpriviligierten. Das Unterbringen von Asylbewerbern in Massenunterkünften ist eine Art dieser Politik; dazu gehört auch die staatliche Hartz 4-Politik, oder die ganz und gar gegen „Biodeutsche“ gerichtete Abrieglung von dörflichen Regionen, in denen unter Kühen die Maul-und-Klauenseuche auftrat. Dazu gehören auch die Maßnahmen der Bundesregierung im Zuge der Vogelgrippenhysterie. In diesen Zeiten wurden ganze Hühnerhöfe und freilaufende Hunde und Katzen ‚gekeult`. Damit will nicht ich Menschen und Tiere gleichsetzen, sondern: Sie werden gleichgesetzt. Mit der Chiffre ‚Rassismus` ist das alles nicht zu erfassen. Das Wort Rassismus verkommt im Antirassismus zum Platzhalter für einen fehlenden Begriff von Gesellschaft, die sich ihnen auf die ewige Immergleichheit von ‚Eigenem` und ‚Fremdem` reduziert.
Eine gleichfalls geringe Rolle spielt der „ (…) Rassismus bei der globalen und nationalen Verteilung von Reichtum und Arbeit (...)“ und auch „(...) für die Konstitution von Nationalstaaten (...)“(23) war er keineswegs prinzipiell entscheidend. Beide Behauptungen verweisen auf ein verkehrtes Verständnis von Gesellschaft. Tatsächlich haben zwar Weiße mehr und bessere Arbeitsplätze und daher kommt ihnen ein größeres Segment des globalen gesellschaftlichen Reichtums zugute. Aber die Ursachen dafür liegen nicht im Rassismus, sondern vielmehr in den ungleichen historischen Startbedingungen im kapitalistischen Weltmarkt. Die westlichen Regionen der Erde hatten sich viel eher zu bürgerlichen Nationalstaaten formiert und waren vorneweg bei der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse, während südliche Gegenden lange Zeit den Status von Kolonien innehatten. Die Länder des Trikont leiden heute unter den Nachwirkungen des Kolonialismus. Dieser ist die Wurzel ihrer heutigen Armut. Aber die Wurzel ist etwas anderes als die Sache selbst und Kolonialismus ist nicht Rassismus. Auch hier an LS der Appell an das, was sie nicht müde wird, bei anderen einzufordern: Differenzierung.
Diese wäre auch bei ihrer These von der Rolle des Rassismus bei der Gründung des Nationalstaates angebracht gewesen. Die ersten kapitalistischen Nationalstaaten Frankreich, England, die USA, die Niederlande kamen zunächst ohne rassistische Legitimierung aus. Nicht ohne Kolonialismus, nicht ohne Vertreibung der nordamerikanischen Ureinwohner, aber diese waren nicht rassistisch legitimiert. Die führenden Ideologen dieser Form von Gesellschaft, heißen sie Rousseau oder Smith oder Mill, argumentierten oft antikolonialistisch. Smith forderte England dazu auf, alle Kolonien in die Freiheit zu entlassen. Der frühe Kapitalismus kolonisierte ganz ohne theoretische Legitimation. Er brauchte keinen Rassismus. Auch dass Schwarze bei der Gründung des französischen Nationalstaates nicht unter die Menschenrechte fielen, war kein Ergebnis des Rassismus, sondern verstand sich einfach von selbst. Erst als die Unterwerfung der kolonialen Gebiete fragwürdig geworden war, verspürten bürgerliche Ideologen die Notwendigkeit einer theoretischen Legitimation: der Rassismus entstand.
In einem Text in der „Interventionen“-Broschüre setzte sich LS eingehender mit dem Verhältnis des Rassismus zur kapitalistischen Gesellschaft auseinander. Aber der Wert ist keine „ formal-abstrakte Kategorie“(24), als welchen LS ihn beschreibt, sondern er abstrahiert von allem Dinglichen und Sinnlichen. Real: und nicht etwa im Kopf von Theoretikern. Der Wert ist in keiner Weise „formal“. Er ist keine theoretische Kategorie der Analyse, sondern eine praktische der Realität. Unter der Vermittlung durch den Wert wird die Gesellschaft in eine unheilvolle und destruktive Dynamik versetzt. Keineswegs handelt der Wert von einer „Sphäre der kapitalistischen Ökonomie“(25). Er ist keine ökonomische, sondern eine gesellschaftliche Kategorie und zwar eine des realen Denkens wie des Handelns. Der Wert sorgt für die permanente gewaltförmige Vergleichung der Produkte zu Waren und der Individuen zu Subjekten. Wer ihn auf eine Kategorie der Ökonomie reduziert, versteht Marx wie Marxisten und Ökonomen. Kann man ja machen. Nur darf man ihn danach nicht des Ökonomismus zeihen, den man zuvor in ihn hineingelesen hat.

4. Rassismus, Antisemitismus und die ‚Anderen`

Lou Sander ist durchaus bemüht, die antisemitischen Konsequenzen vieler antirassistischer Ansätze aufzudecken und fordert daher einen Antirassismus, der sich von diesen absetzt: Er solle „gar nicht erst damit anfangen, den Kampf gegen Antisemitismus (...) platt gegen den Kampf gegen Rassismus auszuspielen“(26). Aber kann LS halten, was sie da verspricht? Die Antwort gibt sie selbst: „Kolonialer Rassismus, Antiziganismus, Antislavismus, Sexismus und Antisemitismus haben (...) einiges, aber nicht alles gemeinsam: Sie konstituieren das Eigene in Abgrenzung zu einem als fremd erscheinenden ‚Anderen` (...) und sie sind Ideologien, die das Soziale biologisieren, weil sie gesellschaftliche Vorgänge zu natürlichen verklären“(27). Hier geht einiges zu schnell. Durchaus ist die kapitalistische Gesellschaft fetischistisch, was bedeutet: Der gesellschaftliche Zusammenhang stellt sich an einem Gegenstand, dem Geld dar – ein Ausdruck der Tatsache, dass der Wert einer Ware immer nur als (gesellschaftlicher) Tauschwert am (natürlichen) Material einer anderen Ware erscheinen kann. Gesellschaftliches erscheint an etwas Natürlichem und Natürliches wird Ausdruck von Gesellschaft. Das Subjekt der kapitalistischen Gesellschaft dichtet sich in der Phase seines Zerfalls gewaltförmig gegen Natur einerseits, gegen den selbstgeschaffenen, katastrophisch verlaufenden gesellschaftlichen Zusammenhang andererseits ab. So ist es in sich widersprüchlich und zerrissen. Einerseits biologisiert es seinen gesellschaftlichen Zusammenhang, schreibt es Anderen im Rassismus und Sexismus die bedrängende Natur zu und andererseits rebelliert es antisemitisch dagegen, dass es seine Natur zivilisieren muss. Es gibt also eine gemeinsame fetischistische Grundlage. Die ideologische Reaktion darauf ist aber bei Rassismus und Sexismus einerseits und bei Antisemitismus andererseits völlig gegensätzlich. Sehr wohl biologisiert der Rassismus das Soziale – nicht jedoch der Antisemitismus. Ganz im Gegenteil: Während im Rassismus tatsächlich ‚die Anderen` zum Ausdruck von Natur werden(28), sind die Deutschen im Antisemitismus selbst die Anderen. Die Deutschen errichteten ihre Volksgemeinschaft, indem sie sich zur ausgegrenzten und marginalisierten ‚Subalterne` erklärten, der deutsche Nationalsozialismus war seinem Wesen nach der antiimperialistische, antikolonialistische und antirassistische Kampf derer, die sich vom Westen versklavt fühlten.(29) Damit war der Nazifaschismus mithin das völlige Gegenteil einer zugespitzten Fortsetzung des westlichen Kolonialismus(30). Er war vielmehr der Aufstand gegen die Kolonisierung der Welt durch den Westen. Daher findet er heute seine Fortsetzung im Kampf der umma und ihrer westlichen anirassistischen Helfershelfer gegen die westlichen Zumutungen. Der Nationalsozialismus war strikt antiwestlich. Die deutsche Volksgemeinschaft – das war die Subalterne an der Macht. Nur in diesem Sinne ergibt die Rede von einem Anderen in Bezug auf Rassismus und Antisemitismus wirklich Sinn: Einmal richtet sich das spätkapitalistische Subjekt rassistisch gegen die Anderen und einmal ist es selbst das Andere, das sich von dem in den Juden personifizierten Allgemeinen geknechtet wähnt. Die Juden waren gerade nicht das Andere der Deutschen, sondern die Darstellung des Abstrakten im antisemitischen Weltbild. Die Deutschen sahen sich gerade als das Andere gegenüber den Juden. Die Einordnung des Antisemitismus in einer Reihe mit Formen des Rassismus und des Sexismus streicht somit den Antisemitismus in seiner besonderen Qualität gerade durch. Lou Sanders Bestimmung des Antisemitismus lässt ihn zu einer Variante des Rassismus verschwimmen.
In Lou Sanders Antirassismus behält diese Ideologie ihren problematischen Kern, auch wenn sie sich verbal gegen den Antisemitismus wendet, einer solidarischen Haltung zum israelischen Staat zumindest nicht abgeneigt und bereit ist, den Antizionismus anderer Antirassisten kritisch unter die Lupe zu nehmen. Um die antihumanistische Substanz dieser Ideologie aufzusprengen, müsste sie über den Antirassismus hinausgehen, keinen kritischen Antirassismus formulieren (was vermutlich ihr Konzept ist), sondern eine Kritik des Antirassismus wagen.

5. Das „objektive Wissen“, die „Rassismuserfahrungen“ und die materialistische Kritik

Im letzten Teil ihres Textes setzt sich Lou Sander mit den „Rassismuserfahrungen“ der „People of Color und Migrant_innen“(31) auseinander und setzt diese ins Verhältnis zu Theorien über Rassismus, wie sie von – wie die Autorin hervorhebt, zumeist weißen – Theoretikern entwickelt werden. Ihre These: „weiße deutsche Linke mit gesellschaftskritischem Anspruch (können) empirische Evidenzen und theoretische Erkenntnisse der Rassismusforschung einfach ignorieren“, weil sie von ihnen „nicht betroffen“ seien. Das sei „ein Privileg“. Andere hätten „diese Wahl nicht“(32). Soweit, so gut.. oder so schlecht. Jedenfalls müssen die „empirischen Evidenzen“ gedeutet werden. LS schert sie aber schlichtweg über den antirassistischen Leisten. „Über (...) Othering als Analysekategorie wird sich“ eben nicht „nur lustig machen, wer selber vollständig christlich-biodeutsch aussieht“(33) (Wie sehen eigentlich Christen aus?). Der Kern des Otheringkonzepts besteht darin, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus zu Formen der Diskriminierung ‚des Anderen` zu erklären. Damit sind diese Ideologien jedoch nicht praktisch kritisiert, sondern vielmehr theoretisch nivelliert.
Es sei „priviligierte Ignoranz, andere Erfahrungswelten abfällig wegzuwischen und gesellschaftliche Verhältnisse ausschließlich anhand formal-abstrakter Kategorien wie den Wert erklärt wissen zu wollen“(34). Hier handelt es sich freilich um eine pure Unterstellung. Wer diese „Erfahrungswelten“ anders deutet als die ‚Betroffenen` selbst oder jene, die sich zu ihren Vertretern aufschwingen und behaupten, in ihrem Sinne zu sprechen, wird der Ignoranz bezichtigt. Eine zwar fiese, aber glücklicherweise recht durchsichtige Masche. Allein schon der Bezug dieser „Erfahrungswelten“ auf eine gesellschaftliche Totalität (wie sie im Begriff des Werts formuliert ist) fällt für LS unter „Ignoranz“. Das korrespondiert freilich der unkritischen, durch und durch affirmativen Weltsicht des Antirassismus, die als poststrukturalistische jede ‚große Erzählung` als Selbstgefälligkeit des arroganten Subjekts der Aufklärung diffamiert. Das ist, wie oben bereits festgestellt, nichts als die freiwillige Selbstzerstörung des Denkens.
Um ein „Privileg“ handelt es sich freilich allemal, wenn man in der Lage ist, gesellschaftliche Diskriminierung auf die Totalität dieser Gesellschaft zu beziehen. Soviel sei zugestanden. Aber was macht man mit Privilegien? Doch wohl sie nutzen? Um den Wert als Vermittlungsprinzip der kapitalistischen Gesellschaft zu kritisieren, sollte man sich mit Marx und Adorno beschäftigen. Das heißt: Abgesehen davon, dass man die Chance („das Privileg“!) gehabt haben muss, überhaupt lesen zu lernen, benötigt man dafür disponible Zeit, die weder dem Lebensunterhalt noch der Abwehr von Übergriffen gewidmet ist. Nicht nur sollte man in der philosophischen Diskussion des westlich-universalistischen Denkens geschult sein. Man sollte auch emotional offen sein für eigenes und fremdes Leid sowie bereit und fähig, auf dieses zu reflektieren. Dazu in der Lage zu sein, ist ohne Zweifel ein „Privileg“, ein „Privileg“, dass es, so man in seinen Genuss gekommen ist (und auch unter „Biodeutschen“ ist das äußerst selten), nach Kräften zu nutzen gilt. Opfern rassistischer Ausgrenzung ist herzlich wenig geholfen, einfach ihre Erfahrungen zur theoretischen Grundlage einer „Rassismusforschung“ zu erheben. Als globale Verlierer sind viele der von LS hofierten Marginalisierten (ebenso wie die Deutschen) prädisponiert, der Aufklärung und der Moderne die Feindschaft zu erklären. Das führt sie leider häufiger zu Israelhass und Antiamerikanismus als zu materialistischer Gesellschaftskritik. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sie sich nicht individuell über diese Prädisposition erheben könnten. Dazu wäre es aber nötig, dass sie individuell mit ihren kollektiven Zwangsgemeinschaften brechen und sich von deren ‚Erfahrungen` und ‚Betroffenheiten` emanzipieren, anstatt sich als ‚subalterne`, vom Westen geknechtete Minivolksgemeinschaften zu bestimmen. Sie müssten im Bündnis mit „weißen kritischen Theoretikern“ all die Butlers, Spivaks und Saids samt ihrem spätheideggerianischen Geraune von Othering, Differenzen und Dichotomien zum Teufel jagen. Wer sich jedoch als ‚subalternes` Opfer des Westens bestimmt, hat immer schon das antisemitische Ticket in der Tasche. Dies darzulegen ist keine Überheblichkeit eines weißen, westlichen und männlichen Theoretikers, sondern gehört zu den grundlegenden Einsichten kritischer Theorie nach Auschwitz.

Martin Dornis

Anmerkungen

(1) CEE IEH #176, S. 56 (http://www.conne-island.de/nf/176/26.html)

(2) Interventionen, Broschüre zur Kritik des Rassismus und Antisemitismus (nachfolgend kurz: Int.), S. 39 (http://interventionen.conne-island.de/)

(3) Horkheimer/ Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 2000, S. 13

(4) Sinngemäß nach Volker Wolttersdorf, Vortrag Conne Island Juli 2010, „Theorie und Bewegung – Queere Herrschaftskritik und politische Interventionen“

(5) CEE IEH #177, S. 43 (http://www.conne-island.de/nf/177/20.html)

(6) Ebd.

(7) Ebd.

(8) Ebd.

(9) Vgl. Robert Kurz, Tabula Rasa, in: Krisis 26, Bad Honnef 2003

(10) CEE IEH #177, S. 44

(11) Der gesellschaftliche Hintergrund dieses Zerfalls des Subjekts bestand in der Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals (der relativen Abnahme des in Arbeitskraft angelegten Teils des Kapitals im Vergleich zu dem in Maschinerie angelegten Anteil). Die Arbeit wird nicht mehr nur formal, sondern reell dem Kapital subsumiert: sie wird – mit Haut und Haaren - Kapital. Aber auch die Unternehmer verkommen zu bloßen Organisatoren und Verwaltern der Kapitalverwertung, zu puren Agenten des Werts (managers) und lösen die kreative Erfinderpersönlichkeit etwa eines Wernher von Siemens ab. Infolge der durch das unentwegte Kapitalwachstum erzeugten Tendenz zur Überproduktion (das Kapital kennt laut Marx keine Schranke als sich selbst, vgl. Karl Marx: Das Kapital – Band 3 [MEW 25], S. 260), wird viel mehr produziert, als das begrenzte Konsumtionsvermögen der Bevölkerung aufsaugen kann. Diese Entwicklungen sind gemeint, wenn im folgenden vom Zerfall des Subjekts sowie von der Irrationalisierung und Naturalisierung im Spätkapitalismus die Rede sein wird (vgl. Gerhard Stapelfeldt, Der Imperialismus, Band 1, S. 138ff).

l2 Vgl. Uli Krug: Ewiges Rätsel Auschwitz, in: Bahamas 25/1998 (http://www.redaktion-bahamas.org/auswahl/web13.html)

(13) Vgl. hierzu etwa: Mark Terkessides: Psychologie des Rassismus, Darmstadt (199)8; Michel Foucault: Sexualität und wahrheit Band 1, Der Wille zum Wissen, Frankfurt/ M. 1991, María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. transcript-Verlag 2005; Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Unrast Verlag 2003,

(14) CEE IEH #177, S.44

(15) Lou Sander führt uns dies explizit vor, wenn sie in ihrem Artikel unter Verweis auf die so genannte „kritische Weißheitsforschung“ gerade der Rassenzugehörigkeit von Individuen verstärkte Aufmerksamkeit zuwendet und es für erwähneswert hält, dass es vor allem Weiße wären, die sich mit Theorien über Rassismus beschäftigen. Dies nennt sie natürlich, verschleiernd und auf polical correctness bedacht, nicht so. So gibt es bei ihr zwar weiße Theoretiker und „People of Colour“ - aber von Rasse darf man dabei um keinen Preis reden, dann würde man ja stigmatisieren... Man darf das Kind halt nicht beim Namen nennen. So werden den Antirassisten jene, die von Rassen sprechen, zum Enfant terrible.

(16) Vgl. CEE IEH #176, S. 56

(17) CEE IEH #177, S. 46, Fußnote 19

(18) Vgl. Franz Neumann: Behemoth – Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, Frankfurt 1984

(19) „So wahr es ist, daß man den Antisemitismus nur aus unerer Gesellschaft heraus verstehen kann, so wahr scheint es mir zu werden, daß heute die Gesellschaft selbst nur durch den Antisemtismus richtig verstanden werden kann“ (Horkheimer in einem Brief am Harold Laski, zitiert nach: Sebastian Voigt: Essentials der Antisemitismuskritik, Interventionen, S. 7).

(20) Dazu Horkheimer: „Der Staatskapitalismus beseitigt aber den Markt und hypostasiert die Krise für die Dauer des ewigen Deutschland“ (Max Horkheimer, Autoritärer Staat, S. 43, Amsterdam 1968)

(21) Die Roma und Sinti bilden hier tatsächlich eine Ausnahme. Aber auch diese widerspricht nicht dem ausschließlich antisemitischen Charakter des nationalsozialistischen Staates und kann nicht dazu herhalten, das Wesen dieses Staates etwa als ‚antiziganistisch` zu bezeichnen.

(22) CEE IEH #177, S.43

(23) CEE IEH #177, S. 46

(24) CEE IEH #177, S. 48

(25) Interventionen (Int.), S. 35

(26) Int. S. 40

(27) Int., S. 36

(28) Wie fälschlicherweise Mark Terkessides annimmt: „Rassismus wirkt als ‚Dispositiv` im Foucaultschen Sinne, als Macht-Wissen-Komplex. Eine Untersuchung des Rassismus beschäftigt sich daher nicht mit der Feindlichkeit gegenüber ‚Fremden`, sondern mit einer praktischen Einheit von Wissen und Institutionen, die das Eigene und das Andere erst hervorbringt. Denn das Andere entsteht erst durch die Einbeziehung in das Eigene und das Eigene braucht das Andere für seine permanente Selbstbestätigung. Sie bilden eine komplizierte widersprüchliche Einheit“ (Terkessides: Psychologie des Rassismus, Opladen, 1998, S. 13) bzw.: „Durch den Ausschluß im Inneren der Institutionen werden bestimmte Bevölkerungssegmente als ‚Objekte` sichtbar – wie etwa Juden, ‚Zigeuner`, Schwarze, Migranten etc. Die Gesellschaft produziert ihre Anderen selbst“ (ebd. S. 12).

(29) Ohne Zweifel kolonisierten die Nazideutschen dabei auch, wie es sich an ihren Germanisierungsprojekten in Polen und der Sowjetunion sehr gut zeigen lässt. Aber spricht der Fakt, dass sie selber kolonisierten, gegen die These, dass sie sich selbst als antikolonialistisch begriffen? Begriffen sie nicht die Tatsache, dass sie selber keine Kolonien (mehr) hatten, als Ausdruck der Unterdrückung der Deutschen durch den Westen? Und: Hat das antikoloniale Selbstverständnis je eine „nationale Befreiungsbewegung“ von der Unterdrückung Anderer abgehalten?

(30) Vor diesem Hintergrund drückt die deutsche Kolonialisierung nicht die westliche Kolonialisierung in zugespitzter Form aus, sondern vielmehr die Kolonisierungswut der Antikolonialisten.

(31) CEE IEH #177, S. 48

(32) Ebd.

(33) Ebd.

(34) Ebd.

30.11.2010
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