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Aktuelles Heft

INHALT #179

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Editorial
• das erste: Linke Sprache, schwere Sprachen
„Dumbshit“
Future Islands
„Live-gespielte Clubmusik“
»Voller Entsetzen aber nicht verzweifelt«
Keith Caputo & Band
The Chap, Bachelorette
Burning Fight Tour
Who Knew
Tanzstern Galactica
Benefizdisco
Dark Tranquility, Insomnium
electric island
Rassismus? Kein Problem für Dich?
Das Geschlecht des Situationismus
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• review-corner buch: Geschichtsstunde mit Maos Gespenstern
Revolutionärin im Dienst des Kindes
Why Theory?
• doku: Redebeitrag des Bündnis gegen Antisemitismus
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„Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! – Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. […] Aber müßte man nicht in seinem Leben wie in einem Haus treppauf und treppab gehen können? Was soll die schönste erste Etage ohne den Keller mit den duftenden Obstborten und ohne das Erdgeschoß mit der knarrenden Haustür und der scheppernden Klingel? Nun – die meisten leben so! Sie stehen auf der obersten Stufe, ohne Treppe und ohne Haus, und machen sich wichtig. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch!“
Erich Kästner, Ansprache zum Schulbeginn

Revolutionärin im Dienst des Kindes

Nachruf auf Alice Miller

Am 12. April dieses Jahres verstarb im Alter von 87 Jahren die Schweizer Psychologin und Kindheitsforscherin Alice Miller. Ihr Werk und Wirken möchte ich einführend vorstellen, und zwar unter Aspekten, die mir besonders interessant sind: Millers Abwendung von der Psychoanalyse als Therapieform wie als Theorie, die der psychischen Wahrheit des Kindes nicht gerecht werde, und schließlich von Erziehung überhaupt.

1. Was Pädagogik anrichtet

In ihren beiden bekanntesten Büchern, Das Drama des begabten Kindes (1979) und Am Anfang war Erziehung (1980) erklärt Miller frühkindliche Traumatisierung durch pädagogischen Ehrgeiz zur Wurzel allen Übels. Bereits die Praktiken, Säuglinge schreien zu lassen und mit Klapsen zu bedenken, hinterlassen tiefe Spuren in der Psyche des Kindes, das noch lernen muss, Mechanismen auszubilden, um mit der Erfahrung von Mangel, Frustration und zeitweiligem Liebesentzug fertig zu werden. Für das Kleinkind ist die Abwesenheit seiner Bezugsperson(1) und deren Weigerung, seine Bedürfnisse nach Nahrung, Streicheln, Trockenlegen sofort zu erfüllen, existenziell bedrohlich; es weiß noch nichts von Triebaufschub, Sublimierung etc. und wird, sobald es Mangel empfindet, überflutet von Angst und Stress. Wird das Kind bereits in dieser frühen Phase erzogen, d. h. muss es sich auf die Absichten und die Bedürfnislage der Bezugsperson einstellen und gar mit Sanktionen rechnen, erfüllt es diese Anforderungen und hört zu schreien und zu jammern auf – um seines Überlebens willen. Aus seiner völligen Abhängigkeit resultiert die unbedingte Anpassungsbereitschaft des Kindes. Um Liebe und Zuwendung zu erhalten, verdrängt es sowohl die Sanktionen als auch das unerwünschte Bedürfnis selbst.
Dieser Verdrängungsprozess setzt sich fort mit der Reinlichkeitserziehung, der Vermittlung der Fähigkeiten, nach der Uhr zu essen, sich selbstständig anzukleiden, zur Schule zu gehen und dort stillzusitzen und der Lehrerin nicht zu widersprechen usw. Mit der sich stetig erneuernden Verdrängung einher geht die Unmöglichkeit, Leid zu artikulieren und sich dagegen zu wehren. Die Notwendigkeit, seine Eltern zu lieben, zwingt das Kind, die narzisstische Wut über Bestrafung und die Missachtung seiner Bedürfnisse zu verdrängen.
Das Trauma, sich nicht ausdrücken zu dürfen – quasi nicht man selbst sein zu dürfen –, verharrt im Unbewussten, entzieht sich so jeder Bearbeitung, auch positiven Erfahrungen, die es relativieren könnten, und tritt erst im Verhalten gegenüber dem eigenen Kind wieder zutage. In der Erziehung rächen Mütter und Väter unbewusst das ihnen angetane Leid. Auch umgängliche, zartfühlende Menschen mit fortschrittlichen Ansichten unterliegen laut Miller dem sadistischen Zwang, an ihren Kindern das Leid ihrer eigenen Kindheit zu wiederholen, und halten an der angeblichen Notwendigkeit fest, ihnen den Willen zu brechen, ihnen die Erfüllung und sogar die Äußerung ihrer Wünsche zu verbieten, sie mit Blicken und ironischem Umgang zu demütigen und gar körperlich zu züchtigen. Indem sie sich mit dem Elternteil von einst identifizieren, dem ab und zu (oder auch regelmäßig) die Hand ausgerutscht ist, agieren Eltern ihre Traumata aus und sind dabei empathisch unempfänglich für den Schmerz des Kindes, den sie selbst nie erleben durften. Diese nächste Kindergeneration, die unter Schlägen und harten Worten aufwächst, ist genauso wie vor ihnen ihre Eltern gezwungen, den elterlichen Sadismus zu verdrängen und Mutter und Vater zu idealisieren. Auf diese Weise, führt Miller aus, reproduziert sich Gewalt über Generationen hinweg. Die früh ausgebildeten und während der gesamten Sozialisation verstärkten Abwehrmechanismen hindern den Erwachsenen, seine Kindheitswahrheit ins Bewusstsein heraufzuholen, mithin zu versprachlichen und zu integrieren. Da laut Miller die allermeisten Menschen erziehungsgeschädigt sind, entzieht sich die kritische und einfühlsame Betrachtung der hilflosen, beängstigenden Lebenssituation von Kindern überhaupt der Kommunikation auf öffentlicher Ebene. Auch in der pädagogischen Diskussion und in Erziehungsratgebern wird „blind“ diskutiert – weil eben die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht in der Lage sind, die Verletzungen und Traumata des missbrauchten Kindes zu sehen, und stattdessen die eigenen internalisierten Ansichten und Verbote verteidigen.

Man mag geneigt sein, dies düstere Bild, das Alice Miller vor dreißig Jahren zeichnete, für anachronistisch zu halten und sich darüber zu beruhigen, dass die sogenannte „Schwarze Pädagogik“(2) seitdem von vielen Seiten angegriffen und sogar gesellschaftlich geächtet wurde (sodass Vati nicht einmal mehr in Bayern zum Rohrstock greifen darf) und es mittlerweile zahlreiche pädagogische Modelle gibt, die den Bedürfnissen und Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern mehr Raum lassen. – Das soll nicht bestritten werden. Es bleibt aber Millers Einwand zu bedenken, nach dem es eine hilfreiche Strategie der Rationalisierung ist, Unrecht, das der eigenen Geschichte gefährlich nahe kommt, räumlich und zeitlich zu verlegen, nach dem Muster: Im Mittelalter/in der Zone waren sie freilich schrecklich zu ihren Kindern, aber heute … Heute fahre ich mit der Straßenbahn durch Leipzig und beobachte, wie Mütter und Väter ihre Gören anschreien, sie beschimpfen und an ihnen reißen. Die große Brutalität, die sich in diesem bisschen Empirie offenbart – z. B. das „Nimm dich zusammen, sonst …!“, das eine Mutter ihrer kleinen Tochter überlaut ins Ohr zischt – zeugt nicht eben von zeitgenössischem Kinderglück.
Überdies halte ich es für wichtig zu beachten, dass die Beziehung zum Kind – neben der romantischen Liebe vielleicht – für Erwachsene die Bindungsform ist, die die größten regressiven Anteile birgt. Das leibliche Kind, das, wie seit Freud bekannt, von den Eltern zunächst als Teil der eigenen Person betrachtet wird, ist wehrlose Projektionsleinwand für Wünsche und Verletzungen, denen nachzuspüren an die nur schwer reflektierbaren Tiefen des eigenen Triebschicksals rührt.

2. Abschied von der Psychoanalyse

Den Zugang zur verdrängten Wahrheit der frühen Jahre (sowohl ihrer Patientinnen und Patienten als auch in eigener Sache) suchte Alice Miller lange über den psychoanalytischen Weg zu gewinnen; jedoch stellte sie im Laufe der Jahrzehnte fest, dass die langen Schatten der Schwarzen Pädagogik auch auf die Psychoanalyse fallen. Miller formulierte eine immer schärfere Kritik derselben, die darin mündete, dass sie 1988 aus der schweizerischen und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung austrat und sich fortan dagegen verwahrte, als Analytikerin bezeichnet zu werden oder Analysen zur Aufarbeitung der individuellen Vergangenheit zu befürworten – „weil sie die Verwirrung aus der Kindheit zementieren, statt sie aufzulösen“, begründet sie im aktualisierten Vorwort zu Das Drama des begabten Kindes. Wie sie zu diesem Urteil gelangte, soll im Folgenden skizziert werden.
„Das Kind ist immer unschuldig. […] Die psychoanalytische Lehre der ‚infantilen Sexualität' unterstützt die Blindheit der Gesellschaft und legitimiert den Mißbrauch des Kindes. Sie beschuldigt das Kind und schont den Erwachsenen“, schreibt Miller in Du sollst nicht merken (1981). Sigmund Freuds Umschwung von der Verführungs- zur Triebtheorie(3) interpretiert sie als die Diskretion des wohlerzogenen Kindes seiner Zeit, das, seiner aufklärerischen Intention zuwiderlaufend, die introjizierten Eltern schützen musste: Denn betrachtet die Verführungstheorie das Kind noch als Objekt der sexuellen Verführung durch seine Eltern, avanciert es in Letzterer zum Urheber sexueller (eben „böser“ und perverser) Wünsche gegenüber den Eltern – Wünsche, die im Erziehungsprozess desexualisiert und zivilisiert werden müssen. Miller kritisiert, dass Freud die Missbrauchserfahrungen, von denen seine Hysterikerinnen und Neurotikerinnen zuhauf berichteten, nunmehr als Phantasien abtat, resultierend aus den ödipalen Triebwünschen der Patientinnen. „Daß die Eltern ihrerseits sexuelle und aggressive Phantasien auf ihr Kind nicht nur projizieren, sondern auch an ihm befriedigen können, weil sie die Macht besitzen, wurde aus dieser Theorie begreiflicherweise ausgespart“ (Am Anfang war Erziehung). Aggressionen des Kindes subsumierte Freud nunmehr dem Todestrieb, einem dem Menschen eingeborenen Trieb, unvermeidlich und unauslöschlich wie der Sexualtrieb. Auch an der Analytikerin Melanie Klein – die eine Psychologie des Kleinkindes entwarf – kritisiert Miller, dass frühkindlicher Hass von ihr als triebhaft, mithin angeboren gedeutet werde, nicht als reaktiv.

Um sich aus dem Gefängnis des „falschen Selbst“(4) zu befreien, bedarf es der rationalen Aufklärung ebenso wie der empathischen Begleitung – eine Funktion, dessen Träger Miller den „Zeugen“ nennt. Auch Kinder aus schlimmsten Verhältnissen können vor der totalen Selbstverleugnung gerettet werden, wenn in ihrer Biographie „helfende“, vielleicht sogar „wissende Zeugen“ auftreten. Als „helfenden Zeugen“ charakterisiert Miller in Das verbannte Wissen (1988) eine Person, die dem Kind sein Elend glaubt, es tröstet und ihm so ermöglicht, sein Leid als Unrecht zu durchschauen (ein Freund etwa, eine liebevolle Tante oder Nachbarin); „wissend“ wird ein Zeuge, wenn er außerdem darin geschult ist, dem Kind beim Bewusstwerden und bei der Verarbeitung seiner Traumata beizustehen. Die Eignung zum „wissenden Zeugen“ spricht Miller der psychoanalytischen Zunft mehr und mehr ab. Sie wirft ihr vor, sich apologetisch mit den verinnerlichten Eltern einer Analysandin zu identifizieren statt mit deren verdrängter Kindheitsnot. Immer wieder betont Miller, dass es nicht rechtens ist, sich hinter einem psychologischen Lehrgebäude zu verschanzen, ohne sich den Besonderheiten des einzelnen Schicksals emotional zu öffnen.
Daran hapert es, so Alice Miller, nicht allein in der psychoanalytischen Theorie, sondern ebenso in der Analysepraxis: In Das Drama des begabten Kindes vermutet sie, dass Menschen, die die langjährige Ausbildung zum Psychoanalytiker auf sich nehmen, um sich in leidende Mitmenschen einzufühlen und ihnen zu helfen, häufig selbst narzisstisch bedürftig sind, also nicht frei, ihre Analysanden als von sich abgetrennte Personen mit einer eigenständigen Geschichte wahrzunehmen. Gefangen in ihrem eigenen Kindheitsdrama, tendieren sie dazu, sie narzisstisch zu gebrauchen – ihnen, wie Eltern ihrem Kind, unbewusst ihre eigenen Vorstellungen und Werte zu oktroyieren, verbrämt in analytischer Terminologie, ohne den leidenden Menschen auf der Couch wirklich wahrzunehmen. Solchermaßen blind, unterliegt die Analytikerin denselben gesellschaftlichen Tabus wie ihre Analysandin: „Es fällt ihnen leichter, mit den Patienten die von Freud längst aufgedeckten sexuellen Zwänge und Verbote, die oft nicht mehr die unseren sind, zu verfolgen, als Verleugnungen unserer Zeit, d. h. auch diejenigen ihrer eigenen Kindheit aufzudecken.“ Wie sich in solchen Fällen die theoretische Verdrängung in der Lehre mit der individuellen Verdrängung ihrer Vertreter gegen das geschundene Kind verbündet, diskreditiert in Millers Augen die Psychoanalyse zutiefst.

Zu einer ausführlichen Verteidigung der Psychoanalyse mangelt es mir an Detailwissen und an Platz; daher sei nur kurz anhand einiger weniger Punkte angemerkt, dass meines Wissens und meiner Erfahrung nach es sich nicht ausschließt, Alice Millers Ansichten gutzuheißen und dennoch die Psychoanalyse als ein Gedankengebäude hochzuhalten, das einerseits Menschenleid therapeutisch beseitigen hilft und andererseits kulturtheoretisch und gesellschaftskritisch fruchtbar wird.
Miller erkannte und beanstandete, dass Debatten um die richtige Erziehung von Schuldzuweisungen bestimmt sind, die den feindlichen Graben zwischen Erziehungsgeschädigten und deren Eltern/ehemaligen Lehrern nur vertiefen helfen. Ob dieser Missstand jedoch der Psychoanalyse zur Last gelegt werden muss, finde ich zweifelhaft. Mir ist nicht bekannt, dass Freud – oder seine Nachfolgerinnen und Nachfolger auf psychoanalytischem Feld – mit dem moralischen Begriff der Schuld gearbeitet hätten. Freud konstatiert vielmehr als Arzt einen gesellschaftlichen Normierungsdruck, unter dem seine Patienten leiden; diesen affirmiert er nicht durchgängig wie z. B. im haarsträubenden Bericht über seinen Versuch, eine junge Lesbe zu heilen (s. Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität). Die zahlreichen Versagungen und Anpassungsleistungen, die die Sozialisation dem Individuum abverlangt, bewertet Freud durchaus als bedenklich, so im späten Essay vom Unbehagen in der Kultur. Freuds detaillierte Beschreibungen des bürgerlichen Normalzustands sind verschiedentlich, nicht zuletzt in der Freud-Rezeption der Kritischen Theorie, gesellschafts- und erziehungskritisch interpretiert worden.
Obendrein sind einige Theoreme, die Miller der Psychoanalyse vorwirft, weil sie zu Lasten des unglücklichen Kindes im Analysanden gehen, innerhalb der psychoanalytischen Diskussion umstritten oder gar ad acta gelegt. So hat z. B. Heinz Kohut die Wichtigkeit einer nicht allein distanziert beobachtenden, sondern auch einfühlsamen Haltung des Analytikers betont; und Freuds Konzept vom Todestrieb wird meines Wissens von nicht wenigen analytischen Schulen abgelehnt.
Millers Kritik ist einer eingehenden selbstkritischen Überprüfung von analytischer Seite sicherlich würdig, muss aber nicht dazu führen, die Psychoanalyse als Ganzes zu stürzen – auf deren Modellen und Terminologie Millers Erkenntnisse schließlich aufbauen.

3. Abschied von Erziehung (Antipädagogik)

Bereits 1980, noch vor ihrem endgültigen Bruch mit der Psychoanalyse, war sich die Kindheitsforscherin darüber im Klaren, dass an Erziehung generell nichts zu retten ist: „Im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Meinung kann ich dem Wort ‚Erziehung' keine positive Bedeutung abgewinnen. Ich sehe in ihr die Notwehr des Erwachsenen, die Manipulation aus der eigenen Unfreiheit und Unsicherheit, die ich zwar verstehen kann, deren Gefahren ich aber nicht übersehen darf“ (Am Anfang war Erziehung). Nicht nur Schwarze Pädagogik, die offen mit Einschüchterung, Drohung und körperlicher Züchtigung operiert, auch Verwöhnung und „sanfte Gewalt“ – die Erziehungsmittel wie Überreden, enttäuschte Blicke, Ablenkung des Kindes von seinen Bedürfnissen umfasst –, wirken zerstörerisch auf das Herausbildung der Persönlichkeit. Auch antiautoritäre Pädagogik schimpft Miller eine schädliche Ideologie – da vom Kind ebenjenes unkonventionelle und aggressive Verhalten erwartet wird, das seine Eltern sich retrospektiv für ihre eigene Kindheit wünschen; damit steht es genauso unter elterlichen Imperativen wie autoritär erzogene Kinder. Der erste Satz von Alice Millers Antipädagogik ist: Jedes absichtsvolle Biegen und Formen des Kindes ist schlecht. Alle Erziehungsabsichten entstammen unbearbeiteten Traumata – der eigenen Kindheitsnot der Eltern –; die daraus sich ergebenden Ansprüche ans Kind vermitteln ihm unbewusst, wie es sich zu verhalten und wie es zu empfinden habe. Sie erfordern eine Anpassung, die letztlich zu lebenslänglicher Selbstentfremdung führt.
Miller betont, dass Kinder, an denen nichts erzogen wird, nicht im luftleeren Raum oder in einem irgendwie gearteten Naturzustand groß werden. Wie sie sich ein Heranwachsen ohne Erziehung vorstellt, umreißt sie in Am Anfang war Erziehung: „Das heißt aber nicht, daß das Kind ganz wild aufwachsen kann. Was es für seine Entfaltung braucht, ist der Respekt seiner Bezugspersonen, die Toleranz für seine Gefühle, die Sensibilität für seine Bedürfnisse, die Echtheit seiner Eltern, deren eigene Freiheit – und nicht erzieherische Überlegungen – dem Kind natürliche Grenzen setzt.“ Konkretere Vorstellungen gibt sie nicht; was Eltern anstreben sollen, ist eben nicht die korrekte Zähmung des Kindes, sondern die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen inneren Kind.

Interessant auch, mit welcher Radikalität Alice Miller ihre antipädagogische These auf die politische Ebene ausweitet: Folge einer Vielzahl erziehungsgeschädigter Individuen ist eine emotional beschädigte und nicht empathiefähige Gesellschaft – und umgekehrt. „Je mehr man Einsicht gewinnt in die ungewollte, unbewußte Manipulation der Kinder durch die Eltern, desto weniger bleiben einem Illusionen über die Veränderbarkeit der Welt und die Neurosen-Prophylaxe erhalten“, schreibt sie in Das Drama des begabten Kindes. An zahlreichen historischen Beispielen zeichnet Miller nach, wie die Erziehung zum Befehlen und Gehorchen und zur Verleugnung von Schwäche den Boden für autoritäre und totalitäre Gesellschaftsordnungen bildet. Die Opfer der Schwarzen Pädagogik tragen – je nach individueller Ausprägung und Verarbeitung dieser Erziehungstortur – in sich das Potenzial zum Verbrecher und zum staatlichen Folterknecht.
Miller erinnert hier an die These von Hitler als Vaterersatz der mit Hilfe von Blut, Eisen und Sauberkeitswahn erzogenen Deutschen, die immerzu ihre eigenen Gefühle abspalten mussten und ihr narzisstisches Gleichgewicht bereitwillig übers Marschieren und Morden erhielten(5): „Man haßt den Juden, weil man einen unerlaubten Haß in sich trägt und begierig ist, ihn zu legitimieren“ (Am Anfang war Erziehung). Die durch fortlaufende Idealisierung der Eltern und anderer Autoritätspersonen verdrängte und aufgestaute Frustration der Einzelnen ventiliert sich gesamtgesellschaftlich im staatlich propagierten Judenhass. Mag dies eine etwas kurze und einseitige Erklärung der Ideologie Antisemitismus sein; so ist doch einsichtig, dass ein Kollektiv, das sich beim ersten Gong zum faschistischen Mob formiert, nicht nur von akuter wirtschaftlicher Not und politischer Verstrahltheit motiviert ist, sondern allermindestens ebenso von einem tief internalisierten Verlangen, endlich selbst Gewalt auszuüben.(6)
Auf der anderen Seite, führt sie aus, handelt es sich bei Widerstandskämpfern um mit viel Liebe und Gewaltverzicht herangewachsene Personen, deren empathisches Vermögen und Unrechtsempfinden voll ausgeprägt ist: „Von klein auf respektierte Kinder werden mit offenen Ohren und Augen durch die Welt gehen und gegen Unrecht, Dummheit und Ignoranz mit Worten und konstruktivem Handeln protestieren können“ (Evas Erwachen). Wer in der Wahrnehmung seiner eigenen Gefühle nicht manipuliert worden ist, braucht nicht zu fürchten, gegenüber Politik und Medien manipulierbar zu sein.
Doch auch gutzuheißende politische Aktivität, beispielsweise demokratischer oder antifaschistischer Natur, mag in der Gefangenschaft im Paradigma der Erziehung gründen: „Eine politische Tätigkeit kann aus dem unbewußten Zorn des missbrauchten, gefangenen, ausgebeuteten, dressierten Kindes gespeist werden. Im Kampf gegen Institutionen kann dieser Zorn zum Teil abgeführt werden, ohne daß die Idealisierung der eigenen konkreten Mutter aus der frühen Kindheit aufgegeben werden muß. Die alte Hörigkeit wird dann auf neue Objekte verschoben“ (Am Anfang war Erziehung).
Konsequent dem Erklärungsmuster vertrauend, dass gesellschaftliche Unmenschlichkeit nicht möglich ist ohne entsprechende psychische Deformation der Gesellschaftsinsassen, widmete sich Alice Miller in ihren letzten Jahren der Friedensforschung. In Briefen und Petitionen wandte sie sich an die Mächtigen der Welt mit der Bitte, sich in ihrem politischem und geistlichem Wirken für ein Züchtigungsverbot gegenüber Kindern einzusetzen; in einem Interview mit der Süddeutschen vom 12.10.2001 forderte sie ein Gesetz, das Schlagen von Kindern sofort und global unter Strafe zu stellen – dem Weltfrieden zuliebe.

Die Zielvorstellung, Pädagogik überhaupt abzuschaffen, entzieht sich dem gesunden Menschenverstand ungefähr so wie die vom Kommunismus – also von einer Sozietät, zu deren Teilhabe man nicht mehr gewaltförmig sozialisiert werden müsste. Denn was sich in Erziehung vermittelt, heutzutage wie zu Freuds Zeiten, ist nicht weniger als die Konstituierung zum bürgerlichen Subjekt. Dieses basiert auf dem Selbst, einer übergreifenden Instanz in der Persönlichkeit, die Ich, Es und Über-Ich und sämtliche Objektrepräsentanzen enthält und psychische Funktionen wie Selbstwahrnehmung, Kommunikations- und Bindungsfähigkeit ausübt. Im Selbst, wie es sich im Sozialisationsprozess ausbildet, werden Herrschaft, Selbstkontrolle und -disziplin verankert, die nicht erst den Kapitalismus, sondern Kultur überhaupt ermöglichten. Triebverzicht, wie er jedem Kind schmerzvoll eingebläut wird, ist die Grundlage aller Kultur (und der Mensch ist nur als kulturelles Wesen vorstellbar). Sozialisation wiederholt auf individueller Ebene die Menschheitsentwicklung von Jahrtausenden: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird in jeder Kindheit wiederholt“ (Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung).
Angesichts der von Miller selbst betonten vollständigen Abhängigkeit des Menschenkindes, dieser „instinktarmen Frühgeburt“ (Georg Gröller), die auf Einbettung in ein soziales Umfeld angewiesen ist, finde ich es äußerst fragwürdig, von einem Standpunkt der Einsicht in die Notwendigkeit von Zivilisation auf Erziehung verzichten zu wollen – wenn Erziehung einfach definiert wird als intentionsgesteuerte Einsozialisierung in eine menschliche Gemeinschaft. Diese Eingliederung erfordert die Anpassung, den Aufschub und auch die Aufgabe von Bedürfnissen zugunsten der Gemeinschaft. Solche anspruchsvollen Bewältigungsstrategien erlernt die kindliche Psyche nicht freiwillig oder aus Lust an der Individualisierung, sondern um ihr bloßes Überleben zu sichern, das von der Gunst der Übermenschen Mutter, Vater, Kindergärtner etc. abhängt.
Nur so lässt sich auch die Frage nach dem Ursprung des aufs Kind projizierten Bösen, die sich bei der Lektüre von Millers Werken aufdrängt, psychologisch beantworten: Das Böse ist ein dem Menschen eigentümliches Phänomen, das sich aus dessen stammesgeschichtlicher Entwicklung hin zum Kulturwesen erklärt. Das Böse ist das Verbotene. Kultur fordert Verzicht, Verzicht fordert Verbote. Der individuelle, produktive Umgang mit den auferlegten Verboten bringt das Selbst und schließlich die Persönlichkeit hervor, die überhaupt erst fähig ist, sublimere Bedürfnisse zu empfinden als diejenigen nach Nahrung, Schlaf, Wärme, Sex. Zu diesen höher entwickelten Bedürfnissen gehört auch die Bindung an bestimmte andere Menschen, d. h. das Vermögen zu lieben, sei es den Geschlechtspartner, die eigenen Nachkommen oder – in besonders ekligen Fällen – die deutsche Fußballnation.
Wie Erziehung im Einzelfall aussieht, welche Werte, Verhaltens- und Empfindungsweisen wie vermittelt werden, ist natürlich eine andere Baustelle – die Alice Miller gehörig bearbeitet hat. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ein Kind unter brutalen Schlägen heranwächst oder unter achtsamen, zärtlichen Eltern, die sich in ihr Kind einfühlen können und bestrebt sind, jede unnötige Verletzung zu vermeiden. Jedoch wird Erziehung im Bestehenden nicht aufhören können, Zurichtung zu sein, die Kindern Schmerz und Gewalt antut. Insofern ist Alice Millers Ruf, Erziehung abzuschaffen, tatsächlich ein revolutionäres Anliegen.(7)

4. Erziehungskritik für alle!

Immer wieder wurde an Alice Miller der Vorwurf der übergroßen Volkstümlichkeit ihrer Lehren gerichtet, die auf Kosten der theoretischen Differenziertheit gehe. Im Nachruf der New York Times vom 26.4.2010 heißt es salopp, bei Alice Miller handle es sich um das „missing link between Freud and Oprah“.(8)
Unbestritten ist, dass Miller, nachdem sie sich einmal den Kampf für die Rechte des geschundenen Kindes auf die Fahne geschrieben hatte, lebenslänglich ihre missionarischen Bahnen zog. Ihr Weg als Wissenschaftlerin zeitigt seine besondere Variation der Problematik von Theorie und Praxis: Die Energie, die Millers öffentliches Agieren und die Verbreitung ihrer Lehre – und, damit einhergehend, deren Popularisierung – sie kostete, geht zu Lasten ihrer wissenschaftlichen Feinheit und ihrer Offenheit für andere Erklärungsmuster.
Millers stereotyper Verweis auf die unglückliche Kindheit mutet zugegebenermaßen oft monistisch an: So berichtet sie von Jesu guter Kindheit und von der weniger guten Adolf Hitlers, Josef Stalins und Christiane F.s vom Bahnhof Zoo. Bedenklich sind auch ihre sehr linearen Verbindungen nicht allein zwischen Individuellem und Gesellschaftlichem, sondern ebenso zwischen Körperlichem und Seelischem; wie am Fallbeispiel des Mannes, der seine Kindheitswahrheit nicht aussprechen durfte und in der Folge an Lippen- und Zahnfleischkrebs erkrankte, deutlich wird (Evas Erwachen).
Diese sehr plakativen Beispiele scheinen mir damit zusammenzuhängen, dass die jüngeren Bücher, etwa Evas Erwachen von 2001, theoretisch nicht sehr ergiebig sind, vielmehr die Einsichten der älteren auf möglichst anschaulichem Niveau wiederholen. Dazu zieht Miller bekannte Narrative heran wie die biblische Schöpfungsgeschichte und den neurophysiologischen Gemeinplatz, dass alle Erfahrungsmöglichkeit von der individuellen, frühkindlichen Prägung des Gehirns bedingt ist. Auch bemüht sie sich verstärkt um eine bildhafte, mitunter blumige Ausdrucksweise: „Um diese [Verdrängung] zu entschärfen, brauchen wir Therapeuten, Berater, Lehrer, die die Emotionen des Erwachsenen nicht als einen Urwald empfinden, sondern als Früchte, manchmal giftige Früchte einer verfehlten Besamung, deren Wirkung mit Hilfe des Wissens aufgehoben werden kann, um Platz zu machen für Pflanzen, die niemandem schaden werden“ (Evas Erwachen). Um möglichst viele Erziehungsberechtigte zu erreichen, hütete sie sich, ihre revolutionäre Botschaft in Fachzeitschriften und -verlagen oder auch einer Art erziehungswissenschaftlichem Kapital niederzulegen.
Aus der Art ihrer Publikationen geht hervor, dass es Miller, die den empathischen Zugang zu ihrer Kindheit nach zahlreichen Therapien auf eigene Faust übers Malen fand(9), nicht darum zu tun war, akademische Erfolge zu feiern oder in der Kinderpsychologie eine Miller'sche Schule zu etablieren; aus ihren Schriften spricht die Sorge um jedes einzelne Kind, das unter ungünstigen Verhältnissen groß wird. Eine solche Haltung erfordert einen radikal subjektiven und verantwortungsvollen Bezug zum Gegenstand des eigenen Forschens und Lehrens, der mir große Bewunderung abnötigt.

Millers bedingungslose Solidarisierung mit dem Kind – mithin mit den Schwachen der Gesellschaft, die immer des Schutzes bedürftig sind – setzt genau dort an, wo sich linke Gesellschaftskritik traditionell verortet. Einen zweiten Berührungspunkt zwischen Alice Millers Kampfgeist und mir als Kritikerin sehe ich in der nahe liegenden Erkenntnis, dass dem kritischen Denken gerade auf persönlicher Ebene die psychologische Zutat Not tut: weil sie eine Verbindung vom Individuum zum großen Ganzen zieht. Gesellschaftskritik im Sinne der Kritischen Theorie macht im Allgemeinen persönlich unglücklich – wenn sie nicht (entgegen dem bekannten Adorno-Bonmot) mit einer Perspektive verbunden wird, die ein Stückchen des ersehnten guten Lebens im eigenen Leben zu realisieren vermag. Die psychologischen Annahmen, dass es etwas wie eine innere Wahrheit gebe, Echtheit, eine unleugbare Essenz, sind durchaus annehmbar und notwendig, möchte ich meinen, will man sich selbst in ein Verhältnis zum Gegenstand der Kritik setzen. Es existiert ja ein objektiver Widerspruch zwischen Selbst und Außenwelt, dessen Reibung in Ersterem Kritik entzündet.
Natürlich ist die eigene Konstitution nicht abzustreifen. Aber es ist wohl möglich, vermittels intellektueller und emotionaler Auseinandersetzung – wie sie Psychotherapie bietet, kritische Lektüre und ein aufrichtiges Verhältnis zu sich selbst – ein wenig diese Ketten zu lockern, eine gewisse Freiheit dem eigenen Geworden-Sein gegenüber zu gewinnen. Der Gewinn, nämlich „Lebendigkeit, d. h. die Freiheit, spontan auftretende Gefühle leben zu können“ (Das Drama des begabten Kindes) – das große Glück, man selbst zu sein –, lohnt allemal die Mühe, sich mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen.

Ich wünsche Alice Miller eine fortwährend breite Leserschaft und einen ehrenvollen Platz im Olymp der großen Psychologinnen und Psychologen.

Korinna Linkerhand

Alice.Miller

Anmerkungen

(1) Miller spricht hier immer von der Mutter. In der Einleitung zu Am Anfang war Erziehung räumt sie ein, sich nicht mit dem Faktor des Geschlechts elterlicher Autoritäten befasst zu haben, und betont, mit Mutter „nicht unbedingt die biologische Mutter, ja nicht einmal eine Frau“ zu bezeichnen. – Auch an anderen Stellen finde ich es schade, dass Miller die Geschlechtsspezifität der von ihr so intensiv untersuchten und kritisierten Erziehung vernachlässigt hat.

(2) Siehe hierzu Anti-Pädagogik und die Möglichkeit einer Kritik der Erziehung von Jó, CEE IEH #131.

(3) In Freuds Schriften taucht die Triebtheorie erstmals in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1905 auf.

(4) Diesen Terminus übernimmt Miller vom Kinderanalytiker Donald Winnicott, der damit eine Selbstmanifestation bezeichnet, die eben die unerwünschten Anteile abspaltet und verleugnet.

(5) Damit schlägt sie in dieselbe – plausible – Kerbe wie Margarete und Alexander Mitscherlich mit ihrem Urteil über die „Unfähigkeit zu trauern“ der deutschen Postnazis; denn Trauer ist bedingt durch das empathische Vergegenwärtigen der persönlichen Vergangenheit.

(6) An dieser Stelle ließe sich sinnieren, inwiefern der beschriebene Machtmechanismus mit der frappierenden Grausamkeit zusammenhängt, mit der gerade Frauen in der Mordmaschinerie des Holocaust zu Werke gingen. Zwar hatten die meisten von ihnen Kinder, an denen sie ihr autoritäres Bedürfnis abreagieren konnten; doch waren viele Vertreterinnen des schwachen Geschlechts sicherlich selbst Adressantinnen der Frustration ihres Alten, vor dem sie klaglos buckeln und liebedienern mussten wie einst vor den Eltern.

(7) Die Anregung zu den Überlegungen in diesem Abschnitt verdanke ich den Diskussionen auf dem Psychocamp 2010 in Oberau (bei Niederau).

(8) Gemeint ist Oprah Winfrey, die Moderatorin einer sehr erfolgreichen US-Talkshow, die zwischenmenschliche Probleme eher emotional, über tränenreiche Dialoge, denn über abstrahierendes Theoretisieren angeht.

(9) Sie wurde als Kleinkind von ihrer Mutter geschlagen und hatte als polnische Jüdin Kriegserfahrungen im Gepäck, als sie 1947 in die Schweiz auswanderte. Über diese vermutlich schlimmen Erlebnisse hat Alice Miller jedoch weder geschrieben noch persönlich gesprochen, wie aus dem Spiegel-Interview mit ihrem Sohn Martin Miller vom 3.5.2010 hervorgeht.

23.08.2010
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