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Am 12. April dieses Jahres verstarb im Alter von 87 Jahren die Schweizer
Psychologin und Kindheitsforscherin Alice Miller. Ihr Werk und Wirken
möchte ich einführend vorstellen, und zwar unter Aspekten, die mir
besonders interessant sind: Millers Abwendung von der Psychoanalyse als
Therapieform wie als Theorie, die der psychischen Wahrheit des Kindes nicht
gerecht werde, und schließlich von Erziehung überhaupt.
1. Was Pädagogik anrichtet
In ihren beiden bekanntesten Büchern, Das Drama des begabten Kindes
(1979) und Am Anfang war Erziehung (1980) erklärt Miller
frühkindliche Traumatisierung durch pädagogischen Ehrgeiz zur Wurzel
allen Übels. Bereits die Praktiken, Säuglinge schreien zu lassen und
mit Klapsen zu bedenken, hinterlassen tiefe Spuren in der Psyche des Kindes,
das noch lernen muss, Mechanismen auszubilden, um mit der Erfahrung von Mangel,
Frustration und zeitweiligem Liebesentzug fertig zu werden. Für das
Kleinkind ist die Abwesenheit seiner Bezugsperson(1) und deren Weigerung, seine
Bedürfnisse nach Nahrung, Streicheln, Trockenlegen sofort zu
erfüllen, existenziell bedrohlich; es weiß noch nichts von
Triebaufschub, Sublimierung etc. und wird, sobald es Mangel empfindet,
überflutet von Angst und Stress. Wird das Kind bereits in dieser
frühen Phase erzogen, d. h. muss es sich auf die Absichten und die
Bedürfnislage der Bezugsperson einstellen und gar mit Sanktionen rechnen,
erfüllt es diese Anforderungen und hört zu schreien und zu jammern
auf um seines Überlebens willen. Aus seiner völligen
Abhängigkeit resultiert die unbedingte Anpassungsbereitschaft des Kindes.
Um Liebe und Zuwendung zu erhalten, verdrängt es sowohl die Sanktionen als
auch das unerwünschte Bedürfnis selbst.
Dieser Verdrängungsprozess setzt sich fort mit der Reinlichkeitserziehung,
der Vermittlung der Fähigkeiten, nach der Uhr zu essen, sich
selbstständig anzukleiden, zur Schule zu gehen und dort stillzusitzen und
der Lehrerin nicht zu widersprechen usw. Mit der sich stetig erneuernden
Verdrängung einher geht die Unmöglichkeit, Leid zu artikulieren und
sich dagegen zu wehren. Die Notwendigkeit, seine Eltern zu lieben, zwingt das
Kind, die narzisstische Wut über Bestrafung und die Missachtung seiner
Bedürfnisse zu verdrängen.
Das Trauma, sich nicht ausdrücken zu dürfen quasi nicht man
selbst sein zu dürfen , verharrt im Unbewussten, entzieht sich so
jeder Bearbeitung, auch positiven Erfahrungen, die es relativieren
könnten, und tritt erst im Verhalten gegenüber dem eigenen Kind
wieder zutage. In der Erziehung rächen Mütter und Väter
unbewusst das ihnen angetane Leid. Auch umgängliche, zartfühlende
Menschen mit fortschrittlichen Ansichten unterliegen laut Miller dem
sadistischen Zwang, an ihren Kindern das Leid ihrer eigenen Kindheit zu
wiederholen, und halten an der angeblichen Notwendigkeit fest, ihnen den Willen
zu brechen, ihnen die Erfüllung und sogar die Äußerung ihrer
Wünsche zu verbieten, sie mit Blicken und ironischem Umgang zu
demütigen und gar körperlich zu züchtigen. Indem sie sich mit
dem Elternteil von einst identifizieren, dem ab und zu (oder auch
regelmäßig) die Hand ausgerutscht ist, agieren Eltern ihre Traumata
aus und sind dabei empathisch unempfänglich für den Schmerz des
Kindes, den sie selbst nie erleben durften. Diese nächste
Kindergeneration, die unter Schlägen und harten Worten aufwächst, ist
genauso wie vor ihnen ihre Eltern gezwungen, den elterlichen Sadismus zu
verdrängen und Mutter und Vater zu idealisieren. Auf diese Weise,
führt Miller aus, reproduziert sich Gewalt über Generationen hinweg.
Die früh ausgebildeten und während der gesamten Sozialisation
verstärkten Abwehrmechanismen hindern den Erwachsenen, seine
Kindheitswahrheit ins Bewusstsein heraufzuholen, mithin zu versprachlichen und
zu integrieren. Da laut Miller die allermeisten Menschen
erziehungsgeschädigt sind, entzieht sich die kritische und
einfühlsame Betrachtung der hilflosen, beängstigenden Lebenssituation
von Kindern überhaupt der Kommunikation auf öffentlicher Ebene. Auch
in der pädagogischen Diskussion und in Erziehungsratgebern wird
blind diskutiert weil eben die meisten Teilnehmerinnen und
Teilnehmer nicht in der Lage sind, die Verletzungen und Traumata des
missbrauchten Kindes zu sehen, und stattdessen die eigenen internalisierten
Ansichten und Verbote verteidigen.
Man mag geneigt sein, dies düstere Bild, das Alice Miller vor
dreißig Jahren zeichnete, für anachronistisch zu halten und sich
darüber zu beruhigen, dass die sogenannte Schwarze Pädagogik(2)
seitdem von vielen Seiten angegriffen und sogar gesellschaftlich geächtet
wurde (sodass Vati nicht einmal mehr in Bayern zum Rohrstock greifen darf) und
es mittlerweile zahlreiche pädagogische Modelle gibt, die den
Bedürfnissen und Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern mehr Raum
lassen. Das soll nicht bestritten werden. Es bleibt aber Millers Einwand
zu bedenken, nach dem es eine hilfreiche Strategie der Rationalisierung ist,
Unrecht, das der eigenen Geschichte gefährlich nahe kommt, räumlich
und zeitlich zu verlegen, nach dem Muster: Im Mittelalter/in der Zone waren sie
freilich schrecklich zu ihren Kindern, aber heute
Heute fahre ich mit
der Straßenbahn durch Leipzig und beobachte, wie Mütter und
Väter ihre Gören anschreien, sie beschimpfen und an ihnen
reißen. Die große Brutalität, die sich in diesem bisschen
Empirie offenbart z. B. das Nimm dich zusammen, sonst
!,
das eine Mutter ihrer kleinen Tochter überlaut ins Ohr zischt zeugt
nicht eben von zeitgenössischem Kinderglück.
Überdies halte ich es für wichtig zu beachten, dass die Beziehung zum
Kind neben der romantischen Liebe vielleicht für Erwachsene
die Bindungsform ist, die die größten regressiven Anteile birgt. Das
leibliche Kind, das, wie seit Freud bekannt, von den Eltern zunächst als
Teil der eigenen Person betrachtet wird, ist wehrlose Projektionsleinwand
für Wünsche und Verletzungen, denen nachzuspüren an die nur
schwer reflektierbaren Tiefen des eigenen Triebschicksals rührt.
2. Abschied von der Psychoanalyse
Den Zugang zur verdrängten Wahrheit der frühen Jahre (sowohl ihrer
Patientinnen und Patienten als auch in eigener Sache) suchte Alice Miller lange
über den psychoanalytischen Weg zu gewinnen; jedoch stellte sie im Laufe
der Jahrzehnte fest, dass die langen Schatten der Schwarzen Pädagogik auch
auf die Psychoanalyse fallen. Miller formulierte eine immer schärfere
Kritik derselben, die darin mündete, dass sie 1988 aus der schweizerischen
und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung austrat und sich fortan
dagegen verwahrte, als Analytikerin bezeichnet zu werden oder Analysen zur
Aufarbeitung der individuellen Vergangenheit zu befürworten
weil sie die Verwirrung aus der Kindheit zementieren, statt sie
aufzulösen, begründet sie im aktualisierten Vorwort zu Das Drama
des begabten Kindes. Wie sie zu diesem Urteil gelangte, soll im Folgenden
skizziert werden.
Das Kind ist immer unschuldig. [
] Die psychoanalytische Lehre der
infantilen Sexualität' unterstützt die Blindheit der
Gesellschaft und legitimiert den Mißbrauch des Kindes. Sie beschuldigt
das Kind und schont den Erwachsenen, schreibt Miller in Du sollst nicht
merken (1981). Sigmund Freuds Umschwung von der Verführungs- zur
Triebtheorie(3) interpretiert sie als die Diskretion des wohlerzogenen Kindes
seiner Zeit, das, seiner aufklärerischen Intention zuwiderlaufend, die
introjizierten Eltern schützen musste: Denn betrachtet die
Verführungstheorie das Kind noch als Objekt der sexuellen Verführung
durch seine Eltern, avanciert es in Letzterer zum Urheber sexueller (eben
böser und perverser) Wünsche gegenüber den Eltern
Wünsche, die im Erziehungsprozess desexualisiert und zivilisiert werden
müssen. Miller kritisiert, dass Freud die Missbrauchserfahrungen, von
denen seine Hysterikerinnen und Neurotikerinnen zuhauf berichteten, nunmehr als
Phantasien abtat, resultierend aus den ödipalen Triebwünschen der
Patientinnen. Daß die Eltern ihrerseits sexuelle und aggressive
Phantasien auf ihr Kind nicht nur projizieren, sondern auch an ihm befriedigen
können, weil sie die Macht besitzen, wurde aus dieser Theorie
begreiflicherweise ausgespart (Am Anfang war Erziehung). Aggressionen
des Kindes subsumierte Freud nunmehr dem Todestrieb, einem dem Menschen
eingeborenen Trieb, unvermeidlich und unauslöschlich wie der Sexualtrieb.
Auch an der Analytikerin Melanie Klein die eine Psychologie des
Kleinkindes entwarf kritisiert Miller, dass frühkindlicher Hass von
ihr als triebhaft, mithin angeboren gedeutet werde, nicht als reaktiv.
Um sich aus dem Gefängnis des falschen Selbst(4) zu befreien, bedarf
es der rationalen Aufklärung ebenso wie der empathischen Begleitung
eine Funktion, dessen Träger Miller den Zeugen nennt. Auch Kinder
aus schlimmsten Verhältnissen können vor der totalen
Selbstverleugnung gerettet werden, wenn in ihrer Biographie helfende,
vielleicht sogar wissende Zeugen auftreten. Als helfenden Zeugen
charakterisiert Miller in Das verbannte Wissen (1988) eine Person, die
dem Kind sein Elend glaubt, es tröstet und ihm so ermöglicht, sein
Leid als Unrecht zu durchschauen (ein Freund etwa, eine liebevolle Tante oder
Nachbarin); wissend wird ein Zeuge, wenn er außerdem darin
geschult ist, dem Kind beim Bewusstwerden und bei der Verarbeitung seiner
Traumata beizustehen. Die Eignung zum wissenden Zeugen spricht Miller
der psychoanalytischen Zunft mehr und mehr ab. Sie wirft ihr vor, sich
apologetisch mit den verinnerlichten Eltern einer Analysandin zu identifizieren
statt mit deren verdrängter Kindheitsnot. Immer wieder betont Miller, dass
es nicht rechtens ist, sich hinter einem psychologischen Lehrgebäude zu
verschanzen, ohne sich den Besonderheiten des einzelnen Schicksals emotional zu
öffnen.
Daran hapert es, so Alice Miller, nicht allein in der psychoanalytischen
Theorie, sondern ebenso in der Analysepraxis: In Das Drama des begabten
Kindes vermutet sie, dass Menschen, die die langjährige Ausbildung zum
Psychoanalytiker auf sich nehmen, um sich in leidende Mitmenschen
einzufühlen und ihnen zu helfen, häufig selbst narzisstisch
bedürftig sind, also nicht frei, ihre Analysanden als von sich abgetrennte
Personen mit einer eigenständigen Geschichte wahrzunehmen. Gefangen in
ihrem eigenen Kindheitsdrama, tendieren sie dazu, sie narzisstisch zu
gebrauchen ihnen, wie Eltern ihrem Kind, unbewusst ihre eigenen
Vorstellungen und Werte zu oktroyieren, verbrämt in analytischer
Terminologie, ohne den leidenden Menschen auf der Couch wirklich wahrzunehmen.
Solchermaßen blind, unterliegt die Analytikerin denselben
gesellschaftlichen Tabus wie ihre Analysandin: Es fällt ihnen
leichter, mit den Patienten die von Freud längst aufgedeckten sexuellen
Zwänge und Verbote, die oft nicht mehr die unseren sind, zu verfolgen, als
Verleugnungen unserer Zeit, d. h. auch diejenigen ihrer eigenen
Kindheit aufzudecken. Wie sich in solchen Fällen die theoretische
Verdrängung in der Lehre mit der individuellen Verdrängung ihrer
Vertreter gegen das geschundene Kind verbündet, diskreditiert in Millers
Augen die Psychoanalyse zutiefst.
Zu einer ausführlichen Verteidigung der Psychoanalyse mangelt es mir an
Detailwissen und an Platz; daher sei nur kurz anhand einiger weniger Punkte
angemerkt, dass meines Wissens und meiner Erfahrung nach es sich nicht
ausschließt, Alice Millers Ansichten gutzuheißen und dennoch die
Psychoanalyse als ein Gedankengebäude hochzuhalten, das einerseits
Menschenleid therapeutisch beseitigen hilft und andererseits kulturtheoretisch
und gesellschaftskritisch fruchtbar wird.
Miller erkannte und beanstandete, dass Debatten um die richtige Erziehung von
Schuldzuweisungen bestimmt sind, die den feindlichen Graben zwischen
Erziehungsgeschädigten und deren Eltern/ehemaligen Lehrern nur vertiefen
helfen. Ob dieser Missstand jedoch der Psychoanalyse zur Last gelegt werden
muss, finde ich zweifelhaft. Mir ist nicht bekannt, dass Freud oder
seine Nachfolgerinnen und Nachfolger auf psychoanalytischem Feld mit dem
moralischen Begriff der Schuld gearbeitet hätten. Freud konstatiert
vielmehr als Arzt einen gesellschaftlichen Normierungsdruck, unter dem seine
Patienten leiden; diesen affirmiert er nicht durchgängig wie z. B. im
haarsträubenden Bericht über seinen Versuch, eine junge Lesbe zu
heilen (s. Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher
Homosexualität). Die zahlreichen Versagungen und Anpassungsleistungen,
die die Sozialisation dem Individuum abverlangt, bewertet Freud durchaus als
bedenklich, so im späten Essay vom Unbehagen in der Kultur. Freuds
detaillierte Beschreibungen des bürgerlichen Normalzustands sind
verschiedentlich, nicht zuletzt in der Freud-Rezeption der Kritischen Theorie,
gesellschafts- und erziehungskritisch interpretiert worden.
Obendrein sind einige Theoreme, die Miller der Psychoanalyse vorwirft, weil sie
zu Lasten des unglücklichen Kindes im Analysanden gehen, innerhalb der
psychoanalytischen Diskussion umstritten oder gar ad acta gelegt. So hat z. B.
Heinz Kohut die Wichtigkeit einer nicht allein distanziert beobachtenden,
sondern auch einfühlsamen Haltung des Analytikers betont; und Freuds
Konzept vom Todestrieb wird meines Wissens von nicht wenigen analytischen
Schulen abgelehnt.
Millers Kritik ist einer eingehenden selbstkritischen Überprüfung von
analytischer Seite sicherlich würdig, muss aber nicht dazu führen,
die Psychoanalyse als Ganzes zu stürzen auf deren Modellen und
Terminologie Millers Erkenntnisse schließlich aufbauen.
3. Abschied von Erziehung (Antipädagogik)
Bereits 1980, noch vor ihrem endgültigen Bruch mit der Psychoanalyse, war
sich die Kindheitsforscherin darüber im Klaren, dass an Erziehung generell
nichts zu retten ist: Im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Meinung
kann ich dem Wort Erziehung' keine positive Bedeutung abgewinnen. Ich
sehe in ihr die Notwehr des Erwachsenen, die Manipulation aus der
eigenen Unfreiheit und Unsicherheit, die ich zwar verstehen kann, deren
Gefahren ich aber nicht übersehen darf (Am Anfang war Erziehung).
Nicht nur Schwarze Pädagogik, die offen mit Einschüchterung, Drohung
und körperlicher Züchtigung operiert, auch Verwöhnung und
sanfte Gewalt die Erziehungsmittel wie Überreden,
enttäuschte Blicke, Ablenkung des Kindes von seinen Bedürfnissen
umfasst , wirken zerstörerisch auf das Herausbildung der
Persönlichkeit. Auch antiautoritäre Pädagogik schimpft Miller
eine schädliche Ideologie da vom Kind ebenjenes unkonventionelle
und aggressive Verhalten erwartet wird, das seine Eltern sich retrospektiv
für ihre eigene Kindheit wünschen; damit steht es genauso unter
elterlichen Imperativen wie autoritär erzogene Kinder. Der erste Satz von
Alice Millers Antipädagogik ist: Jedes absichtsvolle Biegen und Formen des
Kindes ist schlecht. Alle Erziehungsabsichten entstammen unbearbeiteten
Traumata der eigenen Kindheitsnot der Eltern ; die daraus sich
ergebenden Ansprüche ans Kind vermitteln ihm unbewusst, wie es sich zu
verhalten und wie es zu empfinden habe. Sie erfordern eine Anpassung, die
letztlich zu lebenslänglicher Selbstentfremdung führt.
Miller betont, dass Kinder, an denen nichts erzogen wird, nicht im luftleeren
Raum oder in einem irgendwie gearteten Naturzustand groß werden. Wie sie
sich ein Heranwachsen ohne Erziehung vorstellt, umreißt sie in Am
Anfang war Erziehung: Das heißt aber nicht, daß das Kind
ganz wild aufwachsen kann. Was es für seine Entfaltung braucht, ist der
Respekt seiner Bezugspersonen, die Toleranz für seine Gefühle, die
Sensibilität für seine Bedürfnisse, die Echtheit seiner Eltern,
deren eigene Freiheit und nicht erzieherische Überlegungen
dem Kind natürliche Grenzen setzt. Konkretere Vorstellungen
gibt sie nicht; was Eltern anstreben sollen, ist eben nicht die korrekte
Zähmung des Kindes, sondern die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen
inneren Kind.
Interessant auch, mit welcher Radikalität Alice Miller ihre
antipädagogische These auf die politische Ebene ausweitet: Folge einer
Vielzahl erziehungsgeschädigter Individuen ist eine emotional
beschädigte und nicht empathiefähige Gesellschaft und
umgekehrt. Je mehr man Einsicht gewinnt in die ungewollte,
unbewußte Manipulation der Kinder durch die Eltern, desto weniger bleiben
einem Illusionen über die Veränderbarkeit der Welt und die
Neurosen-Prophylaxe erhalten, schreibt sie in Das Drama des begabten
Kindes. An zahlreichen historischen Beispielen zeichnet Miller nach, wie
die Erziehung zum Befehlen und Gehorchen und zur Verleugnung von Schwäche
den Boden für autoritäre und totalitäre Gesellschaftsordnungen
bildet. Die Opfer der Schwarzen Pädagogik tragen je nach
individueller Ausprägung und Verarbeitung dieser Erziehungstortur
in sich das Potenzial zum Verbrecher und zum staatlichen Folterknecht.
Miller erinnert hier an die These von Hitler als Vaterersatz der mit Hilfe von
Blut, Eisen und Sauberkeitswahn erzogenen Deutschen, die immerzu ihre eigenen
Gefühle abspalten mussten und ihr narzisstisches Gleichgewicht
bereitwillig übers Marschieren und Morden erhielten(5): Man haßt
den Juden, weil man einen unerlaubten Haß in sich trägt und
begierig ist, ihn zu legitimieren (Am Anfang war Erziehung). Die
durch fortlaufende Idealisierung der Eltern und anderer Autoritätspersonen
verdrängte und aufgestaute Frustration der Einzelnen ventiliert sich
gesamtgesellschaftlich im staatlich propagierten Judenhass. Mag dies eine etwas
kurze und einseitige Erklärung der Ideologie Antisemitismus sein; so ist
doch einsichtig, dass ein Kollektiv, das sich beim ersten Gong zum
faschistischen Mob formiert, nicht nur von akuter wirtschaftlicher Not und
politischer Verstrahltheit motiviert ist, sondern allermindestens ebenso von
einem tief internalisierten Verlangen, endlich selbst Gewalt auszuüben.(6)
Auf der anderen Seite, führt sie aus, handelt es sich bei
Widerstandskämpfern um mit viel Liebe und Gewaltverzicht herangewachsene
Personen, deren empathisches Vermögen und Unrechtsempfinden voll
ausgeprägt ist: Von klein auf respektierte Kinder werden mit offenen
Ohren und Augen durch die Welt gehen und gegen Unrecht, Dummheit und Ignoranz
mit Worten und konstruktivem Handeln protestieren können (Evas
Erwachen). Wer in der Wahrnehmung seiner eigenen Gefühle nicht
manipuliert worden ist, braucht nicht zu fürchten, gegenüber Politik
und Medien manipulierbar zu sein.
Doch auch gutzuheißende politische Aktivität, beispielsweise
demokratischer oder antifaschistischer Natur, mag in der Gefangenschaft im
Paradigma der Erziehung gründen: Eine politische Tätigkeit kann
aus dem unbewußten Zorn des missbrauchten, gefangenen, ausgebeuteten,
dressierten Kindes gespeist werden. Im Kampf gegen Institutionen kann dieser
Zorn zum Teil abgeführt werden, ohne daß die Idealisierung der
eigenen konkreten Mutter aus der frühen Kindheit aufgegeben werden
muß. Die alte Hörigkeit wird dann auf neue Objekte verschoben
(Am Anfang war Erziehung).
Konsequent dem Erklärungsmuster vertrauend, dass gesellschaftliche
Unmenschlichkeit nicht möglich ist ohne entsprechende psychische
Deformation der Gesellschaftsinsassen, widmete sich Alice Miller in ihren
letzten Jahren der Friedensforschung. In Briefen und Petitionen wandte sie sich
an die Mächtigen der Welt mit der Bitte, sich in ihrem politischem und
geistlichem Wirken für ein Züchtigungsverbot gegenüber Kindern
einzusetzen; in einem Interview mit der Süddeutschen vom 12.10.2001
forderte sie ein Gesetz, das Schlagen von Kindern sofort und global unter
Strafe zu stellen dem Weltfrieden zuliebe.
Die Zielvorstellung, Pädagogik überhaupt abzuschaffen, entzieht sich
dem gesunden Menschenverstand ungefähr so wie die vom Kommunismus
also von einer Sozietät, zu deren Teilhabe man nicht mehr
gewaltförmig sozialisiert werden müsste. Denn was sich in Erziehung
vermittelt, heutzutage wie zu Freuds Zeiten, ist nicht weniger als die
Konstituierung zum bürgerlichen Subjekt. Dieses basiert auf dem Selbst,
einer übergreifenden Instanz in der Persönlichkeit, die Ich, Es und
Über-Ich und sämtliche Objektrepräsentanzen enthält und
psychische Funktionen wie Selbstwahrnehmung, Kommunikations- und
Bindungsfähigkeit ausübt. Im Selbst, wie es sich im
Sozialisationsprozess ausbildet, werden Herrschaft, Selbstkontrolle und
-disziplin verankert, die nicht erst den Kapitalismus, sondern Kultur
überhaupt ermöglichten. Triebverzicht, wie er jedem Kind schmerzvoll
eingebläut wird, ist die Grundlage aller Kultur (und der Mensch ist nur
als kulturelles Wesen vorstellbar). Sozialisation wiederholt auf individueller
Ebene die Menschheitsentwicklung von Jahrtausenden: Furchtbares hat die
Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische,
zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und
etwas davon wird in jeder Kindheit wiederholt (Adorno/Horkheimer, Dialektik
der Aufklärung).
Angesichts der von Miller selbst betonten vollständigen Abhängigkeit
des Menschenkindes, dieser instinktarmen Frühgeburt (Georg
Gröller), die auf Einbettung in ein soziales Umfeld angewiesen ist, finde
ich es äußerst fragwürdig, von einem Standpunkt der Einsicht in
die Notwendigkeit von Zivilisation auf Erziehung verzichten zu wollen
wenn Erziehung einfach definiert wird als intentionsgesteuerte
Einsozialisierung in eine menschliche Gemeinschaft. Diese Eingliederung
erfordert die Anpassung, den Aufschub und auch die Aufgabe von
Bedürfnissen zugunsten der Gemeinschaft. Solche anspruchsvollen
Bewältigungsstrategien erlernt die kindliche Psyche nicht freiwillig oder
aus Lust an der Individualisierung, sondern um ihr bloßes Überleben
zu sichern, das von der Gunst der Übermenschen Mutter, Vater,
Kindergärtner etc. abhängt.
Nur so lässt sich auch die Frage nach dem Ursprung des aufs Kind
projizierten Bösen, die sich bei der Lektüre von Millers Werken
aufdrängt, psychologisch beantworten: Das Böse ist ein dem Menschen
eigentümliches Phänomen, das sich aus dessen stammesgeschichtlicher
Entwicklung hin zum Kulturwesen erklärt. Das Böse ist das Verbotene.
Kultur fordert Verzicht, Verzicht fordert Verbote. Der individuelle, produktive
Umgang mit den auferlegten Verboten bringt das Selbst und schließlich die
Persönlichkeit hervor, die überhaupt erst fähig ist, sublimere
Bedürfnisse zu empfinden als diejenigen nach Nahrung, Schlaf, Wärme,
Sex. Zu diesen höher entwickelten Bedürfnissen gehört auch die
Bindung an bestimmte andere Menschen, d. h. das Vermögen zu lieben, sei es
den Geschlechtspartner, die eigenen Nachkommen oder in besonders ekligen
Fällen die deutsche Fußballnation.
Wie Erziehung im Einzelfall aussieht, welche Werte, Verhaltens- und
Empfindungsweisen wie vermittelt werden, ist natürlich eine andere
Baustelle die Alice Miller gehörig bearbeitet hat. Es ist ein
gewaltiger Unterschied, ob ein Kind unter brutalen Schlägen
heranwächst oder unter achtsamen, zärtlichen Eltern, die sich in ihr
Kind einfühlen können und bestrebt sind, jede unnötige
Verletzung zu vermeiden. Jedoch wird Erziehung im Bestehenden nicht
aufhören können, Zurichtung zu sein, die Kindern Schmerz und Gewalt
antut. Insofern ist Alice Millers Ruf, Erziehung abzuschaffen, tatsächlich
ein revolutionäres Anliegen.(7)
4. Erziehungskritik für alle!
Immer wieder wurde an Alice Miller der Vorwurf der übergroßen
Volkstümlichkeit ihrer Lehren gerichtet, die auf Kosten der theoretischen
Differenziertheit gehe. Im Nachruf der New York Times vom 26.4.2010
heißt es salopp, bei Alice Miller handle es sich um das missing
link between Freud and Oprah.(8)
Unbestritten ist, dass Miller, nachdem sie sich einmal den Kampf für die
Rechte des geschundenen Kindes auf die Fahne geschrieben hatte,
lebenslänglich ihre missionarischen Bahnen zog. Ihr Weg als
Wissenschaftlerin zeitigt seine besondere Variation der Problematik von Theorie
und Praxis: Die Energie, die Millers öffentliches Agieren und die
Verbreitung ihrer Lehre und, damit einhergehend, deren Popularisierung
sie kostete, geht zu Lasten ihrer wissenschaftlichen Feinheit und ihrer
Offenheit für andere Erklärungsmuster.
Millers stereotyper Verweis auf die unglückliche Kindheit mutet
zugegebenermaßen oft monistisch an: So berichtet sie von Jesu guter
Kindheit und von der weniger guten Adolf Hitlers, Josef Stalins und Christiane
F.s vom Bahnhof Zoo. Bedenklich sind auch ihre sehr linearen Verbindungen nicht
allein zwischen Individuellem und Gesellschaftlichem, sondern ebenso zwischen
Körperlichem und Seelischem; wie am Fallbeispiel des Mannes, der seine
Kindheitswahrheit nicht aussprechen durfte und in der Folge an Lippen- und
Zahnfleischkrebs erkrankte, deutlich wird (Evas Erwachen).
Diese sehr plakativen Beispiele scheinen mir damit zusammenzuhängen, dass
die jüngeren Bücher, etwa Evas Erwachen von 2001, theoretisch
nicht sehr ergiebig sind, vielmehr die Einsichten der älteren auf
möglichst anschaulichem Niveau wiederholen. Dazu zieht Miller bekannte
Narrative heran wie die biblische Schöpfungsgeschichte und den
neurophysiologischen Gemeinplatz, dass alle Erfahrungsmöglichkeit von der
individuellen, frühkindlichen Prägung des Gehirns bedingt ist. Auch
bemüht sie sich verstärkt um eine bildhafte, mitunter blumige
Ausdrucksweise: Um diese [Verdrängung] zu entschärfen, brauchen
wir Therapeuten, Berater, Lehrer, die die Emotionen des Erwachsenen nicht als
einen Urwald empfinden, sondern als Früchte, manchmal giftige Früchte
einer verfehlten Besamung, deren Wirkung mit Hilfe des Wissens aufgehoben
werden kann, um Platz zu machen für Pflanzen, die niemandem schaden
werden (Evas Erwachen). Um möglichst viele Erziehungsberechtigte
zu erreichen, hütete sie sich, ihre revolutionäre Botschaft in
Fachzeitschriften und -verlagen oder auch einer Art
erziehungswissenschaftlichem Kapital niederzulegen.
Aus der Art ihrer Publikationen geht hervor, dass es Miller, die den
empathischen Zugang zu ihrer Kindheit nach zahlreichen Therapien auf eigene
Faust übers Malen fand(9), nicht darum zu tun war, akademische Erfolge zu
feiern oder in der Kinderpsychologie eine Miller'sche Schule zu etablieren; aus
ihren Schriften spricht die Sorge um jedes einzelne Kind, das unter
ungünstigen Verhältnissen groß wird. Eine solche Haltung
erfordert einen radikal subjektiven und verantwortungsvollen Bezug zum
Gegenstand des eigenen Forschens und Lehrens, der mir große Bewunderung
abnötigt.
Millers bedingungslose Solidarisierung mit dem Kind mithin mit den
Schwachen der Gesellschaft, die immer des Schutzes bedürftig sind
setzt genau dort an, wo sich linke Gesellschaftskritik traditionell verortet.
Einen zweiten Berührungspunkt zwischen Alice Millers Kampfgeist und mir
als Kritikerin sehe ich in der nahe liegenden Erkenntnis, dass dem kritischen
Denken gerade auf persönlicher Ebene die psychologische Zutat Not tut:
weil sie eine Verbindung vom Individuum zum großen Ganzen zieht.
Gesellschaftskritik im Sinne der Kritischen Theorie macht im Allgemeinen
persönlich unglücklich wenn sie nicht (entgegen dem bekannten
Adorno-Bonmot) mit einer Perspektive verbunden wird, die ein Stückchen des
ersehnten guten Lebens im eigenen Leben zu realisieren vermag. Die
psychologischen Annahmen, dass es etwas wie eine innere Wahrheit gebe,
Echtheit, eine unleugbare Essenz, sind durchaus annehmbar und notwendig,
möchte ich meinen, will man sich selbst in ein Verhältnis zum
Gegenstand der Kritik setzen. Es existiert ja ein objektiver Widerspruch
zwischen Selbst und Außenwelt, dessen Reibung in Ersterem Kritik
entzündet.
Natürlich ist die eigene Konstitution nicht abzustreifen. Aber es ist wohl
möglich, vermittels intellektueller und emotionaler Auseinandersetzung
wie sie Psychotherapie bietet, kritische Lektüre und ein
aufrichtiges Verhältnis zu sich selbst ein wenig diese Ketten zu
lockern, eine gewisse Freiheit dem eigenen Geworden-Sein gegenüber zu
gewinnen. Der Gewinn, nämlich Lebendigkeit, d. h. die Freiheit,
spontan auftretende Gefühle leben zu können (Das Drama des
begabten Kindes) das große Glück, man selbst zu sein
, lohnt allemal die Mühe, sich mit der eigenen Vergangenheit zu
beschäftigen.
Ich wünsche Alice Miller eine fortwährend breite Leserschaft und
einen ehrenvollen Platz im Olymp der großen Psychologinnen und
Psychologen.
Korinna Linkerhand