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Michael Schwandts Einführung in die Kritische Theorie

Oder: Wie die theorie.org-Reihe versucht, in die kritische Theorie einzuführen

Nach der Lektüre von Michael Heinrichs „Kritik der Politischen Ökonomie – Eine Einführung“ aus selber Reihe war für eine „Einleitung in die Kritische Theorie“ wenig Gutes aus dem Hause „theorie-org“, der Ideologiefabrik für herumwerkelnde Linksradikalisierende zu erwarten. Nachdem man dem Weichspültheoretiker Michael Heinrich Platz dafür geboten hatte, mit seinem von ihm postulierten Bruch(1) von einem „philosophischen“ hin zu einem „wissenschaftlichen“ Marx, dessen Werk von jeder kritischen Schärfe zu befreien, war nun für eine Einführung in die kritische Theorie Schlimmes zu befürchten. Aber immerhin gab`s bei theorie.org ja auch schon lesenswertes. Andrea Trumanns „Feministische Theorie zur Einführung“, in der sie ihre materialistische Kritik des Geschlechterverhältnisses entfaltet, gehört trotz Foucault-Einschlag (damals noch) alle mal dazu.

Die kritische Theorie – Eine praktische Theorie?

Wie auch beim Heinrich nicht alles falsch ist, enthält auch dieses Buch durchaus recht brauchbare Ausführungen zur Entstehung der Kritischen Theorie, über die Arbeit des Instituts für Sozialforschung vor, während und nach der Nazibarbarei, die Zivilisationskritik Horkheimers, Adornos und Marcuses, den Spätkapitalismus und sehr viel, sehr sehr viel über das Verhältnis Adornos und Marcuses zu den studentischen Protesten von 1968 sowie das leidige Verhältnis von „Theorie“ und „Praxis“. Dazu Exkurse über Dialektik, Psychoanalyse, politische Gewalt, Habermas` Theorie des kommunikativen Handelns und die Zivilgesellschaft.

Dass uns Dialektik allen Ernstes als die Gesetze von der Negation der Negation, dem Umschlag von Quantität in Qualität und der Durchdringung der Gegensätze aufgetischt wird, will ich an dieser Stelle mal feierlich verschweigen. Deutliches Manko ist die Selbstbeschränkung des Autors auf die rein gesellschaftstheoretischen Schriften der Autoren (bei Adorno gerade mal zwei Bände von zwanzig, den Nachlass noch nicht mitgerechnet!). Andere Zugänge zur kritischen Theorie seien zwar durchaus möglich, etwa über Adornos Musikphilosophie oder Löwenthals Literaturkritik. Schwandt aber wähle den Zugang über die Diskussionen bezüglich des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Damit einher geht eine notwendige Verkürzung des Werks, die sich nicht so mir nichts, dir nichts damit entschuldigen lässt, eine leicht lesbare Einführung schreiben zu wollen. Dieses Zurechtschnippseln der Kritischen Theorie hat vielmehr sowohl Methode als auch Tradition: Nur auf diese Weise lässt sich die Kritische Theorie derartig auf den Hund bringen, dass sich in ihren Worten dem ohnehin bewegungsfixierten Publikum nach dem Munde quatschen lässt.

Ausdruck dieser Herangehensweise ist die kritiklose Nähe zu Marcuse, dessen Entfremdungskritik eine Schlagseite in Richtung eines ressentimentgeladenen, regressiven Antikapitalismus aufweist, mindestens jedoch von diesem adaptiert werden kann. Der Gegensatz zwischen Adorno und Marcuse wird von Schwandt zwar referiert, aber nicht gewertet. Versöhnung heißt bei Adorno Subjekt und Objekt als solche bestehen zu lassen, sie aber zueinander ins Verhältnis zu setzen. Beim ehemaligen Heidegger-Schüler Marcuse hingegen geht es um eine Überwindung des Gegensatzes als solchem. Marcuse rekurriert dementsprechend auch im positiven Sinne auf Schillers Ode an die Freude, die es den Ausgegrenzten und Erfolglosen anempfiehlt, „weinend“ sich aus dem „Bunde“ der Menschheit zu „stehlen“. Damit soll Marcuse nicht völlig diskrediert werden. Im Gegenteil: Gerade ein Werk wie „Triebstruktur und Gesellschaft“ ist unverzichtbar für radikale Kritik. Allerdings deutet sich etwa in seinem problemlosen Aufgreifen Schillers an, wohin die Forderung nach einer Auflösung des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt im schlimmsten Fall zu schlagen droht. Die Nivellierung der Gegensätze war das Programm des NS, die Auflösung des Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft in der Volksgemeinschaft. Wer den Anforderungen dieser Gesellschaft nicht genügt, soll nicht zur Menschheit gehören. Die Nazifaschisten zogen aus dieser aufklärerischen Position die barbarische Konsequenz. Genau das wäre einem linken Publikum in einer Einführungsbroschüre in die Kritische Theorie, einem Publikum, dass die Überwindung der „Dichotomien“ allen Ernstes als revolutionär und nicht als faschistoid empfindet, doch primär zu verklickern gewesen.

Die Einführung referiert zwar ausführlich das problematische Verhältnis Adornos zur Studentenbewegung, das sich zuspitzte, als er im Juni 1967 nach Berlin geladen war, um über Goethes Iphigenie auf Tauris zu referieren. Was Schwandts Buch verschweigt: die Art, wie einige der Studenten auf Adorno reagierten, die Tatsache, dass es da nicht lediglich um irgendwelche theoretische und praktische Differenzen ging. Um einen Einblick zu geben, seien hier einige Stellen aus einem Flugblatt, verfasst vom Kommune-1-Aktivisten Dieter Kunzelmann, zitiert:
„Theodor W. Adorno kommt nach Berlin und spricht über ästhetische Probleme [...] Er wird über die Iphigenie – von Goethe glaube ich – zu uns sprechen [...] Doch da ist er ein bisschen zu spät dran. Denn wir lauschen nur noch den Worten des großen Vorsitzenden Mao, den Parolen der Revolution [...] Was soll uns der alte Adorno und seine Theorie, die uns anwidert, weil sie nicht sagt, wie wir diese Scheiß-Uni anzünden und einige Amerika-Häuser dazu [...] Weil er keine 1000 Mark für den Vietcong stiftet – das wären ein Hubschrauber + 18 tote GI`s + 10 mit ohne Füßen [...] Seine Worte mögen ihm im Maul verfaulen“ (zitiert nach: Grigat (Hg.), 2006, S. 50). Ich hoffe, das bedarf keines weiteren Kommentars.

Im folgenden seien einige Gedanken der Kritischen Theorie dargelegt, die die Einführung von Schwandt ausblendet, wohl um das Buch einem aktionistisch und politizistisch versierten Publikum schmackhaft zu machen.

„Urverwandt“ – Identititätsprinzip und Warentausch

Klar, eine Einführungsbroschüre kann nicht alles für bestimmte Autoren wesentliche behandeln. Man trifft – und zwar völlig zurecht – eine Auswahl. Das bei dieser ausgerechnet Alfred Sohn-Rethel als der nach Adorno wichtigste Kritische Theoretiker mit keinerlei Wort erwähnt wird, dem Habermasischen Kommunikationsgefasel hingegen ein ganzes eigenständiges, wenngleich kritisch sich absetzendes Kapitel gewidmet wird, spricht jedenfalls Bände. Sohn-Rethel war es jedenfalls, der mit einer revolutionären Entdeckung dem materialistischen Spätwerk Adornos auf die Sprünge half. Er erkannte, dass die warenförmige Erscheinung der Produkte unter kapitalistischen Bedingungen auch die Formen bestimmt, in der in dieser Gesellschaft gedacht wird. Alle Theorie und alle Wissenschaft, auch und gerade die sogenannte harte Naturwissenschaft, denkt also mit ihrer Klassifizierung, Systematisierung und Mathematisierung der Welt die Bewegung der Waren im Kopfe der tauschenden Individuen nach. Ein Theoretiker mit all seinem Theoretisieren läuft immer Gefahr, die Verhältnisse, so wie sie sind, zu legitimieren, indem er für vernünftig erklärt, was nicht vernünftig ist. Wer Zustände für erklärbar hält, erklärt sie damit auch für vernünftig. Theorie – auch und gerade linke – ist somit die perfekte Ergänzung einer an sich schon falschen Praxis. Zum denkenden Eingriff wird sie erst durch Selbstreflexion auf sich und ihren Gegenstand, nicht als Hilfsmittel eines wie auch immer gearteten Agierens. Kritisch kann Theorie nur im „Elfenbeinturm“ sein – einem mit Schießscharten wohlgemerkt(2). Perspektivisch muss Gesellschaftskritik selbstverständlich aus diesem Gefängnis, welches dieser Turm auch darstellt, heraus. Die nach wie vor notwendige Welrevolution muss natürlich, mit Marx formuliert, die Massen ergreifen, um zur materiellen Gewalt zu werden. Diese an und für sich richtige Erkenntnis darf aber nicht über den Graben hinwegtäuschen, der mit dem Übergang zum Spätkapitalismus im Allgemeinen, zum Nazifaschismus im Besonderen, zwischen Theorie und Praxis entstanden ist. Diesen Punkt stellt Schwandt anhand seiner Behandlung Adornos übrigens recht deutlich dar: In der Trennung zwischen Theorie und Praxis überwintert in barbarisierten Zeiten die Humanität(3).
Freilich argumentiert Adorno anders als Sohn-Rethel, wendet dessen Kritik an der theoretisierenden Denkform noch einmal in spezifischer Weise: „Das Tauschprinzip [...] ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es [das Identifikationsprinzip]; durch ihn [den Tausch] werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch.“ (ND, S. 149)
Damit weist Adorno darauf hin, dass das identifizierende Denken, also die Kategorisierung und Schematisierung von Menschen, Natur und Gesellschaft, nicht einfach eine Folge des Warentauschs im Sinne einer Ableitung ist. Weiterhin streicht er seine humanistische Seite heraus: indem es die Welt geordnet erscheinen lässt, wird deren Umgestaltung im menschlichen Interesse denk- und praktizierbar. Sohn-Rethel hingegen, bei dem die Arbeit, von der im Tausch abstrahiert wird, per se als gut erscheint, wird durch seine Ableitungslogik ins Gefolge der maostalinistischen Barbarei getrieben und letztlich dazu genötigt in seinem Hauptwerk China und Albanien als jene Modelle zu preisen, in denen der Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit überwunden wäre.
Was Adorno betrifft, so ist dessen Lob des Warentausches aus einer Perspektive formuliert, aus der dieser bereits durch sich selbst zerstört ist, der des Nationalsozialismus: „Die Ausbreitung des Prinzips [der Identifikation] verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität“ (ND, S. 149ff). Der mit der Entwicklung des kapitalistischen Systems erzeugte Fetischcharakter der Ware überzieht die gesamte Gesellschaft, wird damit totalitär und mündet schließlich in den Nationalsozialismus.
Gleichwohl hält Adorno fest: „Würde indessen das Prinzip abstrakt negiert; würde als Ideal verkündet, es solle, zur höheren Ehre des irreduzibel Qualitativen, nicht mehr nach gleich und gleich zugehen, so schüfe das Ausreden für den Rückfall ins alte Unrecht [...], annullierte man simpel die Maßkategorie der Vergleichbarkeit, so träten anstelle der Rationalität, die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschprinzip innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg von Monopolen und Cliquen.“ (ebd.)
Die bunte Vielfalt der Welt, die unter das Räderwerk von Kapitalismus und Aufklärung gerät, ist also keineswegs als das positive Gegenprinzip gegen die Einheit, das System zu mobilisieren. Adorno verdeutlicht hier, worum es einer Kritik im Dienste der Emanzipation zu gehen hat: nicht hinter die Rationalität zurückzufallen, sondern vielmehr über sie hinaus zu gehen und sie gegen eine reaktionäre Ablehnung zu verteidigen – aus der Einsicht heraus, dass der Nationalsozialismus offenbarte, dass es Schlimmeres als den „normalen“ Kapitalismus gibt, nämlich die Schleifung der durch ihn gestifteten gesellschaftlichen Vermittlung unter Beibehaltung von Herrschaft und Ausbeutung.
„Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden Denken will, dass das Ideal des freien und gerechten Tausches, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde.“ (ebd.) Aber diese Verwirklichung des im Tausch angelegten Glücksversprechens zielt nicht auf seine Rettung per se, sondern vielmehr auf seine Überwindung. Das Glücksversprechen der kapitalistischen Gesellschaft ist zu retten – aber nur gegen sie.
„Das allein transzendierte den Tausch.“ (ebd.) Es geht also darum, das im Tausch angelegte Glück – ein Versprechen auf Gleichheit bzw. Gerechtigkeit – gegen seine reaktionäre Kritik zu verteidigen und dabei gleichzeitig zu erkennen, dass diese reaktionäre Kritik von den Verhältnissen, wie sie sind, hervorgebracht wird. Gegen die Verhältnisse ist an ihrem Versprechen festzuhalten. Der Tausch und die Identifikation sind sowohl zu verteidigen – gegen reaktionäre Kritik – als auch abzuschaffen, im Sinne kommunistischer Kritik. Und mehr noch: letztlich sind sie nur durch ihre Abschaffung zu verteidigen bzw. ihre Abschaffung hat ihre Verteidigung zu sein.
Das ist der Kern dessen, was bei Adorno unter Ideologiekritik firmiert. „Identität ist die Urform von Ideologie. (ebd.)“ Damit muss ein Denken, um nicht ideologisch zu sein, auf sich selbst reflektieren. Im identifizierenden Denken findet sich zweierlei. Das Identifizieren und Kategorisieren macht einerseits die Welt den Menschen zugänglich und andererseits unterwirft es sie einer Totalität und macht sie gleich.
„Darum ist Ideologiekritik kein Peripheres und Innerwissenschaftliches [...] sondern philosophisch zentral: Kritik des konstitutiven Bewusstsein selbst“ (ebd.). Dahin treibt Adorno den von Sohn-Rethel aufgedeckten Zusammenhang von Warenform und Denkform: hin zu einer Kritik des gesamten gesellschaftlichen Bewusstseins. Von dieser Ideologiekritik, die die Kritische Theorie trägt, ist in der Einführung von Schwandt leider nicht mehr viel zu bemerken.

Gesellschaft als realer Schein

Eine Einführung in die Kritische Theorie muss dem Begriff der von ihr kritisierten Gesellschaft nachgehen. Dabei geht es um die naturhafte Erscheinung der kapitalistischen Gesellschaft aus der Perspektive von Auschwitz. Warum folgt die kapitalistische Gesellschaft scheinbar Naturgesetzen, denen sich die Einzelnen zu unterwerfen haben: „naturhaft ist jenes Gesetz [gemeint ist die Akkumulation des Kapitals] wegen seines Charakters seiner Unvermeidlichkeit. Ideologie überlagert nicht das gesellschaftliche Sein als ablösbare Schicht, sondern wohnt ihm inne. Sie gründet in der Abstraktion, die zum Tauschvorgang wesentlich rechnet. Ohne Absehen von den lebendigen Menschen wäre nicht zu tauschen. Das impliziert im realen Lebensprozess bis heute notwendig gesellschaftlichen Schein. Sein Kern ist der Wert als Ding an sich, als ,Natur`. Die Naturwüchsigkeit der kapitalistischen Gesellschaft ist real und zugleich jener Schein.“ (ND, S. 348) Die spätkapitalistische Gesellschaft erscheint ihren Betreibern notwendigerweise als Naturgesetz, das sich ohne ihr Zutun über sie hinweg vollzieht, obwohl es von ihnen hervorgebracht wird. Der Schein seiner Undurchdringlichkeit ist nicht als bloß Gedachtes abtrennbar, sondern gehört zur Geschäftsgrundlage dieser Gesellschaft. Die Ursache dafür ist der Tausch als Grundlage des kapitalistischen Prinzips, der vertragsgemäßen Ausbeutung der Ware Arbeitskraft zum Zweck der Akkumulation von Kapital. Durch ihn werden die Produkte durch den Wert zu Waren verglichen. Dies ist nur möglich, indem sich auch die Menschen dementsprechend verhalten. Im selben Maße, in dem sie über den Wert ihre Produkte im Tausch zu Waren vergleichen, reduzieren sie sich selbst auf freie und gleiche Warentauschsubjekte. Indem sie von der sinnlichen Qualität ihrer Produkte notwendig absehen, abstrahieren sie notwendig von sich selbst als lebendige Wesen. Darauf gründet der reale Schein dieser Gesellschaft. Schein ist er, insofern er nur gedacht wird, real, indem er notwendig gedacht werden muss, indem das gesellschaftliche Getriebe auf ihm gründet. Ideologie trägt die kapitalistische Gesellschaft wesentlich. Gesellschaftskritik, verstanden als Ideologiekritik, zielt auf diesen Schein. Deshalb ist sie „philosophisch zentral“, deshalb ist sie „Kritik des konstitutiven Bewußtseins selbst“(4).

Kritik der politischen Ökonomie des Nationalsozialismus – Produktionsverhältnis des Todes

Kritische Theorie in ihrer Spätphase ist zu verstehen als eine „Kritik der politischen Ökonomie des Nationalsozialismus“. So wie Marx den Kapitalismus im 19. Jhd. in England als den fortgeschrittensten seiner Zeit untersuchte und von diesem zu einem Allgemeinen in jener Gesellschaft vordringt, so nehmen die Autoren der Kritischen Theorie sich den deutschen vor. So wie England im 19. Jahrhundert der Welt den Weg wies, Kapitalismus als Freiheit und Gleichheit – so wies im 20. Deutschland der Welt den Weg. In Auschwitz brach durch, was aus dieser Gesellschaft zu werden droht, wenn sie in die Barbarei umschlägt: es etabliert sich eine Gesellschaft, die nicht anders denn als ein „Produktionsverhältnis des Todes“ (ISF) zu charakterisieren ist.
„Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod zu etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war. [...] Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen, wie man beim Militär es nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt. Auschwitz bestätigt das Philosophem von der reinen Identität als dem Tod.“ (ND, S. 355) Hierzu findet sich in Schwandts Einführung allerdings eine äußerst zutreffende Charakterisierung, wenngleich nicht im Kontext einer Auseinandersetzung mit Adorno: „Über den Menschen soll Hegel dementsprechend einmal ironisch angemerkt haben, dieser besitze Identität überhaupt nur in einer Situation, wenn er nämlich zuletzt auf dem Totenbett liege... Identität, absolute Gleichheit mit sich, besitzt nur ein totes Ding. Was lebendig ist, kann hingegen nur als werdend und sich verändernd beschrieben werden“ (Schwandt, S. 44). Schwandt aber verkennt, dass im Nationalsozialismus die gesellschaftliche Dialektik tatsächlich zementiert wurde und das Wesen dieser Gesellschaft genau darin bestand, die reine Identität tatsächlich herstellen zu wollen. Gerade darin deckte sich aber der Nationalsozialismus mit jenen Ideologen, die heutzutage skandieren: „Ihr liebt das Leben und wir lieben den Tod“(5). Aber jene, die heutzutage daher Hauptgegner Kritischer Theorie sein müssen, erwähnt Schwandt mit keinem Wort.
Der kapitalistischen Gesellschaft wohnt mit ihrer Vergleichung von Individuen zu Subjekten durch den Staat ein Prinzip inne, das schließlich im Massenmord der Nazis kulminiert. Jeder Tausch beinhaltet die Nivellierung des Menschen und sein Abschneiden vom gesellschaftlichen Reichtum. In der liberalen Phase der kapitalistischen Gesellschaft lag diesem Prinzip noch ein Glücksversprechen zugrunde: mit dem realen Absehen vom konkreten Produkt und vom einzelnen Menschen einem Gesamt-zusammenhang, eine Weltgesellschaft zu erzeugen, in der der Reichtum allen Menschen zugänglich sein könnte. Vom Umschlag dieser Gesellschaft in die Barbarei ist genau dann und nur dann zu sprechen, wenn der Gesellschaft dieses Glücksversprechen abhanden kommt, wenn Herrschaft und Ausbeutung irrational werden. Rational waren sie, solange sie den menschlichen Zivilisationsprozess der Emanzipation des Individuums von Natur und Gesellschaft vorantrieben, solange das Kapital noch nicht die gesamte Gesellschaft durchdrang und die Arbeitskräfte ihm real subsumiert wurden. Was in der kapitalistischen Gesellschaft lediglich als Möglichkeit schlummert, bricht an diesem Punkt vollends durch: die Identität der Menschen wendet sich gegen sie und führt zum Massenmord an den Juden. Dieser Mord war zweckfrei, begründete genau deswegen die deutsche Volksgemeinschaft als Rasse und hielt sie als solche zusammen.
Aber dieser Mord und die ihm korrespondierende Gesellschaftsform ist in der vorherigen kapitalistisch-liberalen bereits angelegt: „Was die Sadisten im Lager ihren Opfern ansagten: morgen wirst du als Rauch dich in den Himmel schlängeln, nennt die Gleichgültigkeit des Lebens jedes Einzelnen, auf welche Geschichte sich hinbewegt: schon in seiner formalen Freiheit ist er so fungibel und ersetzbar wie dann unter den Tritten seiner Liquidatoren.“ (ND, 355f)
Die formale Freiheit ist natürlich die der kapitalistischen Gesellschaft in ihrer liberaldemokratischen Verfasstheit. Hier schon sind die Einzelnen austauschbar, ersetzbar, gelten als nichts denn als Funktionsträger der Verwertung des Kapitals. Auschwitz vollstreckt, was in dieser Gesellschaft angelegt ist und was sich durchsetzt, sofern das liberale Glücksversprechen nicht durch die Revolution, verstanden als Abschaffung von Kapital und Staat, freigesprengt wird.
Die Überlegungen über den Zusammenhang zwischen kapitalistischer Gesellschaft und Nationalsozialismus, über den Bruch des einen zum anderen wie über das Fortleben des einen im anderen, führen Adorno schließlich zu der Frage, „ob nach Auschwitz noch sich leben lasse“. Denn: „Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre“ (ebd.). Adornos Negative Dialektik ist nicht einfach „Zivilisationskritik“, wie von Schwandt unterstellt, sondern schlicht und ergreifend eine Kritik der politischen Ökonomie des Nationalsozialismus(6).

Sterben nach Auschwitz

Die Gedanken dieser Kritik der politischen Ökonomie des Nationalsozialismus führen zu Problemen, die scheinbar weit entfernt von Themen wie Gesell-schaft oder dem Verhältnis von Theorie und Praxis liegen, etwa auf eine so abseitige metaphysische Problematik wie der des Todes. Menschliche Geschichte als Konfrontation mit der Natur ist zu einem wesentlichen Teil Auseinandersetzung mit dem Tod, mit dem Faktum der Sterblichkeit. Die Bearbeitung der Natur, materiell durch Produktion, ideell durch religiöse und philosophische Spekulation, diente stets der Bannung des Schreckens, der von der Endlichkeit des Menschen ausgeht. Der Mensch als immer schon ideelles und der Natur enthobenes Wesen kann sich nicht mit seiner Endlichkeit abfinden. Nicht zuletzt aus dieser Perspektive ist die Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft und ihres bürgerlichen Subjekts zu betrachten. Gegen den bedrohlichen Ansturm seiner End-lichkeit, gegen den dem Individuum an allen Ecken und Enden auflauernden Tod, sollte getrotzt werden. Das Individuum macht sich zum Subjekt: zum mit sich selbst identischen Wesen, um sich im Strom der Zeit als unvergängliches Wesen zu begründen und dabei der Natur mehr vom Leben, zeitlich wie materiell, abzutrotzen. Um der eigenen Endlichkeit zu widerstehen ist das Individuum dazu getrieben, von dem real zu abstrahieren, was es zu einem endlichen degradiert: von seiner Natur, von seinem Körper. Aber damit werden die Individuen genau dessen enteignet, worum sie doch gerade kämpften, ihres Lebens.
„Je weniger die Subjekte mehr leben, desto jäher, schreckhafter der Tod. Daran, dass er sie buchstäblich in Dinge verwandelt, werden sie ihres permanenten Todes, ihrer Verdinglichung inne, der von ihnen mitverschuldeten Form ihrer Beziehungen.“ (ND, S. 363) Indem im Kampf gegen den Tod von ihrer Natur und ihrem Körper abgesehen wird, und zwar real, also indem es um ihn nicht geht und auf ihn nicht ankommt, entschwindet den Menschen das Leben. Der Tod offenbart ihnen schließlich, was sie unter spätkapitalistischen Bedingungen im Prinzip immer schon waren: Tote! Er macht ihnen unwiderruflich klar, dass es letztlich kein Leben ist, das sie führen, sondern dass sie als Körper Teil einer Maschinerie sind, der sie sich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert haben. Und Kritische Theorie drängt darauf, sich dies rücksichtslos einzugestehen und gleichzeitig sich darüber klar zu werden, dass dieses entmenschlichte Leben doch das einzige Leben ist, das man hat.
Ansonsten droht „die Dauerpanik angesichts des Todes“. In ihr schmieden sich die deutschen Massen im Nationalsozialismus als Mördergemeinschaft zusammen, um das, was ihnen angetan wird, als Gewaltakt an der „Gegenrasse“ zu vollstrecken: „neues Grauen hat der Tod in den Lagern: seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod“ (ND, S. 363f). Ist die menschliche Geschichte, verstanden als gesellschaftliche, sich entwickelnde Praxis eine ideelle und materielle Konfrontation mit dem Tod, so steht Auschwitz für das Misslingen dieser Praxis. Die Subjektform zerstört sich selbst durch ihre Universalisierung hindurch. Was angetreten war, dem Tod zu widerstehen, verwandelt die „vollends aufgeklärte Erde“ in ein blutiges Schlachtfeld. Das derart historisch dekonstruierte Subjekt vollstreckt den Tod, weil es ihm nicht mehr trotzen kann. Undenkbar vor diesem Hintergrund, was die (post)modernen Dekonstrukteure des Subjekts dem Individuum antun.

Fortwirkende Frauenunterdrückung

In puncto einer Kritik am herrschenden Geschlechterverhältnis müht sich die Linke seit langem hilflos ab. Scheinbegriffe, die nichts sagen und bestenfalls wirkungslos sind, wie „heterosexuelle Matrix“ (Hannah Holme) oder „strukturelles Patriarchat“ (afbl) (jungle world Nr. 9, 04.03.2010, S.18) zeugen hinlänglich davon, dass eine materialistische Kritik der modernen Frauenunterdrückung nicht zu denken ist.
Und eine vollkommen geschlechtsblinde Einführung in die Kritische Theorie – die auch in diesem Punkt ihrem Gegenstand ganz und gar nicht gerecht wird – wirkt dem nicht gerade entgegen. Dabei ist die Kritische Theorie, namentlich die Dialektik der Aufklärung, unverzichtbar für feministische Kritik. Es wäre eine dankbare Aufgabe einer Einführung in die Gedankenwelt Horkheimers und Adornos gewesen, diese als eine Kritik an fortbestehender Unterwerfung der Frauen darzustellen.
In ihrer patriarchatskritischen Ausrichtung steht die Kritische Theorie übrigens in guter marxscher (und auch engelsscher) Tradition. Sie ist bereits konzentriert in so scheinbar lapidaren Sätzen wie: „Die erste Teilung der Arbeit ist die von Mann und Weib in der Kindererzeugung“ (zitiert nach: Bornemann: Das Patriarchat, S. 31). Was sich liest wie ein anthropologisierender Biologismus, enthält in Wahrheit die ganze Kritik des Patriarchats und ersetzt ganze Regale voller Gender-Theory-Bücher samt entsprechenden akademischen Lehrstühlen und Kolloquien. Die Rede von der Teilung der Arbeit ist bei Marx keine neutrale Beschreibung der Aufteilung von Tätigkeiten, sondern immer bereits Herrschaftskritik. Die Teilung der Arbeit wird von Marx immer kritisiert als eine letztlich von geistiger und körperlicher Arbeit. Indem Marx die Zuweisung der Reproduktion an die Frau als Moment der Herrschaft offenlegt, legt er den Finger auf die brennende Wunde der bürgerlichen Gesellschaft: die fortbestehende Unterwerfung der Frauen. In dieser Gesellschaft besteht diese klassische „Arbeitsteilung“, so nennen die Apologeten des Bestehenden die Persistenz des Patriarchats, nämlich fort und das offenbart alle feierliche Bekundung von Freiheit und Gleichheit als Ideologie.
Engels wird konkreter: „Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche“ (ebd.). Das die kapitalistische Gesellschaft beherrschende Klassenverhältnis, der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital, wird gleichermaßen als Überwindung, Fortsetzung wie Modifizierung patriarchaler Unterwerfung der Frauen unter Männer dechiffriert, die solange fortbesteht wie es überhaupt nur Herrschaft und Ausbeutung gibt. Die Unterwerfung der Frauen ist die Geschäftsgrundlage aller Herrschaft von Menschen über Menschen und aller Ausbeutung von Menschen durch Menschen. Lange Studien über das „Verhältnis“ von „Kapitalismus“ und „Patriarchat“ hätte man sich sparen können (bevor man im feministischen Mainstream überhaupt gänzlich davon absah, das Geschlechterverhältnis noch als ein gesellschaftliches zu begreifen). Das eine (kapitalistische Gesellschaft) ist vielmehr die historische Fortsetzung des anderen (des Patriarchats), weshalb es einen
geschlechtsblinden Kapitalismus zwar logisch, aber nicht real geben kann. Praktisch geht die im Tausch vollzogene Abstraktion von allen sinnlichen Eigenschaften immer zulasten von Frauen, weil diese historisch später in die Subjektform gelangten, daher ungleichen Startbedingungen ausgesetzt waren und zu einem Zeitpunkt in die Subjektform gelangten, als diese ihre bürgerlich-revolutionäre Wucht bereits eingebüßt hatte.
An diese Tradition knüpft die Kritik des Geschlechterverhältnisses in der Dialektik der Aufklärung an: „Der Mann als Herrscher versagt der Frau die Ehre, sie zu individuieren. Die Einzelne ist gesell-schaftlich Beispiel der Gattung, Vertreterin ihres Geschlechts und darum, als von der männlichen Logik ganz erfaßte, steht sie für Natur, das Substratum nie endender Subsumtion in der Idee, nie endender Unterwerfung in der Wirklichkeit. Das Weib als vorgebliches Naturwesen ist Produkt der Geschichte, die es denaturiert“. (DdA, S. 119f)
Daraus entspringt „die Erklärung des Hasses gegen das Weib als die schwächere an geistiger und körperlicher Macht“ (ebd.). Die Frauen tragen „an ihrer Stirn das Siegel der Herrschaft“ (ebd.). Man sieht es ihnen an, „daß sie seit Tausenden von Jahren nicht geherrscht haben“ (DdA, S. 119f).
Während sich Männer in der modernen Gesellschaft zum Subjekt erheben und damit ihre individuellen Züge ausbilden und verwirklichen können, wird dies den Frauen zunächst untersagt. Tauschsubjekte wie die Männer wurden sie erst in einem langwierigen Emanzipationsprozess innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Die Individualisierung der Männer ruht auf Kosten der Unterwerfung der Frauen. Individualität war also zunächst ein männliches Vorrecht, weil Frauen nicht als Tausch- und Rechtssubjekte zugelassen wurden, Individualität sich aber historisch nur in dieser Form entfaltete. Damit sich die Menschheit als solche von der Natur befreien konnte, wurden Frauen zu bloßer Natur degradiert. Der Mensch, der doch durch und durch auch Natur ist, macht sich zum handelnden Subjekt, also zu etwas der Natur enthobenen, indem er einen Teil des Menschengeschlechts, die Frauen, darauf reduziert, pure Natur und sonst nichts zu sein. „Die Herrschaft über die Natur reproduziert sich innerhalb der Menschheit“ (a.a.O. S.117f) als Herrschaft von Männern über Frauen. Die Frauen werden in der modernen Gesellschaft zu Wesen verklärt, die nur Natur sind und über die deshalb geherrscht werden kann, darf und muss. Sie sind nicht (nur) Natur, sondern erscheinen dem Mann in der patriarchalen Gesellschaft (und letztlich auch sich selbst) als solche. Dabei werden sie von ihrer wirklichen Natur, die immer auch eine gesellschaftliche ist, abgeschnitten, sie werden „denaturiert“. Ihre Unterwerfung haftet ihnen wie eine Natureigenschaft an und das zieht sich von der patriarchalen bis in die moderne kapitalistische Gesellschaft hinein. Die Erklärungen der Menschenrechte galten zunächst nur für Männer und Olymp de Gauge musste es mit ihrem Leben bezahlen, dass sie es auch nur wagte, die Menschenrechte für Frauen geltend zu machen.
Aber auch nach der Durchsetzung formaler Gleichheit für Frauen, zumindest in einigen Zentren der westlichen Welt, bleiben sie angesichts ungleicher Startbedingungen im Konkurrenzkampf der bürgerlichen Subjekte die Unterworfenen und Benachteiligten, was in der nun neu entstehenden sexistischen Ideologie als biologisch gegeben missverstanden wird und damit ein weiteres Mal erhalten bleibt.

Indem Themen wie Tod und Geschlecht überhaupt keine Erwähnung finden, der Antisemitismus nur beiläufig gestreift, Musikphilosophie und Literaturkritik nur erwähnt werden, um mitzuteilen, dass es um sie nicht gehen wird, bleibt die Einführung von Michael Schwandt leider unzulänglich. Die Kritische Theorie wird ihres kritischen Stachels entledigt und auf etwas zurechtgestutzt, was sie ihrem ganzen Wesen nach gerade nicht ist. Aber man muss doch dem Schmetterlingsverlag danken: Benutzerfreundlicheweise steht das nämlich gleich hinten im Klappentext drin: „nichts ist praktischer als eine gute Theorie“. Genau das macht Schwandt aus der kritischen: eine gute und praktische Theorie.

Martin Dornis

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Literatur:

Michael Schwandt: Kritische Theorie – Eine Einführung, Stuttgart 2009.
Ernest Bornemann: Das Patriarchat, Frankfurt 1975
Stefan Grigat (Hg.): Feindaufklärung und Reeducation, Freiburg 2006.
ND: Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt 1998.
Theodor W. Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Kulturkritik und Gesellschaft, Band 2.
DdA: Max Horkheimer/ Th. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 2003.
Johann Dvorak: Adorno und die Wiener Moderne, Frankfurt/Main 2008.

Anmerkungen

(1) Vgl. Rezension im CEE IEH #112: http://www.conne-island.de/nf/112/13.html (redaktionelle Fußnote).

(2) Vgl. Dvorak, Johann. 2005.

(3) Vgl. hierzu Adorno: Marginalien.

(4) Vgl. hierzu meinen Beitrag im letzten CEE IEH „Die verkürzte Deutschlandkritik“ (http://www.conne-island.de/nf/176/26.html).

(5) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,290529,00.html

(6) Siehe Fußnote 4.

 

20.05.2010
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