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Aktuelles Heft

INHALT #180

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Option paralysis
Mouse on the Keys /live
»Messing with your emotion«
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Mice Parade, Laetitia Sadier, Silje Nes
 electric island  fall edition
Samiam, The Casting Out
Austin Lucas, Drag the River, Cory Branan.
DOOM-Europe Tour 2010

Hellnights 2010
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Das Deutschland der Sarraziner schafft sich ab – so what?!

Tendenzen demokratischer Entwicklung in Deutschland

Kleines Gedankenexperiment: Die beleidigte Leberwurst Thilo Sarrazin, der immer wieder mit Talkshoweinladungen für seine „verbalen Entgleisungen“ über die genetischen, regionalen und nationalen Eigenheiten der Völker belohnt wurde und sich dadurch erst so richtig in Szene setzen konnte, will seiner anfänglichen Abwehrgebaren zum Trotz doch noch – nachdem er geräuschvoll von Bundespräsident Wulff von seiner Tätigkeit im Bundesbankvorstand entbunden wurde und aus der Mehrheitspartei SPD ausgetreten ist – eine neue Partei gründen. Mit ihr wird er bei den nächsten Wahlen unter dem Namen „Die Sarrazin-Partei“ oder „Die, die hinter Sarrazin stehen“ antreten. Und wird prompt in den Bundestag gewählt. Seine Wähler wären laut einer Emnid-Umfrage 16 Millionen Deutsche(1), und es würden mehr, so des Parteigründers grobe Schätzungen. Im Schätzen ist er nicht so gut, dafür kennt er sich und die anderen Deutschen umso besser, denn er weiß ganz instinktiv, was sie denken und fühlen. Wenn sie schon jemanden wählen sollen, dann nicht etwa ihn als SPD-Mitglied, dafür aber den medial wahrgenommenen „Provokateur“. Denn der hat mit seiner Meinung (hier nur ein anderer Begriff für seine als „Thesen“ wahrgenommenen Äußerungen) die Deutschen erreicht (Vgl. LVZ vom 6.9.2010, S. 3). Und erfolgreich könnte er damit sein, weil er die Zeichen der Zeit erkannt zu haben scheint und die öffentliche Meinung sehr gut einzuschätzen weiß, die sich da zusammengebraut hat: Bei seiner derzeitigen Anhängerschaft handelt es sich um ein heterogenes, reaktives und explosives Gemisch aus krisengeschüttelten Hartz-4lern, verängstigten Kleinbürgern, antikapitalistischen Mediengegnern, Volksverdummungsgegnern, missverstandenen Gutmenschen, antihumanistischen Sozialdarwinisten, Revisionisten, Wahlverweigerern und sonstigen Demokratie-, Ausländer- und Judenfeinden. All jene sehen sich durch die etablierte Parteienlandschaft in keiner oder nur unzureichender Weise repräsentiert, sei es aus legalen Gründen, weil das, was sie denken und letztlich wollen, gegen die offiziellen Volksparteisatzungen verstößt, sei es, weil bestimmte Rand-Parteien geschichtlich vorbelastet sind. Mit der Last der Vergangenheit auf den Schultern lässt sich hierzulande schwerlich mehr ein Wahlkampf gewinnen. Die Wähler Sarrazins meinen schlauer zu sein, und umgehen bewusst oder unbewusst, indem sie sich gerade vom Vorwurf der belasteten Vergangenheit freisprechen wollen, den gewohnten Aufruhr. Wenn bspw. die NPD – die beinahe aufgrund ihrer programmatischen Inhalte verboten worden wäre; was aber nicht geschah, weil zu viele nachrichtendienstliche Agenten in den hohen Ämtern mitgewirkt hatten – so viele Stimmen erhalten würde, dann wäre das Ansehen Deutschlands ja auch ganz schnell dahin und Einbußen in der Wirtschaft aufgrund mangelnder ausländischer Investitionen möchte man tunlichst vermeiden.(2) Das wäre einfach zu offensichtlich. Die Wähler Sarrazins wollen daher selbst eine Partei werden, die aus dem deutschen Boden gestampft wurde und um all die Probleme der eigentlichen Identitätsfindung weiß, die sich für die Deutschen nach der Erfahrung zweier Weltkriege, besatzungsbedingter Aufteilung, der Wiedervereinigung etc. pp. ergeben haben. Und die Partei könnte geführt werden von jemanden wie Sarrazin, der, im Gegensatz zu Norman Paech von der „Mavi Marmara“, ein wenig besser reden kann, ein schlechtes Buch mit Halbwahrheiten in exorbitanter Rekordhöhe verkauft und der im gequirlten Jargon etwa folgende Forderungen aufstellt:
Alle sollen uneingeschränkt die Meinungsfreiheit ausüben dürfen („Man wird ja mal sagen dürfen, dass…!“); es soll eine Debatte über die „von den Politikern“ vernachlässigten Integrationsprobleme angestoßen werden, weil es eine „Überfremdung durch Islamisierung“ gebe, diesmal aber mit wirklichen Lösungsansätzen („Nicht wir müssen uns den Ausländern anpassen, sondern sie sich uns!“); Aufhaltung des Fäulnisprozesses der an sich gesunden Wurzel der nationalen Eiche, damit sie in Zukunft wieder ungestört wachsen kann. Dazu muss es weitere pseudowissenschaftliche Forschungen über türkische Migranten, Juden und andere Volksgruppen geben, um endlich mal die von den „Sarrazinschen Modellrechnungen“ untermauerten Tatsachen auf den Tisch zu legen – denn Temperament, Mentalität, Intelligenz der Menschen seien ja genetisch bedingt; Ausarbeitung einer Geschichtsschreibung, die sich weltweit sehen lassen kann. Diese Forderungen werden noch mit einer Portion Populismus und erhobenem Zeigefinger vor einer begeisterten Öffentlichkeit vorgetragen und fertig ist der Lack. Mit einer neuen Partei, deren Interessenlage diese und andere Forderungen vertritt, könnte sich ein Prozess in Gang setzen, der die Mehrheitsparteien zumindest in die unbequeme Lage bringt, sich mit ihr in einer Koalition zu arrangieren. Aber glücklicherweise ist an dieser Stelle das gedankliche Experiment auch schon zu Ende.

Dennoch sollten jene Tendenzen in der deutschen Demokratie, die sich in den derzeitigen Umfragen ablesen lassen, ernst genommen und nicht leichtfertig mit ihnen umgegangen werden, denn sie steht wieder einmal auf dem Prüfstand.

Deutsch plus Demokratie gleich deutsche Demokratie

Offensichtlich haben 1/5 aller verzweifelten und harmoniedurstigen Deutschen mit ihrem Sprachrohr Sarrazin versucht, ein politisch irgendwie artikuliertes Interesse zum Ausdruck zu bringen, und das hat die Gemüter erregt. Deshalb gibt es nun nicht mehr nur eine Debatte über die Integrationspolitik, sondern auch über Sarrazin selbst und den Umgang mit ihm. Das allerdings kann Auskunft geben über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Was für Tendenzen können sich an diesen zwanzig Prozent-Deutschen im Besonderen und der Demokratie im Allgemeinen ablesen lassen?

1. Meinungsfreiheit für alle?

Die Sarraziner wollen alles sagen dürfen, was ihnen derzeit verboten ist oder was „von den Politikern und Medien da oben“ unter den Teppich gekehrt wird. Sie wollen sich nichts mehr vormachen lassen, sondern selbst Politik und Wirtschaft in die Hand nehmen, Demokratie direkter ausüben etc. Was die Wähler einer potentiellen Sarrazin-Partei nicht einsehen wollen und verstehen können, weil sie die deutsche Vergangenheit samt ihren Ursachen und Auswirkungen verdrängt haben, und sie in ihnen deshalb mehr oder weniger bewusst weiter waltet, ist die Begründung für die Einschränkung der Meinungsfreiheit: denn antidemokratische, sozialdarwinistische, rassistische, antisemitische kurz: volksverhetzende und verfassungsfeindliche Äußerungen reihen sich ein in die Tradition Nazideutschlands und stehen deshalb in der post-nationalsozialistischen BRD unter Strafe. Dadurch wird für die nachfolgenden Generationen notwendigerweise der krisenförmige Umschlag in die deutsche Barbarei dokumentiert, denn die Frage, warum bestimmte Äußerungen verboten sind, wird weiterhin gestellt werden. Der Unterschied, warum in der Demokratie der USA eine NSDAP-AO existieren kann, deren uniformierte Mitglieder mit Hakenkreuzfahnen und Hitlerbild ganz legal gegen Juden und Schwarze auf den Straßen demonstrieren dürfen, das also ausüben können, was in Deutschland verboten ist, ist einer ums Ganze: Meinungsfreiheit hat hierzulande ihre staatlich gesetzten, weil historisch bedingten Grenzen da, wo „eine Meinung“ 1.) die „nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“ (§ 130 Abs. 4 StGB) oder sich 2.) zu einer politischen Ideologie verselbstständigt, die, wenn sie, wie die Erfahrung der Weimarer Republik gezeigt hat, von einer breiten Massen getragen wird, zu einer Krise des Staates führen kann. Im Falle der USA sind die Nationalsozialisten in der Gesellschaft dermaßen marginalisiert, dass ein Umsturz der Demokratie durch sie undenkbar ist, sie gehen im Prinzip des Pluralismus unter.(3) In Deutschland aber ist man, wie Horst Krüger in seinem Buch „Das zerbrochene Haus“ recht gut dargestellt hat, dem Politischen gegenüber traditionell eher indifferent eingestellt, und biedert sich den jeweiligen Machtverhältnissen an. Um daher die weit reichenden Konsequenzen aus der legalen Übergabe der Macht durch Hindenburg an Hitler ins geschichtliche Bewusstsein aufzunehmen, wurde in Deutschland u. a. eine strafrechtliche Einschränkung der Meinungsfreiheit beschlossen sowie eine 5% Wahlhürde eingerichtet. Diese innenpolitischen Sanktionen sollten von nun an verhindern, eine vom „Volk“ legalisierte Partei könne sich wieder daran machen, demokratisches Recht in anti-demokratisches umzumünzen. Wollen Sarrazins Anhänger tatsächlich eine Partei mit oder ohne ihn gründen, die die 5% Hürde überspringen würde, dann hätten sie zwar verstanden, wie sie demokratisch ihre Überzeugungen politisch einbringen können, aber gleichzeitig würden die geschichtlichen Fundamente des Grundgesetzes erschüttert werden, da es nicht mehr um eine kleine Partei wie bspw. die NPD ginge, sondern um eine mit großem Wählerpotential. Das heißt zum Glück nicht, davon auszugehen, ein „Viertes Reich“ könne abermals versuchen, die Weltherrschaft an sich zu reißen, schon aus militärischer Sicht ist das Land einfach zu unbedeutend. Aber was im Kleinen in Deutschland passiert, gibt es auch im Großen auf der politischen Weltbühne. Insofern könnte der Umgang mit dem iranischen Präsidenten Achmadinejad, als dieser eine Holocaust-Leugner-Konferenz initiierte, Indikator dafür sein, wie sich weltweit geschichtliches Bewusstsein aufzulösen beginnt.(4)

2. Einwanderung und Integration

Die besagten zwanzig-Prozent-Deutschen haben zumindest teilweise erkannt, wollen es aber noch immer nicht wahrhaben, dass Deutschland realiter ein Einwanderungsland ist, das sich mit den Forderungen an und Förderungen von Migranten (und den nachfolgenden Generationen) auseinandersetzen muss. Sarrazin findet breite Unterstützung, weil er einen schon vorhandenen Unmut der „angestammten“ Deutschen gegen die Migranten und die herrschende Integrationspolitik radikalisiert. Der „dumme Ausländer“ liege – genetisch bedingt – dem Steuerzahler auf der Tasche. Letzterer darf sich dem „unproduktivem Ausländer“ gegenüber erhaben fühlen. Hier hat der Wähler zwar nicht verstanden, wodurch die Demokratie überhaupt existieren kann, nämlich durch das Aufrechterhalten des allgemein vergesellschaftenden Prinzips der kapitalistischen Produktionsweise, die wesentlich darauf basiert, dass sich die vereinzelten Warenmonaden als gleiche Staatsbürger anerkennen und als Privatbürger mit den Ellenbogen zum Weitermachen antreiben, aus Angst vorm wirtschaftlichen Absturz und vor sozialer Ächtung. Er ahnt aber zugleich, dass er alles daran setzen muss, damit sich seine Arbeitskraft nicht verbillige durch ein Überangebot von billigeren Arbeitskräften. Dies kann er aus einer rassistischen Motivation heraus tun, aber auch aus einer nicht-rassistischen.(5) Das Bedürfnis danach, sich nach „unten“ hin abzugrenzen, gehört zum Kapitalismus wie der Pfirsichkern zum Pfirsich, weil durch sein Prinzip, wie Marx schreibt, notwendig eine industrielle Reservearmee entstehen muss. Andererseits geht es Sarrazin um einen interkulturellen Dialog, der aus seiner Sicht wahrscheinlich nur geführt werden kann (wenn auch nicht auf gleicher Augenhöhe), wenn man sich bis aufs letzte Gen verstanden hat. Gerade Sarrazin sitzt nicht dem „Islamophobiebegriff“ auf, denn er möchte eine Elite, und die kann von überall herkommen, auch aus dem muslimisch geprägten Ausland. Dieses Changieren zwischen deutsch dominierten Herrenmenschentum und relativistischer Kulturapotheose hat ein Ziel: die Deutschen in ihrer Uneinigkeit zu einen, um der deutschen Zukunft willen. Es scheint beides trotz der Gegensätzlichkeit zusammenzupassen, deshalb kommen seine Wähler aus beiden Lagern. Zudem spricht es Nichtwähler an, die sich für keines der beiden „Konzepte“ so richtig begeistern, aber in ihrer Mischung unterstützen können. Interessanterweise fällt in diesen Auseinandersetzungen um Integration etc. die antiziganistische Stimmung in Europa (die ein Wiederaufleben der Vergangenheit drastisch anzeigt) derzeit nicht so sehr ins Gewicht, obwohl doch gerade an den Roma vollstreckt wird, was sich viele einheimische Arbeitswillige in Europa derzeit insgeheim wünschen: deren Abschiebung um jeden Preis.

3. 9/11 und Islam

Nach dem wohl erschütternsten Ereignis des 21. Jahrhunderts, den Terroranschlägen auf das World Trade Center vor neun Jahren, ist es bis heute fraglich, welche Einstellung sich zum Islam schließlich in Deutschland (und im Rest der nicht-muslimischen Welt) durchsetzen wird: Kulturrelativismus oder Ethnorassismus. Sollte es tatsächlich ein Konglomerat aus beiden sein, würde das auf wundersame Weise mit dem von Islamisten geprägten Kampfbegriff „Islamophobie“ zusammengehen, denn diese sehen den missionierenden Islam in seiner Ursprünglichkeit bedroht, wollen die Bevölkerungen durch ihre Aktionen in Angst versetzen, während sie diese Angst als fiktive delegitimieren.6 Der Begriff aber hat sich schon so sehr in der öffentlichen Meinung etabliert, dass selbst Kanzlerin Merkel vom Zentralrat der Muslime einer „interkulturellen Inkompetenz“ bezichtigt werden konnte, als sie im europäischen Rahmen den dänischen Karikaturisten Westergaards mit einem Preis ehrte und ihn verteidigte, weil er sein Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit so mutig vertritt. Ohne allerdings den geringsten Widerstand seitens der Bevölkerung oder anderer Politiker hervorzurufen – wahrscheinlich aus Angst davor, als „islamophob“ zu gelten. Nur solange die Demokratie in Deutschland diesen reaktionären Zuständen eine falsche Toleranz entgegenbringt, können diese auch gedeihen. Insofern ist den zurzeit stattfindenden Debatten ganz wesentlich dahingehend beizupflichten, zu thematisieren und zu verhindern, dass es in Deutschland zu ähnlichen Zuständen wie bspw. in den französischen Banlieues kommt. Und es muss zudem eine sachliche Kritik am Islam formuliert werden (so ein Lager lässt sich bisweilen nur sehr vereinzelt wahrnehmen), die auf die fehlende Reformierung, Modernisierung und Säkularisierung ebenso verweist wie auf die gegen sie gerichteten reaktionären Widerstände.(7) Ist Islam nur das, was der Zentralrat der Muslime darunter versteht (und jene, die bei jedweder Kritik an ihm auf „Islamophobie“ verweisen), dann ist es um seine Kompatibilität mit Demokratie schlecht bestellt.
Tendenziell scheinen Teile der Deutschen eine widerspruchsfreie Identität herstellen zu wollen, indem sie die kulturrelativistische Völkerfreundschaft soweit treiben, dass sie nicht nur die Kulturen anderer anerkennen, loben und verteidigen, sondern letztlich auch die ausschalten wollen, die sie als „Kultur zersetzend“ ansehen. Damit verweist der Umgang mit dem Islam in Deutschland auf ein Problem, das sich angesichts der Auseinandersetzungen um den Moscheenbau am Ground Zero in den USA ebenso ergibt wie in anderen westlichen und europäischen Ländern.

4. Menschheit und Rasse – Freiheit und Geschichte

Die Sarraziner kategorisieren und hierarchisieren Menschen in Rassen, Völker, Ethnien etc. und wollen, indem sie bestimmten entgegengesetzten Gruppen Eigenschaften zuschreiben, entgegengesetzte Eigenschaften an sich selbst entdecken und eine Entität werden. Dabei geht es ihnen darum, Eigentlich- und Ursprünglichkeit wiederaufleben zu lassen. Damit zeigen sie, was sie vom Begriff der Menschheit verstanden haben. Sie fallen in ihren Annahmen hinter Kant und all die anderen Aufklärer zurück, deren Anliegen eine gerechte Weltgesellschaft gewesen ist. Den Aufklärern galten alle Menschen als Personen, sofern diese einem Staat angehörten, und hatten daher das gleiche ihnen verbürgte Gewissen für die Welt zu tragen. Die demokratischen Staaten aber sind in der Vergangenheit daran gescheitert, die Menschheit auf ihre Weise zu verwirklichen (der von Wilson ins Leben gerufenen Völkerbund könnte als der erste Schritt in diese Richtung gedeutet werden), denn sie tragen einen Anteil an der Weltschuld, die Nazis nicht am augenfälligsten Rückfall der Aufklärung in Barbarei gehindert zu haben. Schicksalhaft zwangen diese die Juden dazu, ein Volk zu werden, weil sie es als „das Anti-Volk“ vertrieben, verfolgten und ermordeten. In ihrem gemeinsamen Schicksal wurden die Juden zu dem, was sie vor der Shoa vielleicht religiös, traditionell etc. begründeten. Sarrazins Deutschland will die nationale Vorstellung von „Volk“ verewigen und verunmöglicht damit eine Versöhnung von Mensch und Menschheit, denn heute ist das in Zeiten der Völkerfreundschaft nur auf Kosten Israels, der Emanzipationsgewalt der Juden, möglich geworden. Insofern sind die Charaktereigenschaften, die Sarrazin den Juden zuschreibt, nicht sonderlich schlimmer als die Zuschreibungen an andere „Völker“ (schließlich schreibt er jenen 15% mehr Intelligenz zu), jedoch nivelliert er zugleich damit „Völker“ und kann so von ihrer spezifischen Geschichte abstrahieren, die sie durch Deutschland in Europa durchlitten haben. Daher war es kaum verwunderlich, dass er in den talk-shows vorwiegend über seine „Thesen“ zu den muslimischen Migranten sprechen sollte, nicht aber über seine „Thesen“ zu den Juden. Das Demokratieverständnis Sarrazins und das derer, die ihn unterstützen, ist geschichtsblind und reaktionär, sie wollen Geschichte ein für allemal begraben, um in ihre deutsche Zukunft blicken zu können.

Chris

Deutscher.Gott

PS.:
Da es problematisch ist, einen „aktuellen Artikel“ zu schreiben, sei hiermit auf das Vorhaben von René Stadtkewitz, Ex-Abgeordneter der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus, Marc Doll und Aaron Koenig verwiesen, die nun bis Ende diesen Jahres eine Partei Namens „Die Freiheit“ gründen wollen mit der Begründung, es habe auf Sarrazin, der vom Vorhaben, eine neue Partei ins Leben zu rufen, nun abgerückt ist, eine „Hetzjagd“ gegeben. Wählerschaft, Programm etc. müssten eingehender einer Kritik unterzogen werden, um die im Text angeführten Bedenken entweder zu untermauern oder um sie zu entkräften. Aus der SPD ist Sarrazin noch nicht ausgetreten, denn er habe, so Fraktionschef Struck, nur seine persönliche Meinung vertreten, nicht die der SPD.

Anmerkungen

(1) Nur mal so zum Vergleich: die CDU erhielt bei einer Wahlbeteiligung von ca. (71)% bei der Bundestagswahl 2009 ca. 12 Millionen und die SPD ca. 10 Millionen der Stimmen.

(2) Um sich von den heutigen Nazis abzugrenzen, wurde deshalb ein vom „Bündnis für Sarrazin“ für den 9.9.2010 angekündigter Trauermarsch für die Meinungsfreiheit mit der Begründung abgesagt, es haben sich auch Mitglieder der NPD als Teilnehmer der Demonstration angekündigt und es werde aller Voraussicht nach zu einer Gegendemonstration durch eine Autonome Antifa Gruppe kommen.

(3) Auf die weit reichenden Probleme, die sich mit der Differenzierung von „normaler, gesunder“ und „extremer, exzentrischer, bizarrer“ Meinung ergeben, hat Adorno in seinem aus dem Jahre 1962 stammenden Aufsatz „Meinung, Wahn, Gesellschaft“ hingewiesen. Wichtig ist der Aufsatz u. a. deswegen, weil es, wie die Debatte um Sarrazin beweist, auf eine Differenzierung von Wahrheit und Meinung ankommt. Wenn Sarrazin, der von Wahrheit so viel verstanden hat wie das berühmte Schwein vom Uhrwerk, in etwa sagt, es gebe das „gesellschaftliches Bedürfnis nach ungeschminkter Wahrheit, […] wer dieses (aber) stillt, lebt politisch gefährlich und wird leicht zum Opfer der Medienmacht, die die politisch Korrekten ausüben“, dann nimmt er für seine subjektive Meinung in Anspruch, sie als die Wahrheit zu vertreten.

(4) Darauf verweist auch der Umgang der „Anti-Defamation-League“ mit dem Symbol des Hakenkreuzes, das als Symbol des Hasses auch in nicht-antisemitischen Agitationen verwendet wird. Dadurch wird es historisch dekontextualisiert. (siehe http://www.nytimes.com/2010/07/29/us/29hate.html?_r=1&sq=swastika&st=cse&sc=1&pagewanted=print)

(5) Es ist nicht schlüssig, wenn von einer objektiv vorherrschenden Gesetzmäßigkeit der rassistische Charakter bspw. der Einwanderungsgesetze abgeleitet wird, wie Hannes Gießler im vorherigen Ersten schon dargelegt hat. Es handelt sich dabei eher um eine Gesetzgebung, deren neutrale Grundlage demokratische Gesetze sind, denen ein Mensch nur als Mensch gilt, sofern er einen Pass besitzt, also zur Person geworden ist. Wäre die Einwanderungspolitik in Deutschland rassistisch, dann wäre es die vieler anderer Staaten auch. Würden sie deshalb aber gleich zu Apartheidstaaten? Mit der Nivellierung dieser Differenzen wird sich ebenso von der Wirklichkeit abgeschottet, wie manche antirassistischen Kampagnen in Deutschland nur den „weißen Rassismus“ wahrnehmen können, nicht aber anderen. Werden alle, nur weil sie weiße Hautfarbe haben (die, wie Poliakov richtig erkannte, niemals wirklich dem „Weiß“ entspricht), potentiell zu Rassisten, wäre ein solcher Umkehrschluss im Kern rassistisch.

(6) So haben bspw. einige westliche Frauen Angst davor, in ein Kopftuch gezwängt zu werden (das als ein friedliches Symbol des Islam verklärt wird), in Familien mit Zwang verheiratet zu werden oder sich von ihren Brüdern durch einen „Ehrenmord“ umbringen zu lassen wegen angeblicher Verfehlungen islamischer Verhaltensweisen. Muslimische Viertel, in denen ein solches Zwangssystem Alltag ist, sind ein Affront gegen jede demokratische Integration. Nicht nur hierzulande, sondern weltweit unterminiert das „System Kopftuch“ die Freiheitsbewegungen von Muslima. Real ist auch die Angst vor Anschlägen und vor den zu ihnen aufrufenden Hasspredigern, die in Deutschland lange Zeit haben, um ihre Barbarei zu verbreiten. Ein plastisches Beispiel dafür: Die Hamburger Masjid-Taiba-Moschee wurde erst in diesem Jahr geschlossen, in der unter anderen Mohammed Atta betete und agitierte, der eines der Flugzeuge in die Twin Towers des World Trade Centers steuerte.

(7) Ähnliche Prozesse haben die anderen beiden monotheistischen Religionen vor langer Zeit durchlaufen. Siehe hierzu Dan Diner: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, List-Verlag 2007

23.09.2010
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