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Aktuelles Heft

INHALT #181

Titelbild
Editorial
• das erste: Was die LVZ Sonntagabend vom Tatort lernen könnte...
Fear and loathing im Moseltal
Runes, Hang the Bastard, Coldburn
65daysofstatic
Einen aufs Haus
MODESELEKTION Vol. 1
Shrinebuilder
Pantéon Rococó
Blood Red Shoes
„Trilingual Dance Sexperience“
dd/mm/yyyy, Women, Baths
»You are stronger than you think«
»Freunde im Groove«
Casper
Rise and Fall, Nails, Harms Way
Winds of Plague u.a.
Veranstaltungsanzeigen
• kulturreport: Campy Panzerluft und antisemitischer Kitsch
• ABC: G wie Gewalt
• review-corner film: Jud Süß – Ein Film ohne Anspruch
Linker Irrtum, schwerer Irrtum
Konzentriertes Ressentiment
Das ist doch alles nicht so einfach...
• doku: Oben bleiben. Weiter gehen.
• doku: Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie Scheiße ist Deutschland?
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• das letzte: Viel Spaß für wenig Geld

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Was die LVZ Sonntagabend
vom Tatort lernen könnte...

An einem normalen Sonntagabend schauen wahrscheinlich mehr Menschen in Deutschland die Tagesschau als an anderen Wochentagen, denn die wenigsten wollen den Anfang des Tatorts verpassen, zumal die ungeheuer raffiniert inszenierten ARD-Krimis ohne den Mord gesehen zu haben natürlich nur schwer zu durchblicken sind. Und weil das Format des Tatorts nicht nur die Spannung bedienen möchte bzw. zur Erholung vom Wochenende beitragen will, wird regelmäßig eine sanfte Portion Gesellschaftskritik mit in die Handlung eingestreut. Nicht selten wird dabei das Klischee der wütenden Dorf- oder Stadtteilgemeinschaft bedient, die sich im Glauben daran, dass das geschehene Übel in ihrer Nachbarschaft nur von Fremdlingen verursacht sein kann, zu einer Bürgerwehr zusammenschließt. Die vermeintlich braven Bürger und Bürgerinnen sind sich oft darin einig, dass der Hermann von nebenan mit Sicherheit kein Vergewaltiger und die Hannelore keine Mörderin oder kein Feuerteufel ist. Folglich kommen nur Personen als Täter in Frage, die auf Grund ihrer Herkunft nicht zum alteingesessenen Dorfkern gehören. Bürgerwehren, das sehen wir selbst im Tatort, sind Ressentiment geladen und meistens fremdenfeindlich, wenn nicht sogar rassistisch motiviert. Und so fokussieren sich auch die Aktivitäten der Bürgerwehren im sonntäglichen ARD-Abendprogramm meist auf neu Zugezogene oder auf Mitglieder sozialer Randgruppen.

Tatort Volkmarsdorf

Was im Tatort anschaulich für jeden nachvollziehbar geschauspielert wird, ist derzeit in Leipzigs Stadtteil Volkmarsdorf bittere Aktualität. Dort drohen AnwohnerInnen nämlich eine Bürgerwehr gegen eine Gruppe von Sinti und Roma zu gründen – falls sie jene nicht schon längst gebildet haben. In einem offenen Brief machen die Volkmarsdorfer Dörfler Sinti und Roma für große Verschmutzungen, belästigende Bettelei, Steine werfende Kinder und sonstige Kriminalität (wie offenes Feuer) rund um die Lukaskirche verantwortlich. Die Gründung einer Bürgerwehr gegen Sinti und Roma stellt für die BewohnerInnen einen Weg dar, um ihrer „extreme(n) Feindlichkeit gegen die betreffende Minderheit“(1) Ausdruck zu verleihen. Die BewohnerInnen, die ohne tatsächliche Beweise (zumindest werden diese nicht benannt) alles Übel ihres vernachlässigten Stadtteiles auf eine kleine Gruppe Sinti und Roma projizieren, argumentieren mit einer erhöhten Kriminalitätsrate in ihrem Stadtteil und sehen sich, da Stadt und Polizei nicht einzugreifen scheinen, gezwungen die Ordnung im Stadtteil auf eigene Faust wieder herzustellen – wie im Tatort, nur eben in-vivo. Antiziganistische Ressentiments halten sich seit Jahrhunderten und dienen auch heute noch verängstigten AnwohnerInnen dazu das bettelnde Kind als Roma zu identifizieren und den Sperrmüllhaufen auf dem Bürgersteig einer Sinti vorzuwerfen. Ad absurdum wird das Ganze im Fall Volkmarsdorf durch die Aussage der Polizei geführt, die sich im August zum Sachverhalt äußerte und klar machte, dass in Volkmarsdorf weder die Kriminalitätsrate besonders hoch noch die verübten Straftaten an einer Gruppe Sinti und Roma fest zu machen seien. Warum die AnwohnerInnen im Leipziger Osten dennoch so sicher sind, es handele sich bei den Verursachern von Sachschäden und kleineren Diebstählen um ausgerechnet die Minderheit der Sinti und Roma in diesem Stadtviertel, konnte bis dato nicht geklärt werden, dürfte aber ganz einfach in ihrem kleinbürgerlichen Ressentiments gegenüber Sinti und Roma zu suchen und zu finden sein.
Die Leipziger Volkszeitung (LVZ) reagierte Ende August auf den offenen Brief der AnwohnerInnen mit einem Artikel, dessen Bände sprechender Untertitel – „Zoff um Sinti und Roma in Volkmarsdorf“ – die Meinung vorzugeben scheint. Zwar wird in der Zeitungsausgabe Quartiersmanager(2) Schirmer zitiert, der pauschale Schuldzuweisungen an bestimmte Gruppen zurückweist, doch bleibt die Tatsache bestehen, dass die LVZ nicht in der Lage ist, den offenen Brief zu kritisieren und das Bilden einer Bürgerwehr in Frage zustellen, letzteres bekommen sogar Tatortplaner hin. Es erscheint der LVZ eine gerechtfertigte und diskutierbare Forderung der AnwohnerInnen zu sein, eine in Selbstjustiz handelnde Bürgerwehr gründen zu wollen, welche auf vorurteilbehaftetem Handeln und Agieren gegen eine Minderheit basiert und mit Sicherheit nicht die angesprochenen Probleme des Viertels lösen würde, falls diese überhaupt real sind. Zum wiederholten Mal beweist die Bürgerzeitung LVZ eine unreflektierte Meinungswiedergabe, welche keinerlei Versuch unternimmt, Kritik klar zu formulieren und das Problem in Volkmarsdorf beim Namen zu nennen: Vorurteile gegenüber Sinti und Roma. Antiziganismus! Vor dem Hintergrund der aktuellen antiziganistischen Stimmung in ganz Europa, besonders in Frankreich, Italien und Osteuropa, stellt sich die Frage, wie eine große, regionale Tageszeitung eine solche Drohung von AnwohnerInnen, die sich auf jahrhundertealte Ressentiments stützt, unkritisch stehen lassen kann. Im besten Falle könnte man den verantwortlichen MitarbeiternInnen der LVZ unterstellen, dass diese die europäische Politik nicht verfolgen würden, Sarkozy nicht kennen und das Wort Antiziganismus nachschlagen müssen. Aber etwas mehr Kenntnis über den schwellenden Hass gegenüber Sinti oder Roma können wir doch von studierten JournalistInnen erwarten. Dieser muss sich eben nicht immer in Brandsätzen, Knüppeln und direkter Gewalt manifestieren, sondern lebt ebenso von Ressentiments wie dem der klauenden und dreckigen „Zigeunerbande“, welche die Volkmarsdörfer Bürger in ihrem Viertel vermuten.

Schluss mit der Mythologie

Was die LVZ nicht registriert zu haben scheint, ist z.B. die gegenwärtige französische Abschiebepolitik, die sich in der Ausweisung von Teilen der Roma-Gemeinde aus Frankreich niederschlägt. Das Vorgehen Frankreichs wird in Deutschland und auf europäischer Ebene durch prominente und hochrangige Stimmen zwar kritisiert, angesprochen werden dabei aber immer nur offene Diskriminierungen (wie eben Abschiebung). Für staatlichen und systematischen Antiziganismus scheint die Zeit in Deutschland – entgegen seinen Nachbarstaaten – nicht mehr oder noch nicht reif zu sein, auf gesellschaftlicher Ebene aber bleiben mindestens die romantisierenden und rassistischen „Zigeunerbilder“ in den Köpfen eingebrannt und werden scheinbar von Generation zu Generation weiter gegeben. In Niedersachsen ging kürzlich eine ganze Dorfbevölkerung noch von einem alten Brauch aus, nach welchem Besen in den Türrahmen und Scheren unter der Fußmatte die „Zigeuner“ im Dorf wieder vertreiben bzw. das mit ihnen kommende Unheil nicht in die Häuser kommen lassen würden. Im sächsischen Klingenhain wurde vergangenen Dezember das Wohnhaus einer Sinti-Familie angezündet, was nur eines von vielen Beispielen gewalttätiger Übergriffe auf Sinti oder Roma ist. Kritik an kleinbürgerlichen, antiziganistischen Ressentiments bleibt überregional aus, genauso wie die Anteilnahme für eine Familie, deren Haus niedergebrannt wurde, obwohl, so könnte man meinen, genau bei solchen krassen Geschehnissen Antiziganismus mit all seinen Facetten greifbar und vor allem angreifbar wäre. Genauso einfach ließe sich die Situation in Volkmarsdorf angreifen und kritisieren, doch warten wir vergeblich auf eine öffentliche Kritik durch Leipziger Medien(3) an Bürgerwehren und deren ressentimentgeladenen Vorgehensweisen.
Werfen wir den Blick zurück auf den Tatort, der ja bekanntlich für viele gesellschaftliche Probleme Lösungen bereithält. Und siehe da, dort bekommt die Bürgerwehr gegen 21:40 Uhr ihr Fett weg, denn was der Tatort mit jeder Folge, in der sich Bürgerwehren gründen, zeigt, ist: Schaut her, der Dieb und Mörder kommt aus euren Reihen! Ob es den Volkmarsdorfern und LVZ-Reportern wohl helfen würde, mehr Tatort zu schauen? Vielleicht. Mit Sicherheit aber würden die Tatort-Planer gut daran tun, nicht nur Bürgerwehren als krude zu entlarven, sondern auch klassische (und „positive“) Klischees von Sinti und Roma. Solange im Tatort Bilder von fiedelnden, besonders musikalischen und immer leicht dreckigen „Zigeunerkindern“ gezeichnet werden, die zwar nicht die Haupttäter sind aber dennoch klauen und hausieren gehen, werden wohl auch die Volkmarsdofer Bürger an ihrem Bild vom „Zigeuner“ festhalten. Und solange die LVZ nicht in der Lage ist, antiziganistische Stereotypen zu erkennen und zu kritisieren, werden wir das wohl machen müssen.

Charl Ote und Bruno

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Anmerkungen

(1) Siehe LVZ-Artikel vom 27.08.2010: „Extreme Feindlichkeit – Zoff um Sinti und Roma in Volkmarsdorf: Stadt und Polizei reagieren auf Anwohnerbeschwerden“

(2) Das Quatiersmanagement ist ein Projekt der Stadt Leipzig mit Ko- Finanzierung aus dem Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“. Man könnte auch Stadteilteilplanung dazu sagen.

(3) Radio Mephisto ausgenommen. Denn der Sender berichtete online durchaus mit kritischer Stimme über den Fall Volkmarsdorf.

25.10.2010
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