• Titelbild
• Editorial
• das erste: Was die LVZ Sonntagabend vom Tatort lernen könnte...
• Fear and loathing im Moseltal
• Runes, Hang the Bastard, Coldburn
• 65daysofstatic
• Einen aufs Haus
• MODESELEKTION Vol. 1
• Shrinebuilder
• Pantéon Rococó
• Blood Red Shoes
• Trilingual Dance Sexperience
• dd/mm/yyyy, Women, Baths
• »You are stronger than you think«
• »Freunde im Groove«
• Casper
• Rise and Fall, Nails, Harms Way
• Winds of Plague u.a.
• Veranstaltungsanzeigen
• kulturreport: Campy Panzerluft und antisemitischer Kitsch
• ABC: G wie Gewalt
• review-corner film: Jud Süß Ein Film ohne Anspruch
• Linker Irrtum, schwerer Irrtum
• Konzentriertes Ressentiment
• Das ist doch alles nicht so einfach...
• doku: Oben bleiben. Weiter gehen.
• doku: Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie Scheiße ist Deutschland?
• Anzeigen
• das letzte: Viel Spaß für wenig Geld
An einem normalen Sonntagabend schauen wahrscheinlich mehr Menschen in
Deutschland die Tagesschau als an anderen Wochentagen, denn die
wenigsten wollen den Anfang des Tatorts verpassen, zumal die ungeheuer
raffiniert inszenierten ARD-Krimis ohne den Mord gesehen zu haben
natürlich nur schwer zu durchblicken sind. Und weil das Format des
Tatorts nicht nur die Spannung bedienen möchte bzw. zur Erholung
vom Wochenende beitragen will, wird regelmäßig eine sanfte
Portion Gesellschaftskritik mit in die Handlung eingestreut. Nicht selten
wird dabei das Klischee der wütenden Dorf- oder Stadtteilgemeinschaft
bedient, die sich im Glauben daran, dass das geschehene Übel in ihrer
Nachbarschaft nur von Fremdlingen verursacht sein kann, zu einer
Bürgerwehr zusammenschließt. Die vermeintlich braven Bürger und
Bürgerinnen sind sich oft darin einig, dass der Hermann von nebenan mit
Sicherheit kein Vergewaltiger und die Hannelore keine Mörderin oder kein
Feuerteufel ist. Folglich kommen nur Personen als Täter in Frage, die auf
Grund ihrer Herkunft nicht zum alteingesessenen Dorfkern gehören.
Bürgerwehren, das sehen wir selbst im Tatort, sind Ressentiment
geladen und meistens fremdenfeindlich, wenn nicht sogar rassistisch motiviert.
Und so fokussieren sich auch die Aktivitäten der Bürgerwehren im
sonntäglichen ARD-Abendprogramm meist auf neu Zugezogene oder auf
Mitglieder sozialer Randgruppen.
Tatort Volkmarsdorf
Was im Tatort anschaulich für jeden nachvollziehbar geschauspielert
wird, ist derzeit in Leipzigs Stadtteil Volkmarsdorf bittere Aktualität.
Dort drohen AnwohnerInnen nämlich eine Bürgerwehr gegen eine Gruppe
von Sinti und Roma zu gründen falls sie jene nicht schon
längst gebildet haben. In einem offenen Brief machen die Volkmarsdorfer
Dörfler Sinti und Roma für große Verschmutzungen,
belästigende Bettelei, Steine werfende Kinder und sonstige
Kriminalität (wie offenes Feuer) rund um die Lukaskirche verantwortlich.
Die Gründung einer Bürgerwehr gegen Sinti und Roma stellt für
die BewohnerInnen einen Weg dar, um ihrer extreme(n) Feindlichkeit gegen
die betreffende Minderheit(1) Ausdruck zu verleihen. Die BewohnerInnen, die ohne
tatsächliche Beweise (zumindest werden diese nicht benannt) alles
Übel ihres vernachlässigten Stadtteiles auf eine kleine Gruppe Sinti
und Roma projizieren, argumentieren mit einer erhöhten
Kriminalitätsrate in ihrem Stadtteil und sehen sich, da Stadt und Polizei
nicht einzugreifen scheinen, gezwungen die Ordnung im Stadtteil auf eigene
Faust wieder herzustellen wie im Tatort, nur eben in-vivo.
Antiziganistische Ressentiments halten sich seit Jahrhunderten und dienen auch
heute noch verängstigten AnwohnerInnen dazu das bettelnde Kind als Roma zu
identifizieren und den Sperrmüllhaufen auf dem Bürgersteig einer
Sinti vorzuwerfen. Ad absurdum wird das Ganze im Fall Volkmarsdorf durch
die Aussage der Polizei geführt, die sich im August zum Sachverhalt
äußerte und klar machte, dass in Volkmarsdorf weder die
Kriminalitätsrate besonders hoch noch die verübten Straftaten an
einer Gruppe Sinti und Roma fest zu machen seien. Warum die AnwohnerInnen im
Leipziger Osten dennoch so sicher sind, es handele sich bei den Verursachern
von Sachschäden und kleineren Diebstählen um ausgerechnet die
Minderheit der Sinti und Roma in diesem Stadtviertel, konnte bis dato nicht
geklärt werden, dürfte aber ganz einfach in ihrem
kleinbürgerlichen Ressentiments gegenüber Sinti und Roma zu suchen
und zu finden sein.
Die Leipziger Volkszeitung (LVZ) reagierte Ende August auf den offenen
Brief der AnwohnerInnen mit einem Artikel, dessen Bände sprechender
Untertitel Zoff um Sinti und Roma in Volkmarsdorf die
Meinung vorzugeben scheint. Zwar wird in der Zeitungsausgabe Quartiersmanager(2)
Schirmer zitiert, der pauschale Schuldzuweisungen an bestimmte Gruppen
zurückweist, doch bleibt die Tatsache bestehen, dass die LVZ nicht
in der Lage ist, den offenen Brief zu kritisieren und das Bilden einer
Bürgerwehr in Frage zustellen, letzteres bekommen sogar Tatortplaner hin.
Es erscheint der LVZ eine gerechtfertigte und diskutierbare Forderung
der AnwohnerInnen zu sein, eine in Selbstjustiz handelnde Bürgerwehr
gründen zu wollen, welche auf vorurteilbehaftetem Handeln und Agieren
gegen eine Minderheit basiert und mit Sicherheit nicht die angesprochenen
Probleme des Viertels lösen würde, falls diese überhaupt real
sind. Zum wiederholten Mal beweist die Bürgerzeitung LVZ eine
unreflektierte Meinungswiedergabe, welche keinerlei Versuch unternimmt, Kritik
klar zu formulieren und das Problem in Volkmarsdorf beim Namen zu nennen:
Vorurteile gegenüber Sinti und Roma. Antiziganismus! Vor dem Hintergrund
der aktuellen antiziganistischen Stimmung in ganz Europa, besonders in
Frankreich, Italien und Osteuropa, stellt sich die Frage, wie eine große,
regionale Tageszeitung eine solche Drohung von AnwohnerInnen, die sich auf
jahrhundertealte Ressentiments stützt, unkritisch stehen lassen kann. Im
besten Falle könnte man den verantwortlichen MitarbeiternInnen der
LVZ unterstellen, dass diese die europäische Politik nicht verfolgen
würden, Sarkozy nicht kennen und das Wort Antiziganismus nachschlagen
müssen. Aber etwas mehr Kenntnis über den schwellenden Hass
gegenüber Sinti oder Roma können wir doch von studierten
JournalistInnen erwarten. Dieser muss sich eben nicht immer in
Brandsätzen, Knüppeln und direkter Gewalt manifestieren, sondern lebt
ebenso von Ressentiments wie dem der klauenden und dreckigen
Zigeunerbande, welche die Volkmarsdörfer Bürger in ihrem
Viertel vermuten.
Schluss mit der Mythologie
Was die LVZ nicht registriert zu haben scheint, ist z.B. die
gegenwärtige französische Abschiebepolitik, die sich in der
Ausweisung von Teilen der Roma-Gemeinde aus Frankreich niederschlägt. Das
Vorgehen Frankreichs wird in Deutschland und auf europäischer Ebene durch
prominente und hochrangige Stimmen zwar kritisiert, angesprochen werden dabei
aber immer nur offene Diskriminierungen (wie eben Abschiebung). Für
staatlichen und systematischen Antiziganismus scheint die Zeit in Deutschland
entgegen seinen Nachbarstaaten nicht mehr oder noch nicht reif zu
sein, auf gesellschaftlicher Ebene aber bleiben mindestens die romantisierenden
und rassistischen Zigeunerbilder in den Köpfen eingebrannt und
werden scheinbar von Generation zu Generation weiter gegeben. In Niedersachsen
ging kürzlich eine ganze Dorfbevölkerung noch von einem alten Brauch
aus, nach welchem Besen in den Türrahmen und Scheren unter der
Fußmatte die Zigeuner im Dorf wieder vertreiben bzw. das mit ihnen
kommende Unheil nicht in die Häuser kommen lassen würden. Im
sächsischen Klingenhain wurde vergangenen Dezember das Wohnhaus einer
Sinti-Familie angezündet, was nur eines von vielen Beispielen
gewalttätiger Übergriffe auf Sinti oder Roma ist. Kritik an
kleinbürgerlichen, antiziganistischen Ressentiments bleibt
überregional aus, genauso wie die Anteilnahme für eine Familie, deren
Haus niedergebrannt wurde, obwohl, so könnte man meinen, genau bei solchen
krassen Geschehnissen Antiziganismus mit all seinen Facetten greifbar und vor
allem angreifbar wäre. Genauso einfach ließe sich die Situation in
Volkmarsdorf angreifen und kritisieren, doch warten wir vergeblich auf eine
öffentliche Kritik durch Leipziger Medien(3) an Bürgerwehren und deren
ressentimentgeladenen Vorgehensweisen.
Werfen wir den Blick zurück auf den Tatort, der ja bekanntlich
für viele gesellschaftliche Probleme Lösungen bereithält. Und
siehe da, dort bekommt die Bürgerwehr gegen 21:40 Uhr ihr Fett weg, denn
was der Tatort mit jeder Folge, in der sich Bürgerwehren
gründen, zeigt, ist: Schaut her, der Dieb und Mörder kommt aus euren
Reihen! Ob es den Volkmarsdorfern und LVZ-Reportern wohl helfen
würde, mehr Tatort zu schauen? Vielleicht. Mit Sicherheit aber
würden die Tatort-Planer gut daran tun, nicht nur Bürgerwehren
als krude zu entlarven, sondern auch klassische (und positive) Klischees
von Sinti und Roma. Solange im Tatort Bilder von fiedelnden, besonders
musikalischen und immer leicht dreckigen Zigeunerkindern gezeichnet
werden, die zwar nicht die Haupttäter sind aber dennoch klauen und
hausieren gehen, werden wohl auch die Volkmarsdofer Bürger an ihrem Bild
vom Zigeuner festhalten. Und solange die LVZ nicht in der Lage
ist, antiziganistische Stereotypen zu erkennen und zu kritisieren, werden wir
das wohl machen müssen.
Charl Ote und Bruno