S wie Surrealismus
Teil 2
Teil 1 erschien in der Mai-Ausgabe des CEE IEH #176
Der Surrealismus war die vorherrschende Kunstavantgarde im Paris der 20er und
30er Jahre, der die Kunst im Leben aufheben wollte. Er griff jegliche Werte,
Normen und Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft an und wollte
durch einen Abstieg ins menschliche Unbewusste und in den Traum den Geist aus
den repressiven gesellschaftlichen Fesseln befreien. Den Surrealisten ging es
um die absolute Freiheit des Individuums durch die Einheit von rationaler
Vernunft und Imagination. Als die proletarische Bewegung in Frankreich an
Einfluss gewann, wandte die surrealistische Gruppe sich stärker dem
Marxismus zu und kam zu der Einsicht, dass neben der Revolution des
Bewusstseins auch die sozialen Verhältnisse umgestürzt werden
müssten. Seit 1925 waren sie also politisch und künstlerisch
tätig, ständig dabei, die Funktion der Kunst für die Revolution
neu zu diskutieren. Diese Diskussion soll im Folgenden aufgegriffen werden.
Unabhängigkeit der Kunst für die Revolution(1)
Die surrealistische Bewegung sah sich seit 1925 stets mit dem Widerspruch
zwischen Kunst und Politik konfrontiert. Sollte künstlerische Praxis
revolutionär sein, musste man sich zwangsläufig mit der
revolutionären Bewegung seiner Zeit auseinandersetzen. Die Surrealisten
bemühten sich die Spannung zu halten, in dem sie eine Zeit lang sehr
präsent waren in der politischen Landschaft Frankreichs, sich dann aber
auch wieder von ihr distanzierten. Breton setzte sich im Zeitraum von 1925 bis
1935 mit diesem Konflikt über die Funktion der Kunst sehr tiefgründig
auseinander, mit dem Ergebnis, die Unabhängigkeit der Kunst zu fordern.
Warum diese Forderung? Er kritisierte die marxistische Bewegung für ihre
Verfälschung der marxschen Theorien, die darin bestand, das Subjekt zu
vernachlässigten. Wo die revolutionäre Aktivität nicht
durch das konkrete Bedürfnis des handelnden Subjekts vermittelt ist,
bleibt sie diesem äußerlich; mit dem Ergebnis, daß selbst die
gelungene Revolution ein Scheitern ist, insofern sie nicht die Revolution
dessen ist, der sie gemacht hat.(2) Die repressiven Tendenzen der
kommunistischen Bewegung, die Etablierung eines bürokratischen
Herrschaftsapparats und der Verlust der Selbstbestimmung des Individuums
unterstrichen Bretons Zweifel an einem spontanen Bewusstseinswandel des
Subjekts allein durch die Veränderung der Produktionsverhältnisse. Er
war davon überzeugt, dass das Subjekt auch innerlich so tief von
gesellschaftlichen Zwängen geprägt war, dass die revolutionäre
Praxis vor allem auf die Veränderung des menschlichen Bewusstseins
abzielen musste. Diese notwendige Veränderung konnte allein durch eine
unabhängige Kunst verwirklicht werden. Unabhängige Kunst meint hier
jedoch nicht jene Unabhängigkeit im Sinne der bürgerlichen Kunst des
19. Jahrhunderts. Kunst als Institution war in den Augen der Surrealisten eine
sinnlose Einrichtung angesichts ihrer Wirkungslosigkeit gegenüber der
immer absurder werdenden Gesellschaft. Die Kunst wurde vielmehr immer als die
höchste Form revolutionärer Praxis verteidigt, nur eben
unabhängig von dogmatischen Denkformen. Damit stellte sich der
Surrealismus der damaligen Kunstauffassung des Marxismus entgegen, der die
Kunst in den Rahmen einer marxistischen Ästhetik zwängte.
Diese beschränkte sich darauf, eins zu eins die proletarischen Interessen
und Bedürfnisse sowie die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse
abzubilden. Kunst, die nicht aus den Reihen der Arbeiterklasse kam, wurde als
elitär und dekadent abgelehnt. Ausgehend davon, dass allein die
Veränderung der materiellen Produktionsverhältnisse für die
kommunistische Revolution von Bedeutung sind, wurde die subjektive Dimension
der Erfahrung und der Fantasie gegenüber den realen
Produktionsverhältnissen vollkommen ausgeblendet. Kunstströmungen wie
der sozialistische Realismus kamen damit eben gerade nicht über das
herrschende Realitätsprinzip hinaus. Anders die Surrealisten, bei denen
eher der Vorwurf naheliegt, der künstlerischen Imagination etwas zu viel
Vertrauen geschenkt zu haben.(3) Breton erteilt der Kunst die Rolle, die das
revolutionäre Proletariat nicht zu tragen im Stande ist: die
Subjektivität als den dunklen Punkt zu erhellen, dem Streit
zwischen intuitiver und rationaler Erkenntnis ein Ende zu setzen.
Entscheidend dafür ist die Technik des Künstlers und die
entstehende Form des Kunstwerks, die den Geist um eine Vorstellung von
Freiheit und Menschlichkeit erweitert, die sich von der sozialen und
geschichtlichen Dimension ablösen kann also die Realität
transzendiert. Die Qualität des Kunstwerkes bemisst sich an der Kraft der
Vorstellung und des Traums, nicht an der Wirklichkeit, aus der sie hervorgeht.
Frei von politischen Zielen und Ideen gelangt Kunst zu einer ihr eigenen
Objektivität und die in ihr materialisierten Vorstellungen des Geistes
werden menschlich. Gerade in dieser künstlerischen Freiheit liegt
ihr revolutionäres Potential.
Surreale Praxis und Kritische Theorie
Die Kräfte des Rausches für die Revolution gewinnen, darum
kreiste der Surrealismus in allen Büchern und Unternehmen.
(Walter
Benjamin)
Surrealismus und Kritische Theorie [gehören] zusammen, formulierte
Elisabeth Lenk einmal in ihrem Vortrag über
Kritische Theorie und
Surreale Praxis: Beide kritisieren die rationale, instrumentelle Vernunft
der Moderne. Mit Bezug auf Hegel, Marx und Freud wird nach neuen Dimensionen
der Erfahrung gespürt und damit experimentiert; die Surrealisten durch
subversive Kunst, die Frankfurter Schule durch dialektische Kritik. Damit
forschen beide Gruppen beständig nach Formen gegen das Bestehende, die die
Kräfte für eine soziale, gesellschaftliche Neuordnung bündeln.
Durch Einheit von Theorie und Praxis, von Rationalität und
Irrationalität soll das Potential einer neuen Vernunft des Menschen
wirklich werden, die dem falschen Bewusstsein opponiert und den Geist
emanzipiert.
(4)
Walter Benjamin, der erste Vermittler zwischen Kritischer Theorie und
Surrealismus, würdigte den Surrealismus als die letzte
europäische Intelligenz
(5), die das liberale moralisch-humanistisch
verkalkte Freiheitsideal erledigten und ihm einen radikalen Freiheitsbegriff
entgegensetzten. In der fortschreitenden Entfremdung der Dinge und des Geistes
in der kapitalistischen Gesellschaft bewahrte er den surrealistischen
Traum von einer Sache, von der Befreiung. So schwärmt Benjamin, wie
im Surrealismus die Dinge ihre
wahre surrealistische
Miene aufsetzen.
(6) Durch eine kindhafte Betrachtungsweise offenbarten die Dinge
ihre unbewussten Gehalte, oder adornitisch gesprochen: das Nichtidentische der
Welt kam zum Vorschein.
Darum überrascht es nicht, dass auch Adorno im Surrealismus Momente
subjektiver Freiheit im Stande objektiver Unfreiheit
(7) erblickt. Er sieht
in dem surrealistischen Abstieg ins Unbewusste die kindhafte Erinnerung des
Glücks noch einmal aufflammen. Was der Surrealismus den Abbildern
der Dingwelt hinzufügt, ist, was uns von der Kindheit verlorenging: so
sollen uns als Kindern jene damals selbst schon veralteten Illustrierten
angesprungen haben wie jetzt die surrealistischen Bilder.
(8) In diesen Bildern,
die aus der reinen Einbildungskraft des Geistes entstehen, findet er die
Freiheit aufbewahrt, die dem Subjekt verwehrt wird. Die surrealistischen Werke
sind eine Art Praxis von Adornos Begriff der experimentellen Freiheit: Momente
und Zustände, in denen das Subjekt nichts mehr kontrollieren kann, in
denen alles zufällig und absichtslos geschieht. Der Surrealismus war
für Adorno eine adäquate Antwort auf die fortschreitende
Verdinglichung, indem er diese Entfremdung und sich selbst aufheben wollte,
eine Kunst, die an der Kunst rüttelt
(9). Es wird zerschlagen,
umgruppiert, aber nicht aufgelöst.
(10)
Der Surrealismus nach 1945
Nach der europäischen Katastrophe sind die surrealistischen Schocks
kraftlos geworden. (Theodor W. Adorno)
Der große Verdienst der Surrealisten, gerade in den 30er Jahren, war,
dass sie sich nicht haben vereinnahmen lassen von den herrschenden
totalitären Ideologien, sondern die Spannung zwischen Kunst und
Gesellschaft aufrecht erhalten haben. Damit sind sie zwar an ihrem Ziel, die
Kunst ins Leben zu überführen, gescheitert. Trotzdem haben sie als
Künstler im Dienste der Revolution die Funktion, die der bürgerlichen
Kunst innewohnte, angegriffen und umgeworfen. Sie haben die allgemeine
Gültigkeit ästhetischer Normen sowie die Form des organischen
Gesamtkunstwerks als affirmativ gegenüber gesellschaftlichen
Verhältnissen angeklagt und durch eine neue Kunstpraxis des Skandals und
des Schocks auf offensive Weise gegen das Bestehende rebelliert.
Man kann wohl konstatieren, dass die Stärke der surrealistischen Sprache
ihre Kraft mit der voranschreitenden Macht der Kulturindustrie nach dem 2.
Weltkrieg einbüßte. Der surreale Traum wurde förmlich in die
Kulturindustrie integriert und innerhalb ihrer Totalität des Immergleichen
verwirklicht. Die Tiefe der Psyche, in der die Surrealisten die
revolutionären Begierden finden wollten, fiel selbst noch der
Warenförmigkeit zum Opfer. So bestand die Surrealistische Gruppe
Frankreichs zwar noch offiziell bis 1969, viele Surrealisten freundeten sich
jedoch mit ihrem Dasein als künstlerische Intellektuelle an, deren Kunst
sich allmählich gegenüber bestehenden Verhältnissen
neutralisierte. Bestes Beispiel dafür sind die Werke etwa Salvador Dalis,
die schon Ende der 30er Jahre vollständig der Kommerzialisierung verfielen
und damit nichts mehr mit dem ursprünglichen Anliegen der Surrealisten
gemein hatten. Breton nannte Dali deswegen auch abschätzend Avida
dollars (Hungrig nach Dollars). Der Surrealismus als revolutionäre
Bewegung war tot in dem Sinne, dass ihm die revolutionäre Klasse, deren
Geist es einst zu befreien galt, abhanden gekommen war. Dass der Konflikt
zwischen künstlerischer und politischer Praxis nicht immer erfolgreich
ausgetragen wurde, lag wohl nicht so sehr im individualistischen Charakter des
Surrealismus als vielmehr im Scheitern der proletarischen Praxis. Diesen
Konflikt ausgetragen zu haben, war sein großes Verdienst in den 30er
Jahren und trotz der sich verändernden gesellschaftlichen
Verhältnisse gab es Künstler, die diesem Anspruch treu blieben. So
versuchte die Gruppe um André Breton, der 1946 aus dem amerikanischen
Exil nach Paris zurückkehrte, weiterhin ins gesellschaftliche Geschehen
hinein wirksam zu sein. Der absurde Wahnsinn der bürgerlichen Gesellschaft
blieb die Zielscheibe ihrer Angriffe, den Kommunismus hatte man dabei als Ideal
nicht aufgegeben.
Paradoxerweise existierte neben dem surrealistischen Kreis in Frankreich eine
der wohl radikalsten surrealistischen Gruppen in den USA, obwohl doch gerade
hier die kulturindustrielle Entwicklung am weitesten voran geschritten war und
also auch die Integration subversiver Kunst nicht mehr aufzuhalten schien.
Franklin Rosemont gründete 1966 die Chicago Surrealist Group, die in regem
Austausch stand mit den Pariser Surrealisten und bis heute aktiv ist. Von ihnen
wurde das surrealistische Erbe, die Freiheit des Menschen durch Fantasie, Traum
und radikale Bedürfnisse erfahrbar zu machen, am aktivsten weiterverfolgt.
Die dem Surrealismus eigene transzendierende Kraft durch ästhetisch
subversive Formen sollte auch noch gegen die surreale Konsumgesellschaft
bewahrt werden. Für den in der amerikanischen Arbeiterbewegung aktiven
Kommunisten Rosemont blieb der Surrealismus politisch die bedeutsamste
Avantgardebewegung, weil er das einforderte, woran der Realsozialismus
scheiterte: die Emanzipation des Individuums. Er nahm den Konflikt zwischen
Kunst und Proletariat erneut auf, mit dem Ziel, den Surrealismus als
künstlerische Aktivität im proletarischen Alltagsleben
aufzulösen.
Aufhebung der Kunst in der Situationistischen Internationale (SI)
In ähnlicher Weise steht auch die Situationistische Internationale, die
sich 1957 in Frankreich gründete, in den Fußstapfen des
Surrealismus. Auch sie suchten, allen voran Guy Debord, das verbindende Band
zwischen Proletariat und Kunst wieder zu stärken. Sie nahmen das
surrealistische Programm von der Überführung der Kunst ins Leben
durch die Freilegung unbewusster Bedürfnisse mittels subversiver Techniken
wieder auf. Allerdings warf die SI der surrealistischen Bewegung vor, über
ihre Experimente mit dem Unbewussten das eigentliche Ziel, nämlich die
vernünftige Einrichtung der Gesellschaft, aus dem Auge und sich in
der Irrationalität als Selbstzweck verloren zu haben. Die Möglichkeit
der Aufhebung der Kunst sieht die SI gerade in einer durch die menschliche
ratio gesteuerten Gesellschaft, in der sich dann auch die menschlichen
Leidenschaften und der Geist frei entfalten könnten.
Dass die Kunst als autonome Sphäre noch zu einer Kritikerin des
Bestehenden werden und in einem emanzipatorischen Sinne durch ihre
ästhetische Form zur Selbstverwirklichung des Individuums beitragen kann,
lehnt die SI ab. Die
autonome Kunst könne in der kapitalistischen
Gesellschaft als getrennter Bereich nichts weiter sein als das
Verständnis und die sinnliche Kommunikation, die in einer partiell
geschichtlichen Gesellschaft partiell bleiben. (GdS [[section]] 183) Da auch
die gesellschaftlichen Kommunikationsformen von den Kategorien Ware, Wert und
Kapital durchdrungen sind, kann die Kunst als autonome Sphäre nicht mehr
kritisch auf die objektiven Möglichkeiten eines anderen gesellschaftlichen
Daseins in Freiheit verweisen, sondern nur noch affirmativ die
gegenwärtige Gesellschaft repräsentieren. Sie ist zu sehr Teil des
repressiven Ganzen. So wurde auch ihre Funktion, menschliche Bedürfnisse
zu artikulieren und zu kreieren, von der Werbeindustrie übernommen. Nur
durch ihre Politisierung kann die Kunst noch revolutionär sein, das
heißt, sie muss Hand in Hand gehen mit der proletarischen Bewegung. Die
revolutionäre Klasse muss sich die herrschenden ästhetischen
Ausdrucksformen aneignen, damit sie deren Kraft im Dienste des
revolutionären Kampfes für die Freilegung radikaler Bedürfnisse
nutzbar machen kann. Auf diesem Wege würde sich die Kunst als getrennte
Sphäre aufheben und ihre ganze Wirkung entfalten.
Für die Permanenz der Kunst
Das klingt in der Theorie vielleicht schlüssig. Bedenkt man jedoch, dass
das revolutionäre Proletariat seither schwer aufzufinden ist, stellt sich
die Frage, in welchen revolutionären Dienst sich die Kunst stellen soll?
Oder ist sie jetzt doch tot, weil die kommunistische Revolution auf sich warten
lässt? Gegen die sehr illusorisch erscheinende These von der Aufhebung der
Kunst blieb die Kritische Theorie der These von der Notwendigkeit einer
autonomen Kunst treu. Vor allem Herbert Marcuse verteidigte die
Notwendigkeit der autonomen Kunst in einer regen Debatte mit der Chicago
Surrealist Group 1972/73, von der er sich im Streit trennte. Marcuses Position
in dieser Kontroverse: Die gesellschaftliche Funktion der Kunst ist es, den
Vorschein auf die Freiheit in ihren Werken vermittelt erfahrbar zu machen, die
Realität dadurch zu negieren und zu transzendieren. Dafür braucht es
keine Arbeiter, die sich die künstlerischen Produktionsmittel aneignen,
sondern die strikte Trennung von künstlerischem Schaffen und
proletarischer Revolution. Die revolutionäre Kraft liegt in der
ästhetischen Form, die Sinnlichkeit, Phantasie und Vernunft
miteinander vereint. Und in dieser Form, als Werk kann die Kunst
Anschluß finden an die permanente Revolution, kann Ausdruck sein des
fortdauernden Bedürfnisses nach Befreiung, aber auch der Grenzen der
Befreiung.
(11)
Die Surrealistische Bewegung hat in ihrem Konflikt mit dem Marxismus nach
Marcuse also alles richtig gemacht, weil sie kompromisslos das Programm der
Revolutionierung des Bewusstseins verfolgt hat. Weil dieses Programm im Dienste
der Veränderung der sozialen Verhältnisse stand, gleichzeitig aber
eine gewisse Distanz zu ihnen bewahrte, entfaltete es erst seine politische
Bedeutsamkeit. Ob die revolutionäre Klasse besteht, wie in den 30ern, oder
nicht, wie gegenwärtig, die surrealistische Praxis kämpft also
für die Befreiung des verkrüppelten menschlichen Geistes. Es bedarf
der nötigen Distanz zu den repressiven Bedürfnissen der Masse
damit bleibt Kunst bis zu ihrer Aufhebung elitär. Marcuse sieht die
Autonomie als eine innere Notwendigkeit der Kunst, für den der
Surrealismus eingetreten ist. Er kämpft für diese Ziele,
während er für seine eigene unabhängige Revolution kämpft:
die Revolution der Kunst.
(12)
Die Debatte über das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft scheint
komplex und wird sich wohl nie erschöpfen. Es ist es offenbar schwer zu
entscheiden, an welchem Punkt sie den Übergang von der Autonomie in ihre
eigene Verwirklichung wagen soll. In der Kunst liegt revolutionäres
Potential, wenn sie mit den herrschenden ästhetischen Kommunikationsformen
bricht und eine andere Art von Erfahrung aus den Menschen hervorlockt. Triebe
und Energien können so in der Kunst sublimiert, d.h. produktiv
vergesellschaftet, anstatt repressiv unterdrückt werden. Dazu muss sie
aber mit ihren Ausdrucksformen kritisch auf gegenwärtig bestehende
Verhältnisse reagieren. Schlägt die Kritik um in Affirmation, droht
ihr eine falsche Integration in die Gesellschaft. Revolutionär sein, ohne
sich in einer politischen Bewegung ganz aufzulösen, diesen Widerspruch
muss die Kunst aushalten. Und hier hat der Surrealismus geschafft, was der
Popkultur missglückt ist: den Unterschied zwischen Kunst und Realität
aufrecht zu erhalten. Erinnert man sich an den Surrealismus in seiner
Blütezeit, dann ist vielleicht dazu beigetragen, auch Elemente seiner
subversiven Kraft in die Gegenwart zu retten.
Charlotte Mohs
Anmerkungen
(1) Breton, André: Manifest für eine unabhängige,
revolutionäre Kunst, in:
http://www.marxismus-online.eu/kunst/bretonriviera.html.
(2) Breton, André: Die kommunizierenden Röhren, München 1973, S. 50.
(3) Diese Kritik, sich in der Fantasie verloren zu haben, wurde oft an die
Surrealisten herangetragen. Der Vorwurf ist jedoch nur bedingt haltbar, da sich
viele Künstler der Bewegung sehr intensiv mit der Marxschen Theorie
auseinandersetzten und die Notwendigkeit einer Veränderung der
Produktionsverhältnisse seit ihrer Hinwendung zu Marx stets mitgedacht haben.
(4) Diese Parallelen des Surrealismus mit der Kritischen Theorie treffen nicht
auf alle Theoretiker der Frankfurter Schule in gleichem Maße zu. Explizit
beziehen sich Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse in ihrer
Auseinandersetzung über die gesellschaftliche Rolle der Kunst positiv auf
die surrealistische Bewegung.
(5) Benjamin, Walter: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der
europäischen Intelligenz, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Teil 1,
Frankfurt/M 1974, S. 295.
(6) Ebd., S. 301.
(7) Adorno, Theodor W.: Rückblickend auf den Surrealismus, in: Ders: Noten
zur Literatur, Frankfurt a.M. 1974, S. 104.
(8) Ebd., S. 103.
(9) Ebd., S. 102.
(10) Ebd., S. 102.
(11) Marcuse, Herbert: Zur Kritik an der Politisierung der Kunst: Briefe an die
Gruppe der Chicago Surrealists, in: Ders: Nachgelassene Schriften. Kunst
und Befreiung, Lüneburg 2000, S. 117.
(12) Ebd., S. 123.