• Titelbild
• Editorial
• das erste: Das Deutschland der Sarraziner schafft sich ab so what?!
• Island Deluxe
• Option paralysis
• Mouse on the Keys /live
• »Messing with your emotion«
• Hell on Earth Tour
• Mice Parade, Laetitia Sadier, Silje Nes
• electric island fall edition
• Samiam, The Casting Out
• Austin Lucas, Drag the River, Cory Branan.
• DOOM-Europe Tour 2010
•
• Hellnights 2010
• Stomper 98, Volxsturm, HardxTimes
• Far From Finished
• Lesung: Was kostet die Welt
• Tocotronic
• Veranstaltungsanzeigen
• »Das Ende des Kommunismus«
• review-corner buch: Abwarten? Nein Danke!
• doku: Solidarität mit Israel!
• doku: Leipzig / 16. Oktober / Call For Action
• doku: Der destruktive Charakter
• doku: Kapitalismus als Religion
• leserInnenbrief: Brief an die Leser_innen
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• das letzte: Stuttgart 21 Widerstand wird zum demokratischen Fanal!
Kleines Gedankenexperiment: Die beleidigte Leberwurst Thilo Sarrazin, der immer
wieder mit Talkshoweinladungen für seine verbalen Entgleisungen
über die genetischen, regionalen und nationalen Eigenheiten der
Völker belohnt wurde und sich dadurch erst so richtig in Szene setzen
konnte, will seiner anfänglichen Abwehrgebaren zum Trotz doch noch
nachdem er geräuschvoll von Bundespräsident Wulff von seiner
Tätigkeit im Bundesbankvorstand entbunden wurde und aus der
Mehrheitspartei SPD ausgetreten ist eine neue Partei gründen. Mit
ihr wird er bei den nächsten Wahlen unter dem Namen Die
Sarrazin-Partei oder Die, die hinter Sarrazin stehen antreten. Und wird
prompt in den Bundestag gewählt. Seine Wähler wären laut einer
Emnid-Umfrage 16 Millionen Deutsche(1), und es würden mehr, so des
Parteigründers grobe Schätzungen. Im Schätzen ist er nicht so
gut, dafür kennt er sich und die anderen Deutschen umso besser, denn er
weiß ganz instinktiv, was sie denken und fühlen. Wenn sie schon
jemanden wählen sollen, dann nicht etwa ihn als SPD-Mitglied, dafür
aber den medial wahrgenommenen Provokateur. Denn der hat mit seiner
Meinung (hier nur ein anderer Begriff für seine als Thesen
wahrgenommenen Äußerungen) die Deutschen erreicht (Vgl. LVZ vom
6.9.2010, S. 3). Und erfolgreich könnte er damit sein, weil er die Zeichen
der Zeit erkannt zu haben scheint und die öffentliche Meinung sehr gut
einzuschätzen weiß, die sich da zusammengebraut hat: Bei seiner
derzeitigen Anhängerschaft handelt es sich um ein heterogenes, reaktives
und explosives Gemisch aus krisengeschüttelten Hartz-4lern,
verängstigten Kleinbürgern, antikapitalistischen Mediengegnern,
Volksverdummungsgegnern, missverstandenen Gutmenschen, antihumanistischen
Sozialdarwinisten, Revisionisten, Wahlverweigerern und sonstigen Demokratie-,
Ausländer- und Judenfeinden. All jene sehen sich durch die etablierte
Parteienlandschaft in keiner oder nur unzureichender Weise repräsentiert,
sei es aus legalen Gründen, weil das, was sie denken und letztlich wollen,
gegen die offiziellen Volksparteisatzungen verstößt, sei es, weil
bestimmte Rand-Parteien geschichtlich vorbelastet sind. Mit der Last der
Vergangenheit auf den Schultern lässt sich hierzulande schwerlich mehr ein
Wahlkampf gewinnen. Die Wähler Sarrazins meinen schlauer zu sein, und
umgehen bewusst oder unbewusst, indem sie sich gerade vom Vorwurf der
belasteten Vergangenheit freisprechen wollen, den gewohnten Aufruhr. Wenn bspw.
die NPD die beinahe aufgrund ihrer programmatischen Inhalte verboten
worden wäre; was aber nicht geschah, weil zu viele nachrichtendienstliche
Agenten in den hohen Ämtern mitgewirkt hatten so viele Stimmen
erhalten würde, dann wäre das Ansehen Deutschlands ja auch ganz
schnell dahin und Einbußen in der Wirtschaft aufgrund mangelnder
ausländischer Investitionen möchte man tunlichst vermeiden.(2) Das
wäre einfach zu offensichtlich. Die Wähler Sarrazins wollen daher
selbst eine Partei werden, die aus dem deutschen Boden gestampft wurde und um
all die Probleme der eigentlichen Identitätsfindung weiß, die sich
für die Deutschen nach der Erfahrung zweier Weltkriege,
besatzungsbedingter Aufteilung, der Wiedervereinigung etc. pp. ergeben haben.
Und die Partei könnte geführt werden von jemanden wie Sarrazin, der,
im Gegensatz zu Norman Paech von der Mavi Marmara, ein wenig besser
reden kann, ein schlechtes Buch mit Halbwahrheiten in exorbitanter
Rekordhöhe verkauft und der im gequirlten Jargon etwa folgende Forderungen
aufstellt:
Alle sollen uneingeschränkt die Meinungsfreiheit ausüben dürfen
(Man wird ja mal sagen dürfen, dass
!); es soll eine Debatte
über die von den Politikern vernachlässigten
Integrationsprobleme angestoßen werden, weil es eine
Überfremdung durch Islamisierung gebe, diesmal aber mit wirklichen
Lösungsansätzen (Nicht wir müssen uns den Ausländern
anpassen, sondern sie sich uns!); Aufhaltung des Fäulnisprozesses der an
sich gesunden Wurzel der nationalen Eiche, damit sie in Zukunft wieder
ungestört wachsen kann. Dazu muss es weitere pseudowissenschaftliche
Forschungen über türkische Migranten, Juden und andere Volksgruppen
geben, um endlich mal die von den Sarrazinschen Modellrechnungen
untermauerten Tatsachen auf den Tisch zu legen denn Temperament,
Mentalität, Intelligenz der Menschen seien ja genetisch bedingt;
Ausarbeitung einer Geschichtsschreibung, die sich weltweit sehen lassen kann.
Diese Forderungen werden noch mit einer Portion Populismus und erhobenem
Zeigefinger vor einer begeisterten Öffentlichkeit vorgetragen und fertig
ist der Lack. Mit einer neuen Partei, deren Interessenlage diese und andere
Forderungen vertritt, könnte sich ein Prozess in Gang setzen, der die
Mehrheitsparteien zumindest in die unbequeme Lage bringt, sich mit ihr in einer
Koalition zu arrangieren. Aber glücklicherweise ist an dieser Stelle das
gedankliche Experiment auch schon zu Ende.
Dennoch sollten jene Tendenzen in der deutschen Demokratie, die sich in den
derzeitigen Umfragen ablesen lassen, ernst genommen und nicht leichtfertig mit
ihnen umgegangen werden, denn sie steht wieder einmal auf dem Prüfstand.
Deutsch plus Demokratie gleich deutsche Demokratie
Offensichtlich haben 1/5 aller verzweifelten und harmoniedurstigen Deutschen
mit ihrem Sprachrohr Sarrazin versucht, ein politisch irgendwie artikuliertes
Interesse zum Ausdruck zu bringen, und das hat die Gemüter erregt. Deshalb
gibt es nun nicht mehr nur eine Debatte über die Integrationspolitik,
sondern auch über Sarrazin selbst und den Umgang mit ihm. Das allerdings
kann Auskunft geben über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft.
Was für Tendenzen können sich an diesen zwanzig Prozent-Deutschen im
Besonderen und der Demokratie im Allgemeinen ablesen lassen?
1. Meinungsfreiheit für alle?
Die Sarraziner wollen alles sagen dürfen, was ihnen derzeit verboten ist
oder was von den Politikern und Medien da oben unter den Teppich gekehrt
wird. Sie wollen sich nichts mehr vormachen lassen, sondern selbst Politik und
Wirtschaft in die Hand nehmen, Demokratie direkter ausüben etc. Was die
Wähler einer potentiellen Sarrazin-Partei nicht einsehen wollen und
verstehen können, weil sie die deutsche Vergangenheit samt ihren Ursachen
und Auswirkungen verdrängt haben, und sie in ihnen deshalb mehr oder
weniger bewusst weiter waltet, ist die Begründung für die
Einschränkung der Meinungsfreiheit: denn antidemokratische,
sozialdarwinistische, rassistische, antisemitische kurz: volksverhetzende und
verfassungsfeindliche Äußerungen reihen sich ein in die Tradition
Nazideutschlands und stehen deshalb in der post-nationalsozialistischen BRD
unter Strafe. Dadurch wird für die nachfolgenden Generationen
notwendigerweise der krisenförmige Umschlag in die deutsche Barbarei
dokumentiert, denn die Frage, warum bestimmte Äußerungen verboten
sind, wird weiterhin gestellt werden. Der Unterschied, warum in der Demokratie
der USA eine NSDAP-AO existieren kann, deren uniformierte Mitglieder mit
Hakenkreuzfahnen und Hitlerbild ganz legal gegen Juden und Schwarze auf den
Straßen demonstrieren dürfen, das also ausüben können, was
in Deutschland verboten ist, ist einer ums Ganze: Meinungsfreiheit hat
hierzulande ihre staatlich gesetzten, weil historisch bedingten Grenzen da, wo
eine Meinung 1.) die nationalsozialistische Gewalt- und
Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt (§
130 Abs. 4 StGB) oder sich 2.) zu einer politischen Ideologie
verselbstständigt, die, wenn sie, wie die Erfahrung der Weimarer Republik
gezeigt hat, von einer breiten Massen getragen wird, zu einer Krise des Staates
führen kann. Im Falle der USA sind die Nationalsozialisten in der
Gesellschaft dermaßen marginalisiert, dass ein Umsturz der Demokratie
durch sie undenkbar ist, sie gehen im Prinzip des Pluralismus unter.(3) In
Deutschland aber ist man, wie Horst Krüger in seinem Buch Das
zerbrochene Haus recht gut dargestellt hat, dem Politischen gegenüber
traditionell eher indifferent eingestellt, und biedert sich den jeweiligen
Machtverhältnissen an. Um daher die weit reichenden Konsequenzen aus der
legalen Übergabe der Macht durch Hindenburg an Hitler ins geschichtliche
Bewusstsein aufzunehmen, wurde in Deutschland u. a. eine strafrechtliche
Einschränkung der Meinungsfreiheit beschlossen sowie eine 5%
Wahlhürde eingerichtet. Diese innenpolitischen Sanktionen sollten von nun
an verhindern, eine vom Volk legalisierte Partei könne sich wieder
daran machen, demokratisches Recht in anti-demokratisches umzumünzen.
Wollen Sarrazins Anhänger tatsächlich eine Partei mit oder ohne ihn
gründen, die die 5% Hürde überspringen würde, dann
hätten sie zwar verstanden, wie sie demokratisch ihre Überzeugungen
politisch einbringen können, aber gleichzeitig würden die
geschichtlichen Fundamente des Grundgesetzes erschüttert werden, da es
nicht mehr um eine kleine Partei wie bspw. die NPD ginge, sondern um eine mit
großem Wählerpotential. Das heißt zum Glück nicht, davon
auszugehen, ein Viertes Reich könne abermals versuchen, die
Weltherrschaft an sich zu reißen, schon aus militärischer Sicht ist
das Land einfach zu unbedeutend. Aber was im Kleinen in Deutschland passiert,
gibt es auch im Großen auf der politischen Weltbühne. Insofern
könnte der Umgang mit dem iranischen Präsidenten Achmadinejad, als
dieser eine Holocaust-Leugner-Konferenz initiierte, Indikator dafür sein,
wie sich weltweit geschichtliches Bewusstsein aufzulösen beginnt.(4)
2. Einwanderung und Integration
Die besagten zwanzig-Prozent-Deutschen haben zumindest teilweise erkannt,
wollen es aber noch immer nicht wahrhaben, dass Deutschland realiter ein
Einwanderungsland ist, das sich mit den Forderungen an und Förderungen von
Migranten (und den nachfolgenden Generationen) auseinandersetzen muss. Sarrazin
findet breite Unterstützung, weil er einen schon vorhandenen Unmut der
angestammten Deutschen gegen die Migranten und die herrschende
Integrationspolitik radikalisiert. Der dumme Ausländer liege
genetisch bedingt dem Steuerzahler auf der Tasche. Letzterer darf sich
dem unproduktivem Ausländer gegenüber erhaben fühlen.
Hier hat der Wähler zwar nicht verstanden, wodurch die Demokratie
überhaupt existieren kann, nämlich durch das Aufrechterhalten des
allgemein vergesellschaftenden Prinzips der kapitalistischen Produktionsweise,
die wesentlich darauf basiert, dass sich die vereinzelten Warenmonaden als
gleiche Staatsbürger anerkennen und als Privatbürger mit den
Ellenbogen zum Weitermachen antreiben, aus Angst vorm wirtschaftlichen Absturz
und vor sozialer Ächtung. Er ahnt aber zugleich, dass er alles daran
setzen muss, damit sich seine Arbeitskraft nicht verbillige durch ein
Überangebot von billigeren Arbeitskräften. Dies kann er aus einer
rassistischen Motivation heraus tun, aber auch aus einer nicht-rassistischen.(5)
Das Bedürfnis danach, sich nach unten hin abzugrenzen, gehört
zum Kapitalismus wie der Pfirsichkern zum Pfirsich, weil durch sein Prinzip,
wie Marx schreibt, notwendig eine industrielle Reservearmee entstehen muss.
Andererseits geht es Sarrazin um einen interkulturellen Dialog, der aus seiner
Sicht wahrscheinlich nur geführt werden kann (wenn auch nicht auf gleicher
Augenhöhe), wenn man sich bis aufs letzte Gen verstanden hat. Gerade
Sarrazin sitzt nicht dem Islamophobiebegriff auf, denn er möchte
eine Elite, und die kann von überall herkommen, auch aus dem muslimisch
geprägten Ausland. Dieses Changieren zwischen deutsch dominierten
Herrenmenschentum und relativistischer Kulturapotheose hat ein Ziel: die
Deutschen in ihrer Uneinigkeit zu einen, um der deutschen Zukunft willen. Es
scheint beides trotz der Gegensätzlichkeit zusammenzupassen, deshalb
kommen seine Wähler aus beiden Lagern. Zudem spricht es Nichtwähler
an, die sich für keines der beiden Konzepte so richtig begeistern,
aber in ihrer Mischung unterstützen können. Interessanterweise
fällt in diesen Auseinandersetzungen um Integration etc. die
antiziganistische Stimmung in Europa (die ein Wiederaufleben der Vergangenheit
drastisch anzeigt) derzeit nicht so sehr ins Gewicht, obwohl doch gerade an den
Roma vollstreckt wird, was sich viele einheimische Arbeitswillige in Europa
derzeit insgeheim wünschen: deren Abschiebung um jeden Preis.
3. 9/11 und Islam
Nach dem wohl erschütternsten Ereignis des 21. Jahrhunderts, den
Terroranschlägen auf das World Trade Center vor neun Jahren, ist es bis
heute fraglich, welche Einstellung sich zum Islam schließlich in
Deutschland (und im Rest der nicht-muslimischen Welt) durchsetzen wird:
Kulturrelativismus oder Ethnorassismus. Sollte es tatsächlich ein
Konglomerat aus beiden sein, würde das auf wundersame Weise mit dem von
Islamisten geprägten Kampfbegriff Islamophobie zusammengehen, denn
diese sehen den missionierenden Islam in seiner Ursprünglichkeit bedroht,
wollen die Bevölkerungen durch ihre Aktionen in Angst versetzen,
während sie diese Angst als fiktive delegitimieren.6 Der Begriff aber hat
sich schon so sehr in der öffentlichen Meinung etabliert, dass selbst
Kanzlerin Merkel vom Zentralrat der Muslime einer interkulturellen
Inkompetenz bezichtigt werden konnte, als sie im europäischen Rahmen den
dänischen Karikaturisten Westergaards mit einem Preis ehrte und ihn
verteidigte, weil er sein Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit so mutig
vertritt. Ohne allerdings den geringsten Widerstand seitens der
Bevölkerung oder anderer Politiker hervorzurufen wahrscheinlich aus
Angst davor, als islamophob zu gelten. Nur solange die Demokratie in
Deutschland diesen reaktionären Zuständen eine falsche Toleranz
entgegenbringt, können diese auch gedeihen. Insofern ist den zurzeit
stattfindenden Debatten ganz wesentlich dahingehend beizupflichten, zu
thematisieren und zu verhindern, dass es in Deutschland zu ähnlichen
Zuständen wie bspw. in den französischen Banlieues kommt. Und es muss
zudem eine sachliche Kritik am Islam formuliert werden (so ein Lager lässt
sich bisweilen nur sehr vereinzelt wahrnehmen), die auf die fehlende
Reformierung, Modernisierung und Säkularisierung ebenso verweist wie auf
die gegen sie gerichteten reaktionären Widerstände.(7) Ist Islam nur
das, was der Zentralrat der Muslime darunter versteht (und jene, die bei
jedweder Kritik an ihm auf Islamophobie verweisen), dann ist es um seine
Kompatibilität mit Demokratie schlecht bestellt.
Tendenziell scheinen Teile der Deutschen eine widerspruchsfreie Identität
herstellen zu wollen, indem sie die kulturrelativistische
Völkerfreundschaft soweit treiben, dass sie nicht nur die Kulturen anderer
anerkennen, loben und verteidigen, sondern letztlich auch die ausschalten
wollen, die sie als Kultur zersetzend ansehen. Damit verweist der Umgang
mit dem Islam in Deutschland auf ein Problem, das sich angesichts der
Auseinandersetzungen um den Moscheenbau am Ground Zero in den USA ebenso ergibt
wie in anderen westlichen und europäischen Ländern.
4. Menschheit und Rasse Freiheit und Geschichte
Die Sarraziner kategorisieren und hierarchisieren Menschen in Rassen,
Völker, Ethnien etc. und wollen, indem sie bestimmten entgegengesetzten
Gruppen Eigenschaften zuschreiben, entgegengesetzte Eigenschaften an sich
selbst entdecken und eine Entität werden. Dabei geht es ihnen darum,
Eigentlich- und Ursprünglichkeit wiederaufleben zu lassen. Damit zeigen
sie, was sie vom Begriff der Menschheit verstanden haben. Sie fallen in ihren
Annahmen hinter Kant und all die anderen Aufklärer zurück, deren
Anliegen eine gerechte Weltgesellschaft gewesen ist. Den Aufklärern galten
alle Menschen als Personen, sofern diese einem Staat angehörten, und
hatten daher das gleiche ihnen verbürgte Gewissen für die Welt zu
tragen. Die demokratischen Staaten aber sind in der Vergangenheit daran
gescheitert, die Menschheit auf ihre Weise zu verwirklichen (der von Wilson ins
Leben gerufenen Völkerbund könnte als der erste Schritt in diese
Richtung gedeutet werden), denn sie tragen einen Anteil an der Weltschuld, die
Nazis nicht am augenfälligsten Rückfall der Aufklärung in
Barbarei gehindert zu haben. Schicksalhaft zwangen diese die Juden dazu, ein
Volk zu werden, weil sie es als das Anti-Volk vertrieben, verfolgten und
ermordeten. In ihrem gemeinsamen Schicksal wurden die Juden zu dem, was sie vor
der Shoa vielleicht religiös, traditionell etc. begründeten.
Sarrazins Deutschland will die nationale Vorstellung von Volk verewigen
und verunmöglicht damit eine Versöhnung von Mensch und Menschheit,
denn heute ist das in Zeiten der Völkerfreundschaft nur auf Kosten
Israels, der Emanzipationsgewalt der Juden, möglich geworden. Insofern
sind die Charaktereigenschaften, die Sarrazin den Juden zuschreibt, nicht
sonderlich schlimmer als die Zuschreibungen an andere Völker
(schließlich schreibt er jenen 15% mehr Intelligenz zu), jedoch
nivelliert er zugleich damit Völker und kann so von ihrer
spezifischen Geschichte abstrahieren, die sie durch Deutschland in Europa
durchlitten haben. Daher war es kaum verwunderlich, dass er in den talk-shows
vorwiegend über seine Thesen zu den muslimischen Migranten sprechen
sollte, nicht aber über seine Thesen zu den Juden. Das
Demokratieverständnis Sarrazins und das derer, die ihn unterstützen,
ist geschichtsblind und reaktionär, sie wollen Geschichte ein für
allemal begraben, um in ihre deutsche Zukunft blicken zu können.
Chris