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I.
Die Deutung jener historischen Ereignisse, die vor mehr als fünfzig
Jahren als der Aufstand von Cronstadt 1921 in die Geschichte eingegangen
sind (bzw. krampfhaft daraus entfernt wurden), ist aufs engste verknüpft
mit der gesellschaftlichen Position des jeweiligen Interpreten oder anders
gesagt: sie wird von seiner Stellungnahme zu den in der Gesellschaft tobenden
Klassenkämpfen geprägt und bedingt.
Wer die russische Revolution 1917 als eine sozialistische Umwälzung
betrachtet, wer die, in den Jahren des Bürgerkrieges gefestigte
bolschewistische Herrschaft für eine proletarische Macht hält, der
muß notwendigerweise das, was damals in jener Inselfestung am finnischen
Meerbusen vor sich ging, als einen konterrevolutionären Versuch zur
Stürzung des jungen Arbeiterstaates auffassen. Wer umgekehrt gerade
im Auftreten der Cronstädter einen revolutionären Akt erblickt, der
gerät früher oder später zu ganz entgegengesetzten Ansichten
über die russischen Entwicklungen und über die wirkliche Lage in
Rußland.
Das alles scheint selbstverständlich zu sein. Aber es kommt noch etwas
mehr hinzu. Der Bolschewismus ist nicht bloß eine Wirtschafts- oder
Staatsform, dessen Existenz damals nicht nur in Cronstadt, sondern auch
in Petrograd, in der Ukraine und in großen Teilen Südrußlands
auf des Messers Scheide stand, er bildet gleichzeitig eine in den
russischen Revolutionskämpfen gereifte, auf die russischen
Verhältnisse zugeschnittene Organisationsform. Nach dem bolschewistischen
Oktobersieg wurde und wird sie von den verschiedensten politischen Seiten den
Arbeitern aller Länder aufgedrängt.
Als sich die Bevölkerung von Cronstadt gegen die Bolschewiki erhob, da hat
sie nicht nur die bolschewistischen Machtansprüche entschieden
zurückgewiesen, sondern auch die traditionellen bolschewistischen
Parteiauffassungen und die Partei als solche in Frage gestellt. Hier liegt der
Grund, weshalb jeder Meinungsstreit über organisatorische Probleme der
Arbeiterklasse nur allzuoft die Diskussion über Cronstadt miteinbezieht
und weshalb jede Diskussion über Cronstadt unausweichlich auch die
Differenzen über die Taktik und Organisationsfragen des proletarischen
Klassenkampfes offenlegt. Das heißt also: der Aufstand von Cronstadt hat
auch nach mehr als einem halben Jahrhundert immer noch eine brennende
Aktualität. Wie kolossal auch seine historische Bedeutung sein mag, sie
wird weit überragt von seiner praktischen Bedeutung für die heutigen
Arbeitergenerationen, für alle, die am proletarischen Kampf teilnehmen.
Leo Trotzki war einer derjenigen, der diese Bedeutung nicht verstand. Als er
1938 seinen Aufsatz Viel Lärm um Cronstadt veröffentlichte(1),
seufzte er: Man könnte glauben, der Aufstand von Cronstadt hat nicht
vor 17 Jahren, sondern gestern stattgefunden. Gerade um jene Zeit, als er
diese Worte schrieb, unternahm Leo Trotzki tagaus, tagein jede erdenkliche
Anstrengung, die stalinistische Geschichtsfälschung und die
stalinistischen Legenden zu entlarven. Daß er dabei niemals die Grenze
der leninistischen Revolutionslegende überschritt, ist eine Tatsache, die
wir hier beiseite lassen können.
II.
Der Aufstand von Cronstadt zerstörte einen sozialen Mythos: den Mythos,
daß im bolschewistischen Staat die Macht in den Händen der Arbeiter
liegt. Weil dieser Mythos unzertrennlich mit der ganzen bolschewistischen
Ideologie verbunden war (und bis heute noch ist), weil in Cronstadt mit der
Verwirklichung der echten Arbeiterdemokratie ein bescheidener Anfang gemacht
wurde, deshalb bildete Cronstadt für die sich an der Macht befindenden
Bolschewiki eine tödliche Gefahr. Nicht die militärische Stärke
Cronstadts zum Zeitpunkt des Aufstandes durch den zugefrorenen
Meerbusen ohnehin stark beeinträchtigt , sondern die
entmystifizierende Wirkung des Aufstandes bedrohte die bolschewistische
Herrschaft, und das sogar stärker, als es je von Seiten der
Interventionsarmeen Denikins, Koltschaks, Judenitschs oder Wrangeis hätte
geschehen können.
Aus diesem Grunde waren die bolschewistischen Führer von ihrem Standpunkt
aus oder besser gesagt: infolge ihrer gesellschaftlichen Position (die
ihren Standpunkt natürlich bedingte) einfach gezwungen, ohne
Zaudern den Aufstand in Cronstadt niederzuschlagen.(2) Während die
Aufständischen, wie Trotzki es ihnen angedroht hatte, wie Fasane
abgeknallt wurden, wurde von der bolschewistischen Führung in ihrer
Presse der Cronstädter Aufstand als Konterrevolution bezeichnet. Dieser
Schwindel wird seit jenen Tagen von Trotzkisten und Stalinisten gleich eifrig
verbreitet und hartnäckig aufrecht erhalten.
Der Umstand, daß in bestimmten, sowohl menschewistischen als auch
weißgardistischen Kreisen Cronstadt offene Sympathie entgegengebracht
wurde(3), verfestigte die trotzkistische und stalinistische Version.(4) Eine
dürftigere Begründung der offiziellen Legende ist wohl kaum
möglich. Hat sich nicht Trotzki selbst in seiner Geschichte der
russischen Revolution mit vollem Recht über die politischen Kenntnisse
und über das gesellschaftliche Verständnis des reaktionären
Cronstadtsympathisanten Professor Miljukow stark herablassend
geäußert? Nur weil Miljukow und die ganze weißgardistische
Presse mit Cronstadt sympathisierten, aus diesem Grunde soll der Aufstand von
Cronstadt konterrevolutionär gewesen sein? Wie wäre, dieser
Vorstellung entsprechend, die Neue Ökonomische Politik, die kurz
nach Cronstadt in Rußland eingeführt wurde, zu beurteilen? Der
Bourgeois Ustrialow gab ihr ganz offen seinen Segen! Aber das veranlaßte
die Bolschewiki keineswegs dazu, die NEP als konterrevolutionär zu
verschreien. Diese Tatsache ist ebenfalls symptomatisch für die ganze
demagogische Art bei der Legendenbildung.
Von letzterer möchten wir uns nunmehr abwenden. Sie ist natürlich von
Interesse, schon wegen ihrer sozialen Funktion, die jedoch nur aus dem
tatsächlichen Verlauf der Ereignisse, aus dem gesellschaftlichen
Entwicklungsprozeß, aus dem sozialen Charakter der russischen
Umwälzung heraus verstanden werden kann.
III.
Der Cronstädter Aufstand 1921 bildet den dramatischen Höhepunkt einer
Revolution, die ihrem sozialen Inhalt nach kurzerhand als
bürgerlich definiert werden muß. Er ist von dieser
bürgerlichen Revolution der proletarische Ausläufer,
genau so wie unter fast ähnlichen Umständen die Mai-Ereignisse in
Katalonien 1937 den proletarischen Ausläufer der spanischen Revolution
bilden oder wie im Jahre 1796 die Verschwörung von Babeuf eine
proletarische Tendenz in der großen bürgerlichen französischen
Revolution darstellt.(5) Daß sie alle drei mit einer Niederlage endeten,
hat die gleichen Ursachen; es fehlten jedesmal die Bedingungen und
Voraussetzungen für einen proletarischen Sieg.
Das zaristische Rußland nahm am ersten Weltkrieg als ein
zurückgebliebenes Land teil. Es hatte zwar aus
militärisch-politischen Bedürfnissen eine Industrialisierung
vorangetrieben und damit die allerersten Schritte auf kapitalistischem Wege
zurückgelegt, aber das in diesem Zusammenhang entstandene Proletariat war
zahlenmäßig klein im Verhältnis zu der ungeheuren Masse der
russischen Bauern. Gewiß, das politische Klima des zaristischen
Absolutismus hatte den kämpferischen Geist der russischen Arbeiter
außerordentlich gesteigert. Das ermöglichte ihnen, der
heranreifenden Revolution ein bestimmtes Gepräge zu geben, konnte aber
ihren Verlauf nicht ausschlaggebend bestimmen.
Trotz der Existenz der Putilowwerke-, der Erdölanlagen im Kaukasus, des
Kohlenbergbaues im Donetzrevier und der Moskauer Textilfabriken bildete die
Landwirtschaft die wesentliche wirtschaftliche Grundlage der russischen
Gesellschaft. Zwar hatte es 1861 so eine Art Bauernbefreiung gegeben, aber
trotzdem waren die Überreste der Leibeigenschaft bei weitem nicht
verschwunden. Die Produktionsverhältnisse waren feudalistisch und
entsprechend war der politische Überbau; Adel und Klerus waren die
herrschenden Klassen, die mit Hilfe der Armee, der Polizei und des Beamtentums
ihre Macht in dem Riesenreich des Großgrundbesitzes ausübten.
Demzufolge hatte die russische Revolution des 20. Jahrhunderts die
wirtschaftliche Aufgabe, den Feudalismus mit seinen sämtlichen
Begleiterscheinungen wie die der Leibeigenschaft aufzuheben. Sie
sollte die Landwirtschaft industrialisieren und unter die Bedingungen der
modernen Warenproduktion stellen, sie hatte alle feudalen Ketten der
bestehenden Industrie zu lösen.
Politisch hatte diese Revolution die Aufgabe, den staatlichen Absolutismus zu
zerschlagen, die Bevormundung durch den Feudaladel aufzuheben und eine
Regierungsform und eine Staatsmaschine zu entwickeln, die die Lösung der
wirtschaftlichen Aufgaben der Revolution politisch garantierten. Es ist klar,
daß diese wirtschaftlichen und politischen Aufgaben mit jenen
übereinstimmten, die im Westen die Revolutionen des 17,, 18. und 19.
Jahrhunderts zu erfüllen hatten.(6) Nur wurde die russische Revolution
wie später die chinesische durch ihre besondere
Eigentümlichkeit charakterisiert. In Westeuropa, vor allem in Frankreich,
war die Bourgeoisie die Trägerin des gesellschaftlichen Fortschritts, die
Vorkämpferin des Umsturzes gewesen. Im Osten war sie, aus dem schon
erwähnten Grunde, schwach. Dazu waren ihre Interessen mit denen des
Zarismus eng verbunden. Das heißt, die bürgerliche Revolution
in Rußland mußte ohne die Bourgeoisie und sogar gegen sie vollzogen
werden.
IV.
Lenin hat die Eigentümlichkeit der russischen Revolution sehr genau
erkannt. Die Marxisten, schrieb er, sind vom bürgerlichen
Charakter der russischen Revolution unbedingt überzeugt. Was bedeutet das?
Das bedeutet, daß jene demokratischen Umgestaltungen der politischen
Ordnung und jene sozialökonomischen Umgestaltungen, die für
Rußland notwendig geworden sind, an und für sich nicht nur keine
Untergrabung des Kapitalismus, keine Untergrabung der Herrschaft der
Bourgeoisie bedeuten, sondern daß sie umgekehrt zum ersten mal
gründlich den Boden für eine breite und rasche (...) Entwicklung des
Kapitalismus säubern (...)(7) Anderswo heißt es: Der Sieg der
bürgerlichen Revolution bei uns ist unmöglich (als) Sieg der
Bourgeoisie. Das scheint paradox zu sein, ist aber so. Die vorherrschende
Bauernbevölkerung, ihre fürchterliche Unterdrückung vom
halbfeudalen Großgrundbesitz, die Kraft und das Bewußtsein des
schon in der sozialistischen Partei organisierten Proletariats, alle diese
Umstände verleihen unserer bürgerlichen Revolution einen besonderen
Charakter. Diese Besonderheit beseitigt nicht den bürgerlichen Charakter
der Revolution.(8)
Seiner Bemerkung haben wir hier allerdings hinzuzufügen: die Partei, von
der hier Lenin spricht, war weder sozialistisch, noch konnte man behaupten,
daß das Proletariat in ihr organisiert wäre. Es stimmt
natürlich, daß sie sich von den sozialdemokratischen Parteien des
Westens, die vom Boden des bürgerlichen Parlamentarismus aus loyale
Opposition betrieben und die Umwandlung der kapitalistischen in die
sozialistische Gesellschaft mit allen Mitteln zu verhindern suchten, in
mancherlei Hinsicht unterschied, aber nicht im sozialistischen Sinne.
Die Partei Lenins strebte in Rußland nach einer revolutionären
Veränderung der Verhältnisse, aber es handelte sich dabei um eine
Revolution, die sich, wie Lenin ja selbst auch zugibt, in anderer Form im
Westen längst vollzogen hatte.
Diese Tatsache blieb für die russische Sozialdemokratie im allgemeinen und
für die bolschewistische Partei im besonderen nicht ohne Einfluß.
Lenin und die Bolschewiki waren der Auffassung, daß kraft der
Klassenverhältnisse in Rußland ihrer Partei die Rolle der Jakobiner
zukomme. Nicht ohne Grund definierte Lenin den Sozialdemokraten als einen
mit den Massen verbundenen Jakobiner; nicht ohne Grund schuf er seine Partei
als ein Komitee von Berufsrevolutionären; nicht ohne Grund erblickte er in
seiner Schrift Was tun? ihre Aufgabe in dem Kampf gegen die
Spontaneität.
Als Rosa Luxemburg zu Anfang dieses Jahrhunderts diese Auffassungen
kritisierte, hatte sie recht, gleichzeitig jedoch auch unrecht. Recht hatte sie
insofern, als die leninistische Verschwörerorganisation mit den
natürlichen d. h. aus dem, beim Kapitalverhältnis
vorausgesetzten, Klassengegensatz emporwachsenden Organisationsformen
der kämpfenden Arbeiter nichts zu tun hatte. Was sie aber übersah
und damals wohl auch übersehen mußte war, daß es
einen solchen Kampf der Proletarier im modernen Sinne in Rußland entweder
nur in sehr kleinem Ausmaß oder überhaupt nicht gab.
In Rußland, wo die Aufhebung des Kapitalverhältnisses und der
Lohnarbeit nicht auf der Tagesordnung stand, handelte es sich um einen anderen
Kampf. Für diesen Kampf war gerade die bolschewistische Partei am meisten
geeignet. Sie erfüllte ganz und gar die Bedürfnisse der Revolution,
die ihr bevorstand. Daß die Organisationsform dieser Partei der
sogenannte demokratische Zentralismus mit der Diktatur der Zentrale
über die Masse ihrer Mitglieder enden würde (wie Rosa Luxemburg es
vorhergesagt hatte), hat sich als durchaus richtig erwiesen und das gerade war
in jener bürgerlichen Revolution mit ihrem besonderen
Charakter erforderlich.
V.
Die bolschewistische Partei holte sich ihre geistigen Waffen beim Marxismus,
der einzigen radikalen Theorie, bei der sie zur Zeit anknüpfen konnte.
Dieser aber war der theoretische Ausdruck eines hochentwickelten
Klassenkampfes, wie ihn Rußland nicht kannte und für den in
Rußland auch das richtige Verständnis fehlte. So geschah es,
daß das, was sich auf russischem Boden als Marxismus entwickelte,
mit dem Marxismus nur den Namen gemein hatte, in Wirklichkeit aber dem
jakobinischen Radikalismus eines Auguste Blanqui(9) zum Beispiel viel näher
stand als den Auffassungen von Marx und Engels.
Mit diesem Blanqui hatte Lenin u. a. wie auch Plechanow jenen,
dem dialektischen Materialismus fernstehenden naturwissenschaftlichen
Materialismus gemein, der in Frankreich, am Vorabend der großen,
klassischen Revolution, die Hauptwaffe im Kampf gegen Adel und Religion gewesen
war. In Rußland herrschten eben ähnliche Verhältnisse wie im
vorbürgerlichen Frankreich.
Der Marxismus, so wie Lenin ihn verstand und verstehen mußte
, ermöglichte ihm einen tiefen Einblick in die wesentlichen Probleme
der russischen Revolution. Derselbe Marxismus versah die russische
bolschewistische Partei mit einem Begriffsapparat, der sowohl zu ihren Aufgaben
als auch zu ihrer Praxis im krassesten Widerspruch stand. Das bedeutet, wie
Preobraschenski 1925 auf einer Moskauer Gouvernementskonferenz öffentlich
eingestand, daß der Marxismus in Rußland zu einer Ideologie
geworden war.
Selbstverständlich war die revolutionäre Praxis der russischen
Arbeiterklasse soweit es sie gab mit der Praxis der, die
Interessen der bürgerlichen russischen Revolution als ein Ganzes
vertretenden, bolschewistischen Partei durchaus nicht im Einklang. Als sich
1917 die russischen Arbeiter erhoben, gingen sie, entsprechend ihrer
Klassennatur, weit über die Schranken der bürgerlichen Umwälzung
hinaus; sie versuchten, ihr eigenes Los zu bestimmen und ihren eigenen Willen
als Produzenten mit Hilfe ihrer Sowjets, ihrer Räte, durchzusetzen.
Die Partei, die immer recht hat und der Arbeiterklasse den Weg zeigen
soll, den diese selbst, wie die Führer behaupten, ohne die Partei nicht
finden kann, hinkte hinterher. Sie war gezwungen, die Räte einstweilen
ebenso anzuerkennen wie die Tatsache, daß eine breite Bauernschicht
existierte. Weder das eine noch das andere entsprach ihrer Doktrin, die das
Ergebnis sämtlicher revolutionärer Bedingungen war. Weder für
die eine noch für die andere revolutionäre Praxis gab es in
Rußland auf die Dauer die materiellen Voraussetzungen oder eine soziale
Grundlage.
VI.
Was geschah, war folgendes: der Kapitalismus (kaum entwickelt) wurde nicht
gestürzt; es blieb die Lohnarbeit, von der Marx bekanntlich gesagt hat,
sie setze das Kapital voraus, wie umgekehrt seinerseits das Kapital die
Lohnarbeit voraussetze. Nicht die russischen Arbeiter bekamen die
Verfügung über die Produktionsmittel, sondern sie fiel der Partei
(oder dem Staat) zu. Der russische Arbeiter blieb demzufolge Mehrwertproduzent.
Daß der Mehrwert nicht einer Klasse von Privatkapitalisten zufloß,
sondern dem Staate bzw. den den Staat bestimmenden Parteiinstanzen, bedeutete
zwar, daß die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands infolge
der Abwesenheit einer bürgerlichen Klasse andere Wege ging als die
im Westen, änderte aber nichts an der Position des russischen Arbeiters
als Ausbeutungsobjekt oder Lohnsklave.
Von einer Machtausübung durch die Arbeiterklasse kann keine Rede sein. Der
zaristische Staat war zwar zerbrochen, aber an seine Stelle war nicht die
Rätemacht getreten. Die von den Arbeitern Rußlands spontan
gebildeten Räte wurden von der bolschewistischen Regierung so schnell wie
möglich, d.h. bereits im Frühsommer 1918, entmachtet und zu
völliger Bedeutungslosigkeit verurteilt. Die wirtschaftliche Grundlage des
Landes bildete, anstelle der früheren Leibeigenschaft oder der
Knechtschaft halbfeudaler Form, die ökonomische Sklaverei, von der Trotzki
1917 schrieb, sie sei unvereinbar mit der politischen Herrschaft des
Proletariats.
Diese These war richtig, jedoch bedienten sich die Bolschewiki nachdem
sie zu Unrecht ihre Herrschaft als die der Arbeiterklasse ausgaben
der politischen Herrschaft, um angeblich die Unterdrückung der
russischen Proletarier aufzuheben. Aber aufgrund des Fehlens einer wirklichen
Arbeitermacht entwickelte sich die politische Herrschaft nicht in ein
Befreiungs-, sondern in ein Unterdrückungsinstrument.
Im bolschewistischen Rußland herrschte zwischen dem Ausbruch der
Februarrevolution und dem gewalttätigen Niederwerfen des Aufstandes von
Cronstadt und der Einführung der neuen Wirtschaftspolitik ein
ähnlicher Zustand wie nach dem Ausbruch der Februarrevolution 1848 in
Frankreich, von dem Marx schrieb: In Frankreich tut der Kleinbürger,
was normalerweise der industrielle Bourgeois tun müsste; der Arbeiter tut,
was normalerweise die Aufgabe des Kleinbürgers wäre. Und die Aufgabe
des Arbeiters, wer löst sie? Sie wird nicht in Frankreich gelöst aber
sie wird in Frankreich proklamiert. In Rußland ist sie auch weiterhin
proklamiert worden. Aber mit dem Aufstand in Cronstadt ist der
Revolutionsprozeß in dem der Oktober nur eine Etappe bildete
zu Ende. Der Aufstand in Cronstadt bildet das Moment, an dem das Pendel
am weitesten nach links ausschlägt.
In den vier vorangegangenen schicksalsschweren Jahren offenbarte sich der
abgrundtiefe Gegensatz zwischen der bolschewistischen Partei, der
bolschewistischen Regierungsmacht auf der einen Seite und der russischen
Arbeiterklasse auf der anderen. Das wurde immer deutlicher, je mehr sich der
Gegensatz zwischen dieser Regierung und den Bauern offenbarte. Für unsere
Fragestellung können wir Letzteres beiseite lassen. Wir streifen das
Problem nur deshalb, weil sich aus diesem doppelten Gegensatz, bei dem noch der
Gegensatz zwischen Arbeitern und Bauern (der mit dem Deckmantel der sogenannten
Smytschka, d.h.: ihr gegenseitiges Klassenbündnis vertuscht
wurde), aufgezählt werden muß, die Notwendigkeit der Parteidiktatur
erklärt.
VII.
In der genannten Zeitspanne zwischen dem Ausbruch der Revolution und den
Ereignissen des Jahres 1921 steht die russische Arbeiterschaft in einem
unaufhörlichen Kampf. Im Laufe des Jahres 1917 schreitet sie viel weiter
voran, als es die Bolschewiki gewollt haben. Zwischen März und Ende
September 1917 gibt es 365 Streiks, 38 Fabrikbesetzungen und 111 Absetzungen
der Betriebsführung.(10) Die bolschewistische Losung
Produktionskontrolle durch die Arbeiter ist unter diesen Umständen
zum Scheitern verurteilt. Die Arbeiter enteignen die Produktionsmittel auf
eigene Faust, bis das Dekret über die Arbeiterkontrolle vom 14.November
1917 (nur eine Woche nach der bolschewistischen Machtergreifung also!) diese
Aktivitäten bremst. Nach dem Mai 1918 darf die Nationalisierung nur
noch vom Obersten Wirtschaftsrat vorgenommen werden. Kurz vorher, April 1918,
wurde die individuelle Verantwortung der Betriebsdirektoren wieder
eingeführt; jene brauchten dem Betriebspersonal keine Rechenschaft mehr zu
geben!
Januar 1918 werden die Betriebsräte liquidiert. Bald machen sich
nach der Überwindung des sogenannten Kriegskommunismus die
ökonomischen Gesetze der Warengesellschaft bemerkbar. Lenin seufzt:
Das Steuer entgleitet den Händen (...) der Wagen fährt nicht
ganz so, und häufig ganz und gar nicht so, wie derjenige, der am Steuer
sitzt, sich einbildet. Eine russische Gewerkschaftszeitung berichtet,
daß es 1921 477 Streiks gegeben hat mit insgesamt 184.000 Streikenden.
Einige andere Zahlen: 1922 505 Streiks mit insgesamt 154.000
Streikenden; 1924 267 Streiks, davon 151 in Staatsbetrieben; 1925
199 Streiks, davon 99 in Staatsbetrieben.(11)
Die Zahlen beweisen einen langsamen Rückgang der Aktivitäten. Die
ganze Bewegung erreicht 1921, zur Zeit des Aufstandes von Cronstadt, ihren
Höhepunkt. Am 24. Februar 1921 streiken die Petrograder Arbeiter. Sie
fordern: Freiheit für alle Werktätigen; Aufhebung aller
Sonderdekrete; freie Wahlen für die Sowjets. Es sind die gleichen
Forderungen wie die, die nur wenige Tage später auch in Cronstadt erhoben
werden. Eine allgemeine Unruhe hat das Land erfaßt. Um die Jahreswende
1920/21 ist das bolschewistische Rußland der Schauplatz einer tiefen
Auseinandersetzung. Unmittelbar geht daraus die von zwei ehemaligen
Metallarbeitern geführte Arbeiter-Opposition hervor. Sie verlangt
die Ausschaltung der bolschewistischen Partei, Aufhebung der Parteidiktatur und
ihre Ersetzung durch die Selbstregierung der produzierenden Massen. Mit einem
Wort: sie verlangt Rätedemokratie und Kommunismus!
Die allgemeine russische Lage wurde wenig später in dem schon
erwähnten Cronstadtdokument ebenso knapp wie treffend charakterisiert:
Durch eine gerissene Propaganda wurden die Söhne des
werktätigen Volkes in die Reihen der Partei gezogen und dort an die Kette
einer strengen Disziplin gelegt. Als sich die Kommunisten dann stark genug
fühlten, schalteten sie zuerst Schritt für Schritt die Sozialisten
anderer Richtungen aus, und schließlich stießen sie die Arbeiter
und Bauern selbst vom Ruder des Staatsschiffes weg, fuhren aber gleichzeitig
fort, das Land in deren Namen zu regieren.(12)
Februar 1921 kommt es in Petrograd zum handfesten Protest. Durch die Vororte
der Stadt ziehen proletarische Demonstrationszüge. Die Rote Armee
erhält den Befehl, sie auseinanderzujagen. Die Soldaten weigern sich, auf
die Arbeiter zu schießen. Die Parole heißt: Generalstreik! Am 27.
Februar ist er eine Tatsache. Am 28. Februar treffen zuverlässige,
regierungstreue Truppen in Petrograd ein. Die Streikführung wird
verhaftet; die Arbeiter werden in die Fabriken getrieben. Der Widerstand ist
gebrochen. Aber noch am selben Tag erklären sich die Matrosen des
Panzerschiffes Petropawlowsk auf der Reede von Cronstadt für freie
Sowjetwahlen und für Presse- und Versammlungsfreiheit; für die
Arbeiter, wohlbemerkt! Die Mannschaft des Panzerschiffes Sewastopol
schließt sich ihnen an. Am nächsten Tag bekunden 16.000 Menschen auf
dem Hafenplatz in Cronstadt ihre Solidarität mit den Petrograder
Streikenden.
VIII.
Die Bedeutung der Cronstadtrebellion kann kaum überschätzt werden.
Sie leuchtet wie ein Fanal. In ihrer Zeitung schreiben die Aufständischen:
Wofür kämpfen wir? Die Arbeiterklasse hoffte, durch die
Oktoberrevolution ihre Befreiung zu erringen. Als Resultat ist eine noch
größere Unterdrückung der Menschen eingetreten. Das ruhmreiche
Wappen des Arbeiterstaates Hammer und Sichel hat die
bolschewistische Regierung mit dem Bajonett und dem Gitter vertauscht, um das
ruhige und angenehme Leben der Kommissare und Beamten zu beschützen. Das
alles heißt, daß damals für die bolschewistische Herrschaft in
Cronstadt die Stunde der Wahrheit gekommen war, so wie die Juni-Insurrektion
des französischen Proletariats 1848 die Stunde der Wahrheit für die
radikale französische Republik war.(13) Hier wie dort machte das Proletariat
seine Leichenstätte zur Geburtsstätte einer rein kapitalistischen
Entwicklung. In Frankreich zwang es damals die bürgerliche Republik,
sogleich in ihrer wahren Gestalt aufzutreten, als der Staat, dessen
eingestandener Zweck die Verewigung der Kapitalherrschaft war. In Cronstadt
zwangen die Matrosen und Arbeiter die bolschewistische Partei gleichfalls, in
ihrem wahren Gewande aufzutreten: als eine unverhüllt arbeiterfeindliche
Institution, deren einziger Zweck die Errichtung des Staatskapitalismus war.
Mit der Niederwerfung des Aufstandes wurde für ihn der Weg frei.
In den Straßen von Paris wurden damals die proletarischen Hoffnungen von
General Cavaignac im Blute erstickt. Der Aufstand von Cronstadt wurde von Leo
Trotzki niedergeschlagen. Er wurde im März 1921 zum Cavaignac, zum Gustav
Noske der russischen Revolution. Er, der bekannteste und der angesehenste
Vertreter der Theorie der permanenten Revolution, verhinderte so wollte
es die Ironie der Geschichte den ernsthaftesten Versuch seit dem Oktober
1917, die Revolution in Permanenz zu machen.
Dieser Verlauf aber war unvermeidlich. Es fehlte für einen Sieg der
Cronstädter jede materielle Voraussetzung. Das einzige, was ihnen
hätte helfen können, war eben jene Permanenz der Revolution, auf die
wir hinwiesen. Das haben die Cronstädter selbst gewußt und
verstanden. Deshalb richteten sie fortwährend Telegramme an ihre
Klassengenossen auf dem russischen Festland, die zur tatkräftigen
Unterstützung aufforderten.
Die Cronstädter setzten ihre Hoffnung auf die dritte Revolution, so
wie tausende von Proletariern in Rußland auf Cronstadt hofften. Was aber
als die dritte Revolution bezeichnet wurde, war im agrarischen
Rußland jener Tage, mit seiner verhältnismäßig geringen
Arbeiterschaft und mit seiner primitiven Wirtschaft, nichts als eine Illusion.
In Cronstadt, sagte damals Lenin zu einem Zeitpunkt, als der Aufbau der
bolschewistischen Cronstadtlegende noch kaum begonnen hatte, will man die
Weißgardisten nicht, will man unsere Macht nicht eine andere Macht
gibt es aber nicht.(14)
Lenin hatte insofern recht, als es sie tatsächlich in jenem Moment nicht
gab, jedenfalls nicht in Rußland. Ihre Möglichkeit aber
haben, wie es die deutschen Arbeiter taten, die Cronstädter doch
aufgezeigt. Sie, nicht die Bolschewiki, haben mit ihrer Kommune und mit ihrem
frei gewählten Sowjet das Vorbild einer proletarischen Revolution und
einer Arbeitermacht gegeben.
Man lasse sich durch ihren Schlachtruf Sowjets ohne Kommunisten nicht
irritieren. Als Kommunisten bezeichneten sich dieselben Usurpatoren, die
sich auch heute noch zu Unrecht als solche bezeichnen: die
bolschewistischen Verfechter des Staatskapitalismus, die damals eben den Streik
der Petrograder Arbeiter unterdrückt hatten. Der Name Kommunist war
1921 den Arbeitern von Cronstadt ebenso verhaßt wie 1953 den ostdeutschen
Arbeitern und 1956 den Arbeitern in Ungarn. Jedoch haben die Arbeiter von
Cronstadt ebenso wie jene ihre Klasseninteressen beherzigt. Demzufolge sind
ihre proletarischen Kampfmethoden bis heute von großer Wichtigkeit
für alle ihre Klassengenossen, die wo immer auch in der Welt
selbständig ihren Kampf führen und aus der Erfahrung wissen,
daß ihre Befreiung nur ihr eigenes Werk sein kann.
Cajo Brendel