• Titelbild
• Editorial
• das erste: Deutschland-Fans auf die Partymeilen!
• Mikro Island
• Motorpsycho
• Break it back
• MITTE04
• Dead Western, Bombee
• Myra
• levenshulme bicycle orchestra
• Benefizdisco
• Summer BreakZ
• Snapcase
• Haare auf Krawall
• Veranstaltungsanzeigen
• ABC: S wie Surrealismus
• review-corner buch: Ich ficke, mit wem ich will!
• review-corner buch: Michael Schwandts Einführung in die Kritische Theorie
• kulturreport: Adorno, der Jazz und ungarische Schnulzen
• Nie wieder Antira!
• doku: Vom Fragment der Erinnerung zum Geschichtsbild
• sport: Aliens in der Bezirksklasse
• Anzeigen
• Fritz Bauer - Death by Instalments
• das letzte: Deutsches Klima
Ich ficke, mit wem ich will! Das soll die dreiundzwanzigjährige
Deutsche kurdischer Herkunft Hatun Sürücü im Streit zu einem
ihrer Brüder gesagt haben, bevor sie 2005 an einer Bushaltestelle in
Berlin mit drei Kopfschüssen von einem Angehörigen getötet
wurde. Dieser Satz bringt die Motivation der Rechtanwältin und Publizistin
Seyran Ates zum Ausdruck, ihr neustes Buch Der Islam braucht eine
sexuelle Revolution zu schreiben (S. 24).
Von den einen wird Ates für ihr Engagement für die Rechte von Frauen
hofiert. So wurde ihr u.a. 2005 der Zivilcouragepreis des Berliner CSD e.V,
2007 das Bundesverdienstkreuz und im Jahr darauf der Johann-Philipp-Palm-Preis
für Meinungs- und Pressefreiheit verliehen.
Von anderen hingegen wird sie dafür angegriffen und verachtet, dass sie
den Islam kritisiert und eine arrogante Nestbeschmutzerin sei, die sich auf
Kosten anderer profilieren wolle. So legte sie zwischen 2006 und 2007 ihr
Mandat als Rechtsanwältin mit der Begründung nieder, dass sie von den
Angehörigen ihrer Mandantinnen häufig bedroht und auch tätlich
angegriffen wurde. Auch nach der Veröffentlichung des hier besprochenen
Buches zog sich Ates 2009 aufgrund von Morddrohungen aus der
Öffentlichkeit zurück.(1)
In ihrem Buch kritisiert sie den Jungfrauenkult, den Männlichkeitswahn,
das Kopftuch und die Unterdrückung von Sexualität im Islam. Ihre
Kritik richtet sich an Kulturrelativisten, die die Universalität der
Menschenrechte aus einer falsch verstandenen Toleranz heraus unterminieren, und
gegen muslimische Fanatiker. Von den 68ern in westlichen Ländern
inspiriert, fordert sie nun eine sexuelle Revolution in der islamischen Welt.
Das klingt sehr vielversprechend. Zielt doch die Forderung nach sexueller
Selbstbestimmung auf das gesamte Geschlechterverhältnis und fordert ein
emanzipiertes Individuum, dem unabhängig vom Geschlecht und sexueller
Orientierung die gleichen Rechte zukommen. Erst so ist Demokratie,
Aufklärung und schließlich eine Moderne möglich. Leider bleibt
Ates` Darstellung weit hinter den Erwartungen zurück. Dem Buch mangelt es
an einem roten Faden, analytischer Tiefe und Differenziertheit.
Das Buch beginnt mit sehr intimen Einblicken in die sexuelle Sozialisation der
Autorin. Sie beschreibt ihr Aufwachsen in beengten Verhältnissen und ihre
Erziehung, die gekennzeichnet war durch Schweigen, Scham und die ständige
Angst um ihre Jungfräulichkeit. Schon früh wurde ihr vermittelt, dass
ihr Körper und ihre Sexualität schlecht seien und versteckt bzw.
unterdrückt werden müssen. Es kommt zu einer Sexualisierung ihres
gesamten Lebens. Selbst das Essen von Eis auf der Strasse oder von Bananen wird
zum sexuell aufgeladenen Akt, welchen es zu unterlassen gilt (S. 13). Im
Hintergrund lauert stets die Unterscheidung zwischen ehrenhaftem und
unehrenhaftem Verhalten (S. 12). Nach Ates steht und fällt die Ehre der
Familie bzw. der Männer mit dem Verhalten der Mädchen und Frauen der
Familie. So werden diese von ihren männlichen Verwandten überwacht,
kontrolliert und mit Gewalt sanktioniert. Jungs dürfen hier alles,
Mädchen nichts. Da Sexualität nur in der Ehe erlaubt ist, leben sie
mit einer Doppelmoral (S. 25). Männer gehen zu Prostituierten, haben
Freundinnen und spielen ständig mit ihren Genitalien herum (S. 18).
Analverkehr zum Schutz der Jungfräulichkeit,
Schwangerschaftsabbrüche, Hymenrekonstruktionen scheinen bei Ates so
alltäglich wie der Gang in den Supermarkt. Hier fangen die Probleme an und
Ates macht das, was viele ihr vorwerfen: Sie pauschalisiert. Als würden
alle muslimische Frauen von ihren Eltern zum Schutz ihrer Jungfräulichkeit
bereits minderjährig in Zwangsehen verkauft, vergewaltigte Mädchen
und Frauen zum Tode verurteilt und gesteinigt. Als würden alle Männer
ihre Ehefrauen schlagen und zu Prostituierten gehen oder sich an kleinen
Kindern, Schafen, Ziegen und Eseln vergreifen (S. 59). Als gäbe es auch
keine Unterschiede zwischen Muslimen, die in Europa leben, und jenen in
Afghanistan oder Iran. So spricht sie von der islamischen Welt (bspw. S.
48) und von der Lebenswirklichkeit einer typischen muslimischen Frau (S.
128).
Als Beweis für die Richtigkeit ihrer Aussagen stellt Ates meist ein
passendes Zitat aus dem Koran oder den Hadithen sowie Auszüge aus einem
Buch von Abu Hamid al-Ghazali, eines sicherlich nicht unbedeutenden
sunnitischen Imams allerdings aus dem 12. Jahrhundert (S. 94) und
vom Alt-68er Konvertiten Hadayatullah Hübsch an den Anfang, liefert dann
eine Aussage einer ihrer ominösen Interviewpartner und -partnerinnen, die
meist noch nicht einmal in anonymisierter Form charakterisiert werden(2),
erwähnt anschließend, dass es auch Ausnahmen gäbe und nicht
alle Muslime so seien, um im selben Atemzug die Allgemeingültigkeit ihrer
Anfangsbehauptung meist mit einem aber eingeleitet zu
unterstreichen.
So zum Thema Geschlechterhierarchien im Islam: Ates zitiert hierzu Al-Ghazali,
der schreibt, dass die Heirat eine Art Sklaverei bedeutet und dass die
Frau die Sklavin des Mannes ist(3). Es folgt sodann die Ansicht eines
24jährigen Türken: Der Islam hat die Frau zum Besitz des Mannes
gemacht. (...) Der Frau wurde aufgetragen, den Mann sexuell zu befriedigen.
Alles zu machen, was er von ihr verlangt. Immer wenn der Mann will, soll die
Frau zur Verfügung stehen (S. 114). Ein weiterer Beweis liefert der
kursorische, aber nicht weiter ausgeführte, Hinweis auf Gespräche mit
zwei Psychotherapeutinnen, um dann schließlich das für wahr zu
halten, wovon am Anfang bereits ausgegangen wurde: Diese Befunde (...)
lassen sich natürlich nicht verallgemeinern, doch sie erscheinen mir
symptomatisch für eine Sexualität, der es an Freiheit und
Selbstbestimmung fehlt (S. 115). Oder auch: Natürlich gibt es auch
glückliche muslimische Ehen mit einer für beide Seiten befriedigenden
Sexualität. Aber oft habe ich gehört, dass Frauen nicht nur in der
Hochzeitsnacht keinen Spaß am Sex hatten, sondern während der ganzen
Ehe. Viele muslimische Ehefrauen erleben nie einen sexuellen Höhepunkt und
bleiben dauerhaft unbefriedigt (ebd.).
Welche Probleme ergeben sich aus diesem Vorgehen? Erstens lässt sich mit
den religiösen Quellen auch immer das Gegenteil beweisen, was zum Beispiel
auch religiös argumentierende Feministinnen machen. Sich auf eine solche
theologische Debatte einzulassen, kann Sinn machen, wenn es zum einen um die
Verteidigung der Rechte von Frauen in islamischen Ländern geht, wo diese
Argumente eine größere Chance auf Erfolg haben,(4) und wenn es zum
anderen um eine ernst gemeinte Reformbestrebung des Islams geht, wie sie
beispielsweise von Fatema Mernissi oder auch von Leila Achmed angestrebt wird(5).
Was Ates mit ihrer Beweisführung, dass der Islam an sich bösartig,
sexual- und frauenfeindlich ist, eigentlich bewirken möchte, bleibt
unklar. Wenn keine Neudeutung der islamischen Rechtsquellen möglich ist,
ist dann überhaupt die von ihr geforderte Reform durch eine sexuelle
Revolution des Islams realisierbar?
Zweitens werden ihre Gesprächspartner und -partnerinnen zu Kronzeugen und
-zeuginnen im Prozess gegen den Islam. Hier trifft die Kritik der
US-amerikanischen Soziologin Marina Lazreg zu, dass die Fokussierung auf den
Islam bei gleichzeitiger systematischer Vernachlässigung wirtschaftlicher,
politischer und ökonomischer Bedingungen zu einer ahistorischen und
reduktionistischen Sichtweise führe, in der Frauen die Opfer eines
frauenfeindlichen Islams seien. Die bzw. der objektivierte Andere fungiere als
Kronzeuge/-in, um Befunde der Unterdrückung von muslimischen Frauen zu
verallgemeinern(6). Die Darstellung der Frauen als Opfer erscheint weniger als
ein Schulterschluss denn als Profilierung auf deren Kosten, wie das folgende
Zitat verdeutlicht:
So ist Ates der Ansicht, dass es sich beim Thema Sexualität um die
tiefste Kluft zwischen der muslimischen und der westlichen Welt handelt. Und
diese Kluft hat viel mit den Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern
zu tun. In der muslimischen Welt ist das Geschlechterverhältnis nicht nur
von Ungleichheit, sondern auch viel mehr als im Westen von Gewalt geprägt:
Mit Gewalt wird die weibliche Sexualität unterdrückt, mit Gewalt
werden Frauen zwangsverheiratet, und mit Gewalt wird die Ehre der Männer
geschützt, bis hin zum Ehrenmord (S. 23).
Mit der Referenz auf die islamische Welt ohne zeitliche und
räumliche Differenzierungen wird von ihr das konstruiert, was Chandra
Talpade Mohanty die average third world woman nennt(7): An analysis
of sexual difference' in the form of a cross-culturally singular,
monolithic notion of patriarchy or male dominance leads to the construction of
a similarly reductive and homogeneous notion of what I call the Third
World Difference' that stable, ahistorical something that apparently
oppresses most if not all the women in these countries. And it is in the
production of this Third World Difference' that Western feminisms
appropriate and colonize' the fundamental complexities and conflicts
which characterize the lives of women of different classes, religions,
cultures, races and castes in these countries(8).
Und weiter: This average third world woman leads an essentially truncated
life based on her feminine gender (read: sexually constrained) and being
third world' (read: ignorant, poor, uneducated, tradition-bound,
domestic, family-oriented, victimized, etc.). This, I suggest, is in contrast
to the (implicit) self-representation of Western women as educated, modern, as
having control over their own bodies and sexualities, and the freedom to make
their own decisions(9).
Umso überraschender ist der Bruch der Darstellung, der mit dem Kapitel
Der muslimische Mann Zwischen Macht und Ohnmacht einhergeht. Wenn
zuvor muslimische Männer nur als prügelnde, vergewaltigende und
überwachende Machos dargestellt wurden, erscheint hier ein anderes Bild:
Auch Männer sind von der strikten Regulierung des Sexuellen durch
religiös begründete Vorschriften eingeengt. Die ständige
Berieselung mit dem Thema Sex, die ständige Betonung, wie potent er sei,
wie wenig er seine Triebe kontrollieren könne, setzen den Mann unter
Druck (S. 135). Dass die Behauptung von Kopftuchbefürwortern, wonach
muslimische Männer ihre Sexualität nicht im Zaum halten können,
eine Beleidigung darstellt, legt Ates offen, jedoch scheint sie mit dem selben
Argument die direkte Linie zwischen Männlichkeitswahn und sexueller
Fremdbestimmung zu Pädophilie, dem verstärkten Auftreten von
Sodomie(10) und ganz allgemein zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft (S. 58)
zu ziehen.
Eine weitere erfreuliche Differenzierung, die von Ates zumindest angemerkt,
wenn auch nicht ausgeführt wird, erfolgt im letzten Kapitel des Buches.
Hier wird deutlich, dass Frauen nicht nur Opfer männlich-patriarchalischer
Gewalt sind, sondern ebenso ihren Anteil an der Reproduktion der
Verhältnisse leisten. So schreibt Ates: Wir hätten es schon
viel weiter gebracht, wenn wir es ausschließlich mit Männern als
Gegnern zu tun hätten. Stattdessen müssen Frauen auch immer gegen das
Frauenbild mancher ihrer Geschlechtsgenossinnen kämpfen, wenn es um die
Gleichberechtigung der Geschlechter geht (S. 197).
Ates` Auffassung wer zu viel differenziert, differenziert Probleme weg
möchte ich an dieser Stelle aber entgegen halten: Wer zu wenig
differenziert, verkennt die realen sozialen Verhältnisse, die erst die
Grundlage des eigenen Urteils bilden sollten. Wer soziale Verhältnisse so
pauschalisiert darstellt, dass sie zur eigenen Einstellung und zum Weltbild
passen, wird mit den eigenen politischen Forderungen ins Leere laufen und auf
Dauer nicht mehr ernst genommen. Und die von Ates angesprochenen Probleme wie
Zwangsehen, sog. Ehrenmorde und der Jungfrauenkult sollten den betreffenden
Frauen und Männern zuliebe sehr ernst genommen werden. Ates
Undifferenziertheit verwundert angesichts der Tatsache, dass sie durch ihre
langjährige Erfahrung als Rechtsanwältin für Menschen aus
muslimischen Familien deren Problemlagen recht gut kennt. Passagen, die
hingegen aufzeigen wollen, dass strenggläubigen Muslimen nicht
einmal feuchte Toilettentücher (S. 37) reichen, um ihrem
Reinlichkeitswahn nachzukommen, wirken deplatziert bis lächerlich, lassen
einen roten Faden in der Argumentation vermissen und sind so differenziert,
dass sie wirklich banal und irrelevant sind.
Was ist aber die von Ates geforderte sexuelle Revolution für den Islam?
Sie vergleicht zunächst die Zustände in der islamischen Welt mit
jenen der BRD der 50er Jahre und stellt weitgehende Parallelen hinsichtlich
autoritärer Gesellschaftsstrukturen, dem Einfluss von Religion bzw. der
Kirche auf die Sexualmoral und in Bezug auf die rechtliche Situation der Frau
fest. So konnten Frauen in Deutschland beispielsweise erst 1977 ohne
Einwilligung ihres Ehemannes einer Erwerbstätigkeit nachgehen (S. 73).
Sich an den Schriften von Wilhelm Reich orientierend, fordert sie nun eine
sexuelle Revolution, wie sie die 68er-Bewegung für westliche Länder
vollzog. Der Islam brauche jetzt seinen Summer of Love, seine
Oswalt-Kolle-Aufklärungsfilme und Dr.-Sommer-Kolumnen (S. 39, 75ff). Dies
ermögliche eine radikale Umwälzung der Geschlechterverhältnisse
hin zu einer sexuellen Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Demokratie,
Aufklärung und Moderne. Als Bedingung formuliert sie die Trennung zwischen
Religion und Politik (S. 35). Die größte Hürde der sexuelle
Revolution stelle dabei die Entkoppelung des Jungfernhäutchenwahns von der
Familienehre (103f.) dar. Sexualität sollte nicht mehr allein im
institutionellen Rahmen der Ehe ausgelebt werden können.
Ates Vergleiche hinken allerdings an einigen Stellen, wenn sie zu der Aussage
kommt, dass es sich in der muslimischen Welt um eine zeitversetzte
Entwicklung (S. 73) handele. Denn selbst wenn es Parallelen bezüglich der
rechtlichen und gesellschaftlichen Situation der Frau in der BRD der 1950er
Jahre gibt, so dürfte es erheblich leichter sein, die rechtliche und real
praktizierte Gleichstellung in einem säkularen Rechtsstaat durchzusetzen
als in einer religiös fundierten Gesellschaftsordnung. So würdigt sie
auch nicht hinreichend die Bemühungen von muslimisch argumentierenden
Feministinnen in muslimischen Ländern um die Verbesserung der
Lebenssituation von Frauen und wertet deren Arbeit zynisch ab: Diese
haben noch keinen nennenswerten, sichtbaren Durchbruch erzielt (S. 125).
Um die eigene Legitimation ihrer Forderungen zu unterstreichen, bedienen sich
auch säkulare Frauenrechtlerinnen in und aus muslimischen Ländern
häufig eines islamischen Argumentationsrahmens, der meist
zielführender im Hinblick auf die Durchsetzung von Frauenrechten ist als
eine radikal säkulare Position. Der Islam wird durch itjihad, d.h.
Reinterpretation islamischer Rechtsquellen, in den Dienst der
Frauenemanzipation gestellt(11). Diese Frauenrechtlerinnen leisten einen
wichtigen Beitrag zur Verbesserung der konkreten Lebenssituation, denn jedes
einzelne Leben ist es wert gerettet zu werden Prinzipien hin oder her.
Es wäre wünschenswert gewesen, verschiedene Wege gleichzeitig
anzuerkennen, denn letztlich geht es beiden Positionen um eine Gleichstellung
der Geschlechter.
Das Kopftuch ist für Ates ein Symbol der Unterordnung der Frau unter
den Mann, also das Gegenteil von Freiheit. Denn erst durch die Verhüllung
wird die Frau zum Sexualobjekt degradiert (S. 119). Dabei lässt sie nicht
gelten, dass sich junge Frauen mithin auch bewusst für das Kopftuch
entscheiden. Im Hintergrund dieses Vorwurfes steht eine Manipulationsannahme
und implizit, dass diese Frauen keine autonomen Entscheidungen für oder
gegen bestimmte Positionen treffen können(12). Kopftuchträgerinnen sind
aus dieser Perspektive von patriarchalischen Familienclans gezwungen oder
indoktriniert worden. Wie schnell eine solche Argumentation an die Grenzen
ihrer Brauchbarkeit gerät, zeigen die Fälle einiger Mädchen, die
sich nach der Einführung des Kopftuchverbotes an staatlichen Schulen in
Frankreich auch gegen den Willen ihrer Eltern weigerten, dieses abzulegen. Ein
Mädchen berichtete, dass sie das Kopftuch lediglich aus Angst, von ihrer
Familie geschlagen zu werden, abgelegt hatte(13). Von einem selbstbestimmten,
freien und gleichberechtigten Leben kann in diesem Fall kaum die Rede sein. Es
gab auch Mädchen, die durchaus ein solches Kopftuchverbot befürwortet
haben, was hier nicht vernachlässigt werden soll. Der zentrale Punkt an
dieser Stelle liegt darin, dass das Kopftuch in seiner Bedeutung und Symbolik
nicht festgeschrieben werden kann, weil es gesellschaftlich umkämpft ist
und die unterschiedlichen Konfliktparteien um Deutungsmacht und Legitimation
ringen. An dieser Stelle sind weitere Differenzierungen und
Kontextualisierungen erforderlich. Zum einen ist zu unterscheiden, ob Frauen
durch staatliche Gesetze verpflichtet sind, eine islamische
Körperbedeckung zu tragen (wie beispielsweise im Iran), oder ob es
grundsätzlich möglich ist, eigenständig darüber zu
entscheiden wie in einem säkularen Rechtsstaat. Zum anderen können
Einstellungen und Alltagspraxis auseinander fallen und widersprüchlich
sein. Besonders offensichtlich ist das bei den sog. Neo-Muslimas und bei
Islamistinnen zu beobachten, die urban und hoch gebildet sind und besonders
seit den 1970er Jahren an die Öffentlichkeit treten(14). Abgesehen von
diesen zwei Fällen gibt es noch viele Bedeutungen, die dem Kopftuch
zugeschrieben werden können. Das kann eine Demonstration kultureller
Authentizität, ein Symbol für die nationale Befreiung (wie
zum Beispiel im algerischen Unabhängigkeitskampf) sein oder auch
traditionelle und religiös-spirituelle Beweggründe haben(15). Weiterhin
geraten bei der Verengung des Fokus auf sexuelle Freiheiten andere wichtige
Faktoren aus dem Blick, die zu einem veränderten
Geschlechterverhältnis in islamischen Gesellschaften führen
können. So ist die Teilhabe von Mädchen und Frauen an Bildung ein
wichtiger Punkt, der zum einen den Blick für verschiedene
Lebensentwürfe öffnen kann und zum anderen eine wichtige
Voraussetzung für eine ökonomische Unabhängigkeit durch
berufliche Erwerbsarbeit von der Familie darstellt. Warum ist der Orgasmus
wichtiger als das Abitur? Vielleicht ist beides wichtig, aber Ates
versäumt es leider adäquat darauf einzugehen und begnügt sich
lediglich mit einem kurzen Verweis darauf (S. 116).
Außerdem erweckt Ates an einigen Stellen ihres Buches den Eindruck, dass
eine sexuelle Revolution gar nicht möglich wäre, weil [d]ie
islamische Welt (...) keine Kritik erlaubt. Weder an der Politik, noch am
Staat, noch an der Religion. Die Menschen werden nicht zu kritischen, sondern
zu unkritischen Geistern erzogen (S. 87). Ist mit solchen Subjekten denn
überhaupt eine sexuelle Revolution und damit eine Reform des Islams
möglich? Scheinbar nicht: (...) welche Interpretation des Korans man
auch immer zugrunde legt: Die Frau hat das Nachsehen (S. 66). Wie also eine
sexuelle Revolution des Islams aussehen könnte, bleibt bei Ates damit
leider unklar.
Das Buch bringt keine neuen Inhalte, lässt eine klare Argumentationslinie
und ausreichende Differenziertheit vermissen. Dennoch stellt es einen
Diskussionsanstoß dar, um über Geschlechterverhältnisse in
muslimischen Gesellschaften zu diskutieren. Nicht zuletzt sei erwähnt,
dass die 68er ebenso provoziert und vielleicht nicht immer auf die analytischen
Feinheiten geachtet haben.
K.P.