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Über die Weltmeisterschaft ist alles gesagt. Auf den Straßen
brüllen die Horden ihre nationalen Hymnen, man möchte sie vermahnen,
doch es werden immer mehr Fahnen. Heiliger Dreck, die Kanaille! Nationen dieser
Welt. Es rollt der Ball, der Panzer auch.
Nur ein Randphänomen soll uns hier interessieren: Für die Zeit der WM
bestimmt der Weltfußballverband FIFA, dass alle Stadien, die nach einem
Sponsoren benannt sind, temporär umgetauft werden müssen. Um den
Exklusivpartnern des Megaevents eine ungestört Präsentation zu
ermöglichen, mussten bereits 2006 in Deutschland für ein paar Wochen
viele neue Schilder gefertigt werden, denn in den letzten zehn Jahren hatte man
tüchtig Branding betrieben: Das Hamburger Volksparkstadion heißt
heute HSH Nordbank Arena, das Waldstadion in Frankfurt Commerzbank-Arena und
die Namensrechte am Nürnberger Frankenstadion hat sich Easy-Credit
gesichert. Statt Volk, Wald und Franken wimmelt es jetzt von Banken? Wir werden
sehen.
Der Symbolwert, den die Fußballfans ihrem Stadion zumessen, kann
indessen gar nicht überschätzt werden weshalb die Sponsoren
auch so viel dafür bezahlen. Und so gehört die Klage über die
fortschreitende Kommerzialisierung heute in jede echte Fankurve. Dort nimmt man
Anstoß an der außergewöhnlichen Wachstumsdynamik der
Sportindustrie der letzten Jahrzehnte:
Borussia Dortmund war hierzulande der erste Bolzklub, der sich an die
Börse traute. Anderswo liefern sich längst Aktiengesellschaften den
sportlichen Wettkampf und werden reihenweise als piccoli divertimenti von
russischen Oligarchen aufgekauft. Auch über die Explosion der
Spielergehälter wurde sich reichlich echauffiert. Die DFL(1) meldet Jahr
für Jahr Rekord-Erlöse durch den Verkauf von Übertragungsrechten
und ist im Gegenzug gern bereit, die Anstoßzeiten der Bundesliga mit dem
Fernsehprogramm abzugleichen.
Lange Zeit unter staatlicher Protektion und Vormundschaft nur begrenzt den
Martkmechanismen ausgesetzt, entwickelt sich der Sportbetrieb zur
zeitgemäßen kulturindustriellen Eventproduction.
Diese Entwicklung zu leugnen wäre nicht weniger dumm, als in das speckige
Klagelied vom Ausverkauf des Fußballs einfach einzustimmen: In der
Kurve besingt man die guten alten Zeiten, als es noch um Sport und nicht ums
Geld ging, und befürchtet wohl, die Bundesliga werde schließlich
amerikanisiert und der Heimatverein zum Franchise.
RB Leipzig: Was bisher geschah
Die angestaute Wut gegen den modernen Fußball entlädt sich
nun in Leipzig: Red Bull ballert im Rahmen seines globalen
Fußballprojekts(2) hundert oder tausend Millionen in den Dorfverein
Markranstädt, um in wenigen Jahren die Champions League zu gewinnen. Auch
in diesem Blatt war bereits davon zu lesen: Die Ultras Red Bulls traten mit
ihrem genialen Schlagwort Red Bull verleiht Prügel an die
Öffentlichkeit und erklärten ihren fanatischen Support mit der
Hoffnung, RB möge nicht nur die Erlebniswelt in Leipzig bereichern,
sondern auch die offene Gesellschaft zelebrieren. Humorvoll geloben die
linken Chaoten dem Getränkekonzern für sie Ausdruck des
besseren Lebens im falschen Ganzen ewige Treue.
Weiterhin meldete sich Andreas Reschke zu Wort, der anschaulich von
Gewaltausbrüchen traditionalistischer Fangruppierungen (Bullen
jagen!) berichtet. Dem Hass auf Red Bull lägen antisemitische Denkmuster
zu Grunde und die Fans protestierten nicht bloß gegen den Ausverkauf
ihres Sports, sondern formierten sich vielmehr zu einer Abwehrkette gegen die
Zivilisation.(3)
Provokation und Apologie
Das Abfeiern von Red Bull ist als Provokation der Ultras, der Horden und
Lynchmobs im ostdeutschen Fußballsumpf durchaus sinnvoll. Im
Entweder-Oder zwischen dem kapitalistischen Betrieb und der totalen Gewalt
wählt man ersteres wohlgemerkt kaum im Bewusstsein vom kleineren
Übel. Was der Nazihool vernichten will, das schreibt man sich auf die
Fahne. Anti-Faschismus in diesem einfachen Sinne ist oft genug
strategische Notwendigkeit, aber alles andere als kritisch. Mir nichts dir
nichts steckt man mitten in der Apologie der Gesellschaft, die den ganzen Dreck
doch hervorbringt. An der beknackten Parole Gegen den modernen
Fußball (spielen da auch Dadaisten mit?) ändert man bloß das
Vorzeichen und ist dann ruckizucki uneingeschränkt dafür. Die
Moderne verkommt zum Kampfbegriff. Ein ganzes Zeitalter entzieht sich
der Kritik. Alles was nicht braun ist, wird babyblau gemalt. So auch der
Stadionbesuch bei Red Bull ein superentspannter Familienausflug mit
Popcorn, Drinks und Zivilisationsbonus. Doch wehe jemand macht den
Spielverderber und redet vom Kommerz(4) altlinke
Lästermäuler! Von Andreas Reschke lernen wir, dass es der
Kommerzialisierung allerdings zu verdanken sei, dass heutzutage endlich
attraktiver Fußball geboten werde!
Wahrhaftig. Im modernen (euphemistisch für: kapitalistischen)
Fußballbetrieb kauft Real Madrid zum Beispiel Christiano Ronaldo für
93.000.000 aus seinem Arbeitsvertrag mit Manchetser United frei. Mit der
gleichen Summe Kapital ließen sich laut Zahlen des
Welternährungsprogramms 1,55 Millionen hungernde Kinder ein Jahr lang mit
Schulspeisung versorgen. Wer aber einfach seinen Fußball genießen
will, überlässt derlei gewiss gewaltig verkürzte
Milchmädchenrechnungen lieber den sogenannten Gutmenschen. Diese zynischen
Hippies hören nicht auf zu nerven, das basale Produktionsmittel des
Fußballbetriebs der Ball nämlich sei von Kinderpfoten
in pakistanischen Industriehöllen zusammengeflickt. So what!
Shalalalala!(5)
Die Frage stellt sich: Was bedeutet es, den ungehemmten (das meint: von den
Produktionsbedingungen der Fußballware absehenden) Verzehr
kulturindustrieller Auswürfe nicht bloß in einem Moment menschlicher
Schwäche zu genießen, sondern diesen Moment der Identität im
Spektakel offensiv als Verteidigung der Moderne theoretisch zu
unterfüttern? Apologie der Gesellschaft:
Vergnügtsein heißt Einverstandensein. Es ist möglich nur,
indem es sich gegenüber dem Ganzen des gesellschaftlichen Prozesses
abdichtet, dumm macht und von Anbeginn den unentrinnbaren Anspruch jedes Werks,
selbst des nichtigsten, widersinnig preisgibt: in seiner Beschränkung das
Ganze zu reflektieren.(6)
Das Spektakel
Ultras RB und Andreas Reschke verharmlosen, freilich aus antifaschistischen
Erwägungen, das Spektakel. Warum nicht die Dinge beim Namen nennen. In den
alten Stadien den Rennbahnen, wo einst olympische Athleten ihre
Runden zogen und voller Ernst die geübten Leiber zur Schau stellten, den
Göttern zum Wohlgefallen will keine so rechte Stimmung mehr
aufkommen. So baut man heute neue Arenen, Kesselarchitektur für
Gladiatorenkämpfe, der Urform des Spektakels: panis et circenses.
Der brutale Bilderrausch im Kolosseum fesselt die Leidenschaften der
Pöbelmassen an das Schauspiel (lat. spectaculum), auf dass die
Ausbeutungsapparatur der römischen Klassengesellschaft anschließend
umso friedlicher sich entfalte.
Das Leben ist selbst ein Gladiatorenkampf. Und bei Red Bull gibt es fesselnden
Fußball zu sehen.
Das Spektakel ist der schlechte Traum der gefesselten, modernen
Gesellschaft, der schließlich nur ihren Wunsch zu schlafen
ausdrückt. Das Spektakel ist der Wächter dieses Schlafes.(7)
Immer perfekter absorbiert das Spektakel alle Phantasie, schafft
Bedürfnisse nach seinem Bilde und überwältigt den Zuschauer als
hohnlachende Erfüllung des Wagnerschen Traums vom Gesamtkunstwerk.(8)
Dass sich die selbsternannten Antikapitalisten Ultras RB ganz arglos den
hoch-klassigen Fußball herbeisehnen, ist eigentlich doch reichlich
komisch: Nie wieder 5. Liga! Es lebe der Aufstieg! Ein Schluck Red Bull und aus
unbeholfenen Stolperknechten werden Grand Seigneurs und Fußball-Kaiser!
Oh ja! Man will dabei sein und gaffen, wenn die europäische
Fußballaristokratie bald auch in Leipzig Gala-Abende veranstaltet. Sieh
mal einer an: Pokale aus echtem Gold! Welch rauschendes Fußballfest,
hallihallo Bullidibumm, du lustiges Vereinsmaskottchen! Wie es alles
hüpft und reizt Cheerleaders, die auch die Pausen des
modernen Fußballs attraktiv gestalten! Unterhaltung auf ganz hohem
Niveau. Da fehlt selbst dem Kritiker der Atem, um sich über die Eigenart
zu wundern, zeitweilig ganz im Falschen aufzugehen.(9)
Verdopplung
Schließlich deutet sich an, dass dem Fußball nur mit
Religionskritik beizukommen ist. Frei nach Marx: Das sportliche
Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die
Protestation gegen das wirkliche Elend. Der Sport ist der Seufzer der
bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie er der Geist
geistloser Zustände ist. Er ist das Opium des Volks.(10)
Die alte heile Fußballwelt war ideologische Verdopplung.(11) Wie in der
Politik galt auch im Stadion: Hier sind wir alle gleich. Die Antagonismen der
Klassengesellschaft spielten auf den Rängen keine Rolle, hier stand jeder
seinen Mann, man brüllte und trank Schulter an Schulter, ging auf
in scheinbarer Gemeinschaft. Auch verdoppelte Solidarität gab es da:
Spieler und Fans gemeinsam durch dick und dünn. Und über allem
der Gedanke der Fairness: Ist die irdische Arbeitswelt schon undankbar und
schlecht, soll wenigstens im Stadion Gerechtigkeit herrschen. Die Frage, ob ein
Sieg verdient sei oder nicht, entfacht im Fussballerherz die größte
Leidenschaft. Nur wer literweise Schweiß in den Boden versenkt, soll
herrliche Früchte ernten!
Die kulturindustrielle Inszenierung des Fußballs zieht nun deshalb so
viel Hass auf sich, weil sie die alte Fußballreligion entweiht!
Plötzlich baut man VIP-Logen unter das Dach, hinter getöntem
Panzerglas lässt der Chef die Champagnerkorken knallen. Die einst so
treuen Spieler wechseln den Verein wie die Unterhosen. Gewinnen tut nicht mehr,
wer kämpft, es genügt vollkommen zu besitzen. Die nur zu
verständliche Hoffnung, diese irdische Ordnung möchte nicht die
einzig wirkliche sein(12), wird bitter enttäuscht. Man hatte es geahnt, die
Bayern waren schon immer reich und erfolgreich. Doch Hoffenheim und Red Bull
brüllen es raus wie niemals zuvor: HIER, REGIERT, DAS KA PI
TAL! In einer Welt der Waren kann man alles kaufen. Auch Deutsche
Meisterschaften!
Die Fußballreligion wird aus den Angeln gehoben. Ihren treuen Seelen
offenbart sich die Verkehrung und Verwechslung aller menschlichen und
natürlichen Qualitäten, die Verbrüderung der
Unmöglichkeiten die göttliche Kraft des
Geldes(13). Der gerechte Fußballgott muss sich der teuflischen
Schicksalsmacht geschlagen geben.(14)
Zum ideologiekritischen Potenzial des RBL
Red Bull gelingt es gleichsam wie im Fluge, die Fans auf den Boden der
ökonomischen Tatsachen zurückzuholen. Muss man RB dann nicht eine
ideologiekritische Funktion attestieren?
Enttäuscht Red Bull die Herzen der Menschen, um ihnen Bewusstsein
über die materiellen Grundlagen zu verschaffen? Wird da das allgemeine
Bewegungsgesetz des Leistungssports nicht derart auf die Spitze getrieben, dass
es in Parodie umschlagen kann? Man könnte meinen, dass der Zaubertrank
diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Fliegen und Tanzen zwingt,
daß er ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!
Natürlich ist RB Leipzig kein aufklärerisches Projekt, sondern eine
subversiv operierende Werbedrecksschleuder, die keinerlei Scheu hat, gerade
jene zivilisationsfeindlichen Ressentiments in den Dienst des Profitinteresses
zu stellen, die fälschlich den nüchternen
Kosten-Nutzen-Erwägungen des Konzerns entgegengesetzt werden. Im Fanzine
Heimspiel dankt die Mannschaft ihren treuen Fans für die
große Unterstützung: Ihr seid zu uns gestanden! Krampfhaft wird die
urige Verwachsenheit mit dem 725-Jahre alten Markranstädt beschworen:
RB Leipzig Wir werden unsere Wurzeln nie vergessen! Eine Frau im
kurzem Rock drückt einen Ball an ihre Brust: Die neue Beinfreiheit.
Alex Posevitz (29, Filialleiterin bei G-Star) herzt das Arbeitsgerät der
Roten Bullen. Fußball kann so schön sein.
Der alte Muff wird also bloß gewinnbringend aktualisiert, knallen kann es
später auch noch. Aus dem Bullenhoden kommt wenig ziviler Geist,
dafür viel Testosteron. Globale Standortpolitik vermischt sich mit
sächsischem Bratwurstpatriotismus.
Dennoch könnte RB Leipzig bald schon den Massen Marx veranschaulichen. Man
stelle sich nur einmal folgendes, keineswegs unrealistisches Szenario vor:
Der heute 67-jährige Red Bull Milliardär Dietrich Mateschitz
dem eine persönliche Freude am Fußballsport nachgesagt wird
verwandelt unter Aufgebot ungeheurer Kapitalien den Provinzverein
Markranstädt innerhalb von sieben Jahren in den leistungsstärksten
Fußballclub der Welt. Im Finale der Champions League 2015 trifft RB
Leipzig auf Inter Mailand. In der 89. Minute bekommt RB, zur allgemeinen
Empörung der Tifosi(15), einen Elfmeter zugesprochen. Dietrich Mateschitz
fackelt nicht lange und befiehlt seinem Trainer ihn selbst einzuwechseln.
Dieser Elfmeter wird zur Chefsache erklärt! Mateschitz läuft an,
Inters Torwart springt in die falsche Ecke, der Ball ist im Kasten!! Bravo!
Die geneigte Fachpresse wählt den gebrechlichen Opa folgerichtig zum
Sportler des Jahres. Zufrieden schwimmt dieser derweil im Pool seiner
Megayacht, schaut in den Himmel, und sinnt über einen Gedanken: Ich,
der durch das Geld alles, wonach ein menschliches Herz sich sehnt,
vermag, besitze ich nicht alle menschlichen Vermögen? Verwandelt also mein
Geld nicht alle meine Unvermögen in ihr Gegenteil?(16)
Jawohl, das Projekt RB Leipzig ist der nüchterne Beweis für eine
höchst mystisches Gesetz: Die Allmacht des Kapitals.
Studienrat Groll