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Aktuelles Heft

INHALT #177

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Mikro Island
Motorpsycho
Break it back
MITTE04
Dead Western, Bombee
Myra
levenshulme bicycle orchestra
Benefizdisco
Summer BreakZ
Snapcase
Haare auf Krawall
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• ABC: S wie Surrealismus
• review-corner buch: „Ich ficke, mit wem ich will!“
• review-corner buch: Michael Schwandts Einführung in die Kritische Theorie
• kulturreport: Adorno, der Jazz und ungarische Schnulzen
Nie wieder Antira!
• doku: Vom Fragment der Erinnerung zum Geschichtsbild
• sport: Aliens in der Bezirksklasse
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• das letzte: Deutsches Klima

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Nie wieder Antira!

Wie (Anti)Deutsche Rassismus einfach wegdefinieren

Heimleitung

Wenn du über das Negative von Deutschland reden willst, sollst du über den Islam reden(4)

So wichtig die antideutsche(5) Kritik für die Leipziger radikale Linke(6) in Bezug auf Antisemitismus war, so fatal hat sich ihr Einfluss auf die Problematisierung von Rassismus ausgewirkt. Die antideutsche Verweisung von Geschlechterherrschaft in andere, vornehmlich muslimisch geprägte Länder unter ausblenden und bestreiten von Heterosexismus in Westeuropa und in den eigenen Sozialisationszusammenhängen, wird zumindest von feministischen Gruppen, wie dem afbl kritisiert(7). Das mit 9/11 einsetzende antideutsche Antira-Bashing hat dagegen weitestgehend zur Verbannung des Themas Rassismus aus linker Kritik und Politik in Leipzig geführt. Mehr noch als Feminismus gilt (Anti)Rassismus heute großen Teilen der Leipziger Linken als Steckenpferd nervender Sprachpolizist_innen(8) oder als Vorwand für sogenannte Kulturrelativist_innen, sich nicht mit Antisemitismus und Islamismus auseinandersetzen zu müssen. Im Zuge der Diskussionen um die Positionen vom AK 2009 und INEX zur Verfasstheit des wiedervereinigten Deutschlands wird die Delegitimierung antirassistischer Kritik nun verkomplettiert durch das Wegdefinieren von Rassismus. Die Beschäftigung mit rassistischen Zuständen in Deutschland und Westeuropa wird als unemanzipatorisch und unnötig gebrandmarkt oder gar als eine der „gefährlichsten Bastionen des Antihumanismus innerhalb der Linken“(9) denunziert. Solcherart Delegitimierungsrethorik liefert gleichzeitig eine perfekte Entschuldigung für weiße deutsche Linke, sich nicht mit den eigenen rassistischen Privilegien und Projektionen auseinandersetzen zu müssen.(10) Entsprechend wird Rassismus vom größten Teil der Leipziger Linken explizit oder implizit ausschließlich als Problem ostzonaler Nazis behandelt.
Implizit, weil es keine politische Bezugnahme auf rassistische Zustände gibt, solange nicht einzelne Nazis oder ganze Dorfgemeinschaften Leib und Leben von Migrant_innen attackieren. Augenscheinlich wurde das zuletzt bei der geplanten Unterbringung von Flüchtlingen am Stadtrand von Leipzig mit zum Teil offen rassistischen Begründungen seitens der Stadtverwaltung.(11) Ökonomisch pragmatisch war die Entscheidung des Stadtrates jedenfalls nicht, die dezentrale Unterbringung von Menschen im Asylverfahren kostet Kommunen und Länder viel weniger als deren menschenverachtende Internierung und Versorgung in Gemeinschaftsunterkünften und Abschiebelagern (das gleiche gilt auch für die Versorgung mit Lebensmittelpaketen oder Gutscheinen). Doch den meisten Leipziger Linken war die Mobilisierung gegen den Stadtratsbeschluss ziemlich egal. Rassismus unterhalb von „Skandalen“ wie in Mügeln reißt die Genoss_innen nicht aus den Schreibtischsesseln oder von den Barhockern.
Beispielhaft für die explizite Zurückweisung von Rassismus als relevanter Problematik sind einige Texte im CEE IEH Newsflyer(12). Darin finden sich folgende Argumentationslinien:

1.) Abgesehen von ein paar Nazideppen oder Dorfdeppen, ist Rassismus in Deutschland kein Problem gesellschaftlich relevanter Kräfte mehr. Stattdessen leben wir in einem Land des antirassistischen Konsenses, in dem Multikulti abgefeiert wird und Islamismus und Antisemitismus gefördert werden.
2.) Staatlichen Rassismus gibt es in Deutschland nicht. Asyl- und Migrationspolitik sind parlamentarisch kontrolliert und orientieren sich ausschließlich an den kapitalistischen Anforderungen an die Nationalstaaten. Das produziert Diskriminierung und Ausgrenzung, ist aber nicht rassistisch.

Dieser Analyse liegt eine eindimensionale Rassismuskonzeption zugrunde und sie verkennt völlig die rechtlichen und gesellschaftlichen Kontinuitäten und Realitäten in Deutschland.

Rassistische Gesellschaft vs. fremdenfeindliche Individuen

Rassismus hat in Deutschland verschiedene Facetten. Dazu zählen völkisch / biologistische Rassevorstellungen und Übergriffe von Nazis sowohl in ostdeutschen Regionen als auch in den alten Bundesländern. Ob das reicht, um heute undifferenziert von einem „rassistischen Konsens“ zu sprechen, bei dem Staat und Volk gemeinsame Sache machen, darf bezweifelt werden. Die Gefahr, dass sich eine Volksgemeinschaft in staatlicher Form realisiert, besteht aktuell nicht(13). Politische und zivilgesellschaftliche Akteure lehnen völkische Rassekonzepte und rassistische Gewalt ab und sogar sächsische CDU-Politiker anerkennen die gesellschaftliche Realität in einem „Einwanderungsland“ zu leben. Mit einem „antirassistischen Konsens“ im öffentlichen Diskurs und im alltäglichen Denken und Handeln hat das alles leider nichts zu tun. Der als politischer „Tabubruch“ inszenierte Alltagsrassismus à la Sarrazin scheint dem deutschen Feuilleton überaus willkommen und die zahlreichen Studien zur Verbreitung antisemitischer und rassistischer Einstellungen will ich hier nicht zum x-ten Mal zitieren. Auch wenn die BRD einen Minister mit Migrationshintergrund hat und die deutsche Nationalmannschaft mit schwarzen Fußballstars wirbt: Rassismuserfahrungen machen auch Herr Rösler(14) und Frau Okoyino de Mbabi(15).
Trotz Bekenntnissen zu Einwanderungsland, trotz Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, trotz zunehmend kosmopolitischem Flair an der Leipziger Uni und in den großen Städten, trotz Kampagnen für Vielfalt und trotz antirassistischer Bildungsmaterialien leben wir in einem rassistisch strukturierten Staat. Diese Feststellung setzt an den Rassismuserfahrungen von People of color und Migrant_innen an und fußt auf einer Konzeption, die Rassismus nicht nur auf individuelle Rassifizierung und Diskriminierung reduziert. Rassismus ist ein kontinuierliches und kollektives Phänomen der europäischen Moderne, der seine spezifische deutsche Ausprägung im deutschen Kolonialismus und Nationalsozialismus erfahren hat und diese Gesellschaft und unser Wissen über die Welt grundlegend strukturiert. Rassismus ist eine Ungleichheitsideologie und ein gesellschaftliches Ordnungssystem, das durch individuelle Handlungen wie auch durch Gesetze und institutionelle Regeln und Routinen zugunsten der gesellschaftlich hegemonialen Gruppe wirkungsmächtig und aufrechterhalten wird. Rassismus in Deutschland ordnet jeden Menschen einer von zwei Gruppen zu: der der biodeutschen mehrheitsdeutschen „Wir“-Gruppe (die ich mit dem politischen Begriff weißdeutsch beschreibe) und der der Anderen. Die rassifizierende Zuordnung basiert auf einer Kombination von Merkmalen wie Aussehen, Nationalität, Herkunft und Sprache. Sie führt zu Benachteiligungen innerhalb des rassistischen Ordnungssystems, aber auch zur Ausprägung von Identitäten, die zwar sozial hergestellt, gleichzeitig aber wirkungsmächtig und spürbar sind, ob beim Einstellungsgespräch, in der Straßenbahn oder an der Discotür. Die Gruppenzuordnung enthält bereits eine Bewertung der Rassifizierten: Wenn wir(16) schwarz als signifikante Kategorie sehen, denken wir schon in kolonialer Tradition. Wir denken in der Regel nicht: „deutsch“, sondern je nach Kontext meist an exotisches oder armes „Afrika“ oder manchmal an „USA“. Deshalb müssen rassistische Handlungen (z.B. Sprechweisen) oder Regeln (z.B. in Gesetzen und Behördenrichtlinien) nicht notwendig intendiert sein, um einen ausgrenzenden und stigmatisierenden Effekt zu haben.(17)

Rassismus und Nation: Staatsangehörigkeit und Integrationsimperativ

Rassismus ist struktureller Bestandteil des deutschen National- und Rechtsstaates. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht war von Anfang nicht auf territoriale Anwesenheit, sondern darauf ausgerichtet, die Nation per Abstammung zu definieren und per Abstammungsrecht rein zu halten. Deutschen Kolonialsoldaten war die Eheschließung mit Frauen aus den Kolonien untersagt, um zu verhindern, dass nichtweiße Kinder deutsche Staatsangehörige wurden. Dem (ehemaligen Reichs)Staatsangehörigkeitsrecht liegt bis heute eine rassifizierende Vorstellung vom Staatsvolk – als Ethnos – zugrunde.
Entsprechend exklusiv ist die deutsche Staatsangehörigkeit, die man auch nach der Reform 2001 nur schwer erlangen kann(18) und die nur in Ausnahmefällen als doppelte Staatsangehörigkeit verliehen wird. Einwanderer_innen aus der ehemaligen Sowjetunion, die deutsches Blut in ihren Adern nachweisen, können die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, in Deutschland geborene Kinder chinesischer Arbeitsmigrant_innen dagegen nicht. Diese Logik ist rassistisch und so mag es auch nicht verwundern, dass Listen der Wehrmacht und der SS noch immer die Grundlage dafür bilden nachzuprüfen, wer als „Aussiedler/in“ anerkannt wird und wer nicht.
Auch die mentalen Überreste des alten Blutsrechts sind allgegenwärtig. Während traditionelle Normvorstellungen in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft, z.B. in Bezug auf Homosexualität in Deutschland, zunehmend durcheinander gewirbelt werden, erweisen sich alte biologische Vorstellungen vom Volk als äußerst stabil. Nach der Ermordung oder Flucht der „nicht arischen“ Bevölkerung im Nationalsozialismus wirkt die Idee eines ethnisch homogenen Staates bis heute fort. „Deutsch“ gilt als statische Kategorie, die man passiv, als Schicksal in Empfang nimmt, als etwas Unentrinnbares, eingepflanzt durch Abstammung und Sozialisation. Die Geschichte des deutschen Kolonialismus verschwindet dabei genauso wie die Existenz jüdischer oder schwarzer Deutscher. Migration nach Deutschland findet im kollektiven Gedächtnis eigentlich erst seit den 60ern als „Gastarbeitermigration“ statt. Deutsch ist weiterhin, wer weiß und christlich ist. Deshalb reden alle von „Ausländerfeindlichkeit“, „Fremdenhass“. Als wären die Subjekte des Rassismus verirrte Einzelne, als wären seine „Objekte“ tatsächlich „Ausländer“ oder „Fremde“ und als setzte Rassismus Feindseligkeit oder böse Absichten voraus.
Deshalb soll der Bau von Moscheen und kopftuchtragende Frauen im öffentlichen Raum verboten werden, während sich an deutschen Kirchenglocken und dem Einfluss konservativer Christ_innen auf Familienbilder, Lehrpläne und Unigebäude niemand stört. Deshalb müssen sich schwarze Deutsche täglich fragen lassen, wo sie eigentlich herkommen bzw. wann sie wieder zurückgehen(19) und Polizist_innen, die auf der Suche nach Verstößen gegen die Residenzpflicht ausschließlich nichtweiße Reisende kontrollieren, verstehen nicht, warum das rassistisch sein soll(20).
Außerdem reden alle von „Integration“. Die „Anderen“ werden in Deutschland nicht vor Rassismus geschützt, sie werden aufgefordert, sich zu integrieren. An dieser Forderung hat sich seit Jahrzehnten nicht viel geändert: Weder das Verständnis dessen, wer und was Deutsch ist, noch die Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von Migrant_innen und People of Color. Die aktuellen Debatten um Integration sind bei genauem Hinsehen eine Wiederauflage der Konzepte aus den 70ern, als sie unter dem Begriff Assimilierung diskutiert wurden. „Integration“ beinhaltet damals wie heute eine negative Prognose: Es gibt 1.) Probleme, deren Ursache 2.) die Defizite von bestimmten ethnisch definierten Gruppen sind. Das Ziel ist deshalb 3.) deren Angleichung an die Norm/die Leitkultur, die Wiederherstellung von Ganzheit und Einheit. (21) Das auch in konservativen Kreisen angekommene Bekenntnis zu „Vielfalt“ weicht von alten essentialisierenden Norm- und Ordnungsvorstellungen deshalb auch um keinen Deut ab.
Deshalb ist die Ablehnung eines, sich als Antirassismus gerierenden Multikulturalismus richtig, egal ob in seiner exotisierenden Variante oder als kulturalistischer Entschuldigungsdiskurs. Wer sich essentialisierend auf ethnische Gemeinschaften oder auf besondere kulturelle Identitäten bezieht, hilft entscheidend bei der Durchsetzung ethnischer Zuschreibungen und betreibt nichts anderes als kulturalistischen Rassismus. Die Kampagnen gegen Fremdenfeindlichkeit, für kulturelle Vielfalt und Toleranz stehen ganz in der Logik von Integrationsimperativ und Multikulturalismus und müssen dafür kritisiert werden. Trotzdem schießen die hier kritisierten antideutschen Positionen übers Ziel hinaus. Weil sie alle, die Rassismus thematisieren, zu Multikulturalist_innen erklären, obwohl es viele antirassistische Gruppen und Positionen gibt, die seit Jahren auf die Fallstricke eines solcherart missverstandenen Antirassismus verweisen. Auch verkennen sie die Anschlussfähigkeit ihrer „Multikulti-Antira-Konsens“-Rhetorik an konservative Mehrheiten, die „den gescheiterten Multikulturalismus“ als Argument gegen kosmopolitische Gesellschaftsmodelle und als Ursache aller „Probleme mit Migration“ anführen. Schließlich bleibt völlig außer Acht, dass die Rede vom Multikulturalismus hierzulande noch nie eine praktische Entsprechung hatte. Konkrete Maßnahmen gegen Diskriminierung, ethnic monitoring, Diversitypolicies, spezifische Förderprogramme oder gar Quoten, die man auf ihre Wirkung hin überhaupt erst einmal untersuchen und dann auch gern kritisieren könnte, gibt es in den USA, Kanada oder Großbritannien. In Deutschland sind solche Konzepte, abgesehen von einigen Großstädten, einfach nicht existent.

Rassestaat, struktureller Rassismus, bürgerlich kapitalistischer Nationalstaat?

Natürlich ist die Bundesrepublik kein Rassestaat: Es gibt keine Gesetze, die Menschen unter expliziter Bezugnahme auf die Kategorie „Rasse“ benachteiligen.(22) Die Behauptung, die restriktive Asyl- und Migrationspolitik sei „nicht rassistisch sondern pragmatisch, innerhalb einer Welt, in der keine gerechte Verteilung der Reichtümer und der Arbeit herrschen“ verkennt, dass Rassismus bei der globalen und nationalen Verteilung von Reichtum und Arbeit eine Rolle spielt. Globale Ressourcenverteilung und Konflikte sind die Hauptursachen für Flucht und Migrationswünsche und ohne die historische Genese von Kapitalismus, Kolonialismus, Nationalstaaten und Rassismus nicht verstehbar. Rassismus ist entscheidend für die Konstitution von Nationalstaaten gewesen und ist es vermittelt über die Staatsangehörigkeit, die Einwanderungspolitik und Bevölkerungspolitik und die Arbeitsmarktregulierung bis heute.
Die koloniale Aufteilung des Weltmarktes in und unter den Nationalstaaten wirkt sich bis heute auf die globale Verteilung von Ressourcen und eine rassifizierte Arbeitsteilung aus. In der Funktion als billige „industrielle Reservearmee“ und als Careworker_innen, die deutschen Facharbeiter_innen erst den beruflichen Aufstieg ermöglichen, im „Inländerprimat“(23) , in der dauerhaften Struktur der gesellschaftlichen Unterschichtung und in der Verweigerung staatsbürgerlicher Rechte sind koloniale Muster bis heute sichtbar. Das bestimmende Element in der deutschen Migrationspolitik sind nach wie vor deutsche „Nationalinteressen“, während die Bedürfnisse und Rechte der Migrierten, die als Arbeitsobjekte verdinglicht, als Rechtssubjekte aber nur rudimentär anerkannt werden, keine signifikante Rolle spielen. Eine scharfe Abgrenzung von ökonomisch-pragmatischen Interessen und Konkurrenzzwängen und von rassistischen Vorstellungen der Nation ist dabei weder möglich noch nötig. Solange Zugehörigkeit über Ethnos und nicht Demos definiert wird, solange werden Zugänge zu den sozioökonomischen und politischen Ressourcen kollektiv nach rassifizierten Kriterien unterschiedlich verteilt. Auch Aufenthaltstitel werden in Deutschland nicht frei von rassistischen Kriterien verliehen. Vor kurzem wurde das Zuwanderungsrecht dahingehend geändert, dass Ehepartner_innen von Migrant_innen aus bestimmten Ländern einen Nachweis über Kenntnisse der deutschen Sprache erbringen müssen, wenn sie ein Aufenthaltsrecht erhalten wollen. Und während in den USA die Kriterien für den Ehegattennachzug für alle Bewerberinnen gleich (hart) sind, ist es in Deutschland behördliche Regel, dass Menschen aus bestimmten Ländern nachweisen müssen, dass sie keine Scheinehe führen. Während Menschen aus postkolonialen Staaten weiter auf den Weg des Asylverfahrens verwiesen sind und Menschen aus muslimischen Staaten automatisch Staatsschutzabfragen über sich ergehen lassen müssen, ist es für Bürger_innen westlicher Staaten von vornherein leichter auf deutsches Territorium zu gelangen und dort zu bleiben.
An vielen Stellen entfaltet die deutsche Asyl- und Einwanderungsgesetzgebung eine rassistische Eigenlogik, die nicht mit ökonomischen Interessen, z.B. an hochqualifizierten oder billigen Arbeitskräften erklärbar ist bzw. die diesen sogar offen entgegensteht.
Natürlich gibt es Ausnahmeregeln für vergünstigte Aufenthaltsrechte, die sich an Verwertungskriterien (Ausbildung, Beruf, Investitionen) orientieren, sich also an diejenigen richten, die „uns nützen“. Doch gegenüber den langjährigen Forderungen aus Wirtschaft und Demoskopie, Deutschland müsse sich endlich öffnen, um konkurrenzfähig zu bleiben, erweist sich die deutsche Migrationspolitik als erstaunlich resistent. Die Reform des Zuwanderungsrechts hat zu dieser Öffnung nicht beigetragen und die von der Regierung Schröder 2002 lancierte Greencardregelung hat bis auf den Namen nichts mit der US-amerikanischen Regelung zu tun und wurde von den erwünschten hochqualifizierten Migrant_innen kaum in Anspruch genommen, weil z.B. die Anforderungen an den Erhalt einer Niederlassungserlaubnis zu hoch war und ein Familiennachzug nicht intendiert.(24)
Regelungen wie die Residenzpflicht haben mit ökonomischer Rationalität rein gar nichts zu tun: sie ist willkürlich, bürokratisch, ökonomisch sinnlos und ein Überbleibsel deutschen Kolonialrassismus. Nur in Deutschland existiert eine Regelung, die es Menschen mit legalem Aufenthalt verbietet, sich frei zu bewegen. Schon in ihren Kolonien versuchten die Deutschen, die Bewegungsfreiheit der Kolonisierten zu unterbinden. Damals gab es dafür ein „Eingeborenenregister“ und eine Blechmarke als Passersatz. Da jede Marke nur in einem Bezirk gültig war, konnten die Besatzer jederzeit feststellen, wer unerlaubt den zugewiesenen Distrikt verlassen hatte. Die Residenzpflicht ist auch nicht vergleichbar mit dem ökonomischen Zwang, dem alle Menschen im Kapitalismus bezogen auf die freie Wohnungswahl unterliegen. Es geht nicht um die Wahl einer bestimmten Wohngegend, sondern schlicht um die Möglichkeit zu einem Konzert, einer politischen Veranstaltung oder einer Geburtstagsfeier zu kommen, ohne die Ausländerbehörde um Erlaubnis fragen zu müssen.
Last but not least ist Recht mehr als ein formales Gesetz. Recht ist nicht law in the books, sondern entfaltet sich erst über seine Anwendung und Mobilisierung. Hier kommen Gerichtsurteile, Richtlinien und Entscheidungsspielräume zum Tragen und Akteure, die diese Entscheidungen treffen. Deshalb reicht ein Blick ins Staatsangehörigkeits-, Aufenthalts- oder Polizeigesetz nicht aus, um rassistische Logiken auszumachen. Erst der Blick in exekutive Praxen von Behörden und staatlichen Institutionen zeigt, wie sich law in action entfaltet und ob Rassismus bei der Geltung und Inanspruchnahme von Rechten eine Rolle spielt. Ist das der Fall, kann auch von staatlichem oder institutionellem Rassismus gesprochen werden.

Objektives Wissen vs. Rassismuserfahrungen: Wer sind die Expert_innen?

Dass Rassismus nicht auf einzelne Nazis oder Ossis reduziert werden kann, sondern ein Problem von gesellschaftlicher Relevanz darstellt, ist oft genug betont worden. Trotzdem sei das Allgemein-wissen der weißen Deutschen hinsichtlich Rassismus vergleichbar mit dem „Wissen“ der Männer über die Rollen und die Behandlung von Frauen um 1850, schreibt Noah Sow.(25) Dass auch weiße deutsche Linke mit gesellschaftskritischem Anspruch empirische Evidenzen und theoretische Erkenntnisse der Rassismusforschung einfach ignorieren, hat damit zu tun, dass sie sie einfach ignorieren können. Zu entscheiden, „ich setze mich jetzt mal mit Rassismus auseinander“ und es genauso schnell wieder lassen zu können, ist ein Privileg, genauso wie die Möglichkeit, sich von Rassismus nicht betroffen zu fühlen. People of Color und Migrant_innen haben diese Wahl nicht(26).
Über Rassismuserfahrungen und Othering(27) als Analysekategorie wird sich nur lustig machen, wer selber vollständig christlich-biodeutsch aussieht, sozialisiert und privilegiert ist und andere Realitäten weder aus eigenen Erfahrungen noch aus denen von Freund_innen, Genoss_innen, Nachbar_innen kennt. Wer als schwarzer Deutscher, Bewohnerin im Flüchtlingsheim oder Migrant_in in Sachsen lebt oder wer entsprechende Zeugnisse von Rassismuserfahrungen einmal angehört oder zumindest gelesen hat(28), wird wissen, dass für die meisten dieser Menschen nicht Nazis, sondern rassistische Alltagserfahrungen in Behörden, in der Uni oder im Wohnhaus das größte Problem sind. Ein damit verbundenes Problem ist, dass ausschließlich Weiße definieren, was (Anti-)Rassismus bedeutet. Wir glauben identifizieren zu können, wer die Täter_innen sind – nämlich gewaltbereite Faschos und Nazis – und bleiben dabei blind für unsere eigene Täter_innenschaft. Weißes (Kolonial-)Wissen und weiße Realität werden als „neutrale“ und „objektive“ Wahrheiten ins Zentrum der Wissensproduktion gestellt. Es ist privilegierte Ignoranz, andere Erfahrungswelten abfällig wegzuwischen und gesellschaftliche Verhältnisse ausschließlich anhand formal-abstrakter Kategorien wie den Wert erklärt wissen zu wollen.

Rassismus ist nach alldem nicht nur ein Naziproblem, sondern auch eines der Leipziger radikalen Linken. Während die Schriften von Marx und Adorno zu ihrem Fundus gehören, leistet sie sich bislang in Bezug auf Rassismus den Luxus asymmetrischer Ignoranz. Dessen Durchdringung steht noch aus. Und zwar auch in selbstreflexiver Manier. Das bedeutet, das eigene Weißsein, die damit verbundenen Privilegien, eigenen Zurichtungsmechanismen und rassistischen Projektionen kritisch zu reflektieren.
Wer heute in Sachsen dagegen gar das Ende des Rassismus ausruft und das Ende des Antirassismus fordert, trägt aktiv dazu bei, dass sich hier nichts ändern wird, dass schwarze Deutsche, Flüchtlinge und Migrant_innen weiter nach Berlin oder in westdeutsche Großstädte ziehen, dass es keine Reflektion, keine Kritik, keine Politik gegen rassistische Diskriminierungen gibt, dass die Linke in Leipzig weiter so homogen bleibt wie eine ostdeutsche Kleinstadt. Er/sie muss sich deshalb nicht nur den Vorwurf der Ignoranz gefallen lassen, sondern auch den der Mitwirkung an der Perpetuierung rassistischer Zustände.

Lou Sander

Anmerkungen

(1) Ein Bewohner einer sogenannten Gemeinschaftsunterkunft. Zitiert nach: Juliane Wetendorf, RAA Sachsen: Struktureller Rassismus als Tabuthema im öffentlichen Diskurs, in: Rassismus in Sachsen, Antidiskriminierungsbüro Sachsen 2010, S. 48, 52.

(2) Grada Kilomba: „Wo kommst du her?“, http://www.migration-boell.de/web/diversity/48_608.asp

(3) Cafe Morgenland: Die Weizsäckerisierung der Militanz oder Die Banalität des Blöden, 1994, http://www.cafemorgenland.net/archiv/1994/1994.03.27_weisz.htm

(4) So beschreibt die kanakische Gruppe Cafe Morgenland den Kniff der biodeutschen antideutschen Linken, von rassistischen Verhältnissen in Deutschland abzulenken und mit dem rassistischen Mob gemeinsame Sache zu machen. Cafe Morgenland: Das Geifern der Linken, 2005, http://www.fluchschrift.net/inc/geifern.htm#_ftnref8

(5) Ich beziehe mich auf die antideutsche Strömung, die sich an der Zeitschrift BAHAMAS orientiert.

(6) Damit meine ich alle, die die moderne Gesellschaft einer grundsätzlichen, auf individuelle Emanzipation zielenden Herrschaftskritik unterziehen wollen und einen ausschließlich positiven Bezug auf bürgerliches Recht, Staat und Zivilisation kritisieren.

(7) afbl: Raus aus der Komfortzone. Für eine feministische Position in antideutscher Gesellschaftskritik, 2008, http://www.left-action.de/afb/antideutsch_feminismus.html

(8) Wem die Formulierung N-Wort nichts sagt, die/der ist vermutlich weißdeutsch und kann z.B. hier Wissenslücken schließen: http://www.derbraunemob.de

(9) Martin Dornis, Die verkürzte Deutschlandkritik CEE IEH #176 (http://www.conne-island.de/nf/176/26.html).

(10) Cafe Morgenland bemerkte dazu, während der normale Deutsche seinen Rassismus nicht erkläre, sondern nur auslebe, bräuchten linke Rassisten eine „rationale“ theoretische Absicherung. Vgl. Cafe Morgenland: Das Geifern der Linken, 2005.

(11) Anm. der Redaktion: Text aus dem CEE IEH #168.

(12) Hannes Gießler: 20 Jahre antideutscher antifaschistischer Widerstandskampf (http://www.conne-island.de/nf/169/29.html), CEE IEH #169; Martin Dornis, Die verkürzte Deutschlandkritik CEE IEH #176 (http://www.conne-island.de/nf/176/26.html).

(13) Vgl. INEX: Nie wieder Revolution für Deutschland, 2009, S. 26 (http://inex.blogsport.de/images/inex_nie_wieder_revolution_fuer_dtl_rc1.pdf).

(14) So titelten deutsche Zeitungen, nun habe es ein „Vietnamese“ in die deutsche Regierung geschafft oder sprachen augenzwinkernd von der „gelben Gefahr“.

(15) Celia Okoyino de Mbabi spielt in der deutschen Fußballnationalmannschaft.

(16) Die Autorin ist selber eine weiße Frau mit deutschem Pass.

(17) Vgl. Antidiskriminierungsbüro Sachsen: Rassismus auf Sächsisch, in: Rassismus in Sachsen 2010, S. 13. (http://www.adb-sachsen.de/media/documents/1270034069.pdf)

(18) Durch Geburt im Inland wird ein Kind ausländischer Eltern das nach dem 1. Januar 2000 geboren wurde nicht durch Geburt auf deutschem Territorium Deutsche/r, sondern nur ein Elternteil seit acht Jahren seinen gewöhnlichen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland hat und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt, § 4 Abs. 3 StAG.

(19) In der Regel gehen sie irgendwann nach Berlin oder in die USA.

(20) Das wollen auch die meisten nicht verstehen, die die „Wo kommst Du eigentlich her? Frage stellen. Instruktive Antworten finden sich bei: Mutlu Ergün: Die geheimen Tagebücher des Sesperado, in: re/visionen, 2007, S. 261-264.

(21) Vgl. Mark Terkessidis: Interkultur, Suhrkamp 2010.

(22) Für Martin Dornis war Deutschland selbst im NS kein rassistischer Staat. Für ihn erklärt sich die „Rassenforschung“ der Nazis „nicht aus Rassismus, sondern strikt aus Antisemitismus“. Den NS als Rassismus zu bezeichnen, verharmlose „den Naziunstaat samt seiner systematischen Ermordungspolitik“, in dem „nichts ‚rassistisch` und nichts ‚biopolitisch`“ gewesen sei. Damit verkennt er zum einen die komplexe Verknüpfung von Antisemitismus, ethnisch-kolonialem Rassismus, arischer Mystik und Eugenik. Auch die Rolle und Spezifik von Antislawismus und Antiziganismus blendet er aus. Weil Rassismus, Eugenik und Biopolitik für ihn keine Rolle spielen, sieht er auch nicht, dass neben der „Vernichtung des Jüdischen“ auch die Ausmerzung „Artfremder“ und die „Aufartung“ und „Optimierung“ des eigenen Erbguts zu den Kernelementen des NS gehören. Auch Sinti und Roma waren von der systematischen Ermordungspolitik der Nazis betroffen, und Blutschutzgesetze und Maßnahmen zur Rassenhygiene wie Zwangsabtreibung, Eheverbot, Sterilisation und Ermordung trafen auch andere „minderwertige Fremdrassen“ (die Nazis zählten dazu „Zigeuner, Neger und ihre Bastarde“). Vgl. Dietmut Mayer: Rassistisches Recht in NS-Deutschland, in: Fritz Bauer Institut (Hg.): Gesetzliches Un-recht. Rassistisches Recht im 20.Jahrhun-dert, Frankfurt/Main 2005, S. 95-110; Birgit Rommelspacher: Ethnischer und eugenischer Rassismus, die randschau 1/1993, S. 6-10; Lou Sander: Schwarz – Weiß – Rot – Gold (Anti)Rassismus im deutschen Kontext, Interventionen, 2009 (http://interventionen.conne-island.de/04.html).

(23) Nach dem Motto „Arbeit zu erst für Deutsche“ gebietet §39 Aufenthaltsgesetz, dass Arbeitgeber_innen erst nach einer Genehmigung des Arbeitsamts Nichtdeutsche beschäftigen dürfen. Das Amt prüft, ob sich für den Job 1.) kein/e Deutsche/r und 2.) kein/e EU-Bürger/in finden lassen und generell, ob im konkreten Beschäftigungssegment gerade eine hohe Arbeitslosigkeit unter Deutschen herrscht.

(24) Vgl. zur Modernisierung des deutschen Zuwanderungsrechts, die keine ist: Doris Liebscher: Zurück auf Los, in: Phase 2. 25/2007, S. 72-75 (http://phase2.nadir.org/index.php?artikel=494).

(25) Noah Sow, S. 36.

(26) Vgl. Otto Busse: weiß-sein, Diskus 3/2004, http://www.copyriot.com/diskus/03_04/01_weiss.html; Wer weiter über eigene Privilegien nachdenken will, sei auf den Fragebogen im Anhang des Buches „Weißsein im Widerspruch“ von Eske Wollrad verwiesen.

(27) Othering meint die Erfahrung des Fremd-gemacht-werdens.

(28) Noah Sow, aaO. MarkTerkessidis: Banalität des Rassismus, 2004.

20.05.2010
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