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• das letzte: Das behinderte Kind von Gewalt und Politik
Wir lesen täglich in den Zeitungen, Flugschriften
und Wahlaufrufen der Liberalen und Sozialdemokraten, daß die Klerikalen
finstere Gäuche, scheinheilige Jesuiten, Verdummungsapostel und den
gemeingefährlichen Junkern treu verbrüderte Feinde jeglichen
Fortschritts, jeglicher Entwicklung seien. Die Werbeschriften der Klerikalen
aber behaupten, daß die Liberalen flachköpfige Interessenpolitik
treiben, Tröpfe und hohle Schreier, die Sozialdemokraten hingegen rohe
Demagogen sind und gewissenlose Spekulanten auf die Leichtgläubigkeit der
werktätigen Massen. Daß der Gegner Lügner, Verleumder und
geschworener Volksfeind sei, beweist einer dem andern mit den bündigsten
Belegen. Seien wir höfliche Menschen, und glauben wir, daß in
der Beurteilung ihrer Feinde jede Partei die Wahrheit spricht. So haben wir
denn nichts weiter zu tun, als auszusuchen, in wessen Gefolgschaft wir uns
begeben, welcher dieser Gruppen wir für die nächsten fünf Jahre
die Wahrung unserer Interessen anvertrauen wollen.
Bekanntlich wird durch den Ausfall der Wahlen vom 12.Januar(1) das Schicksal des
Deutschen Reiches besiegelt werden. Es soll sich nämlich herausstellen, ob
unter einer konservativ-klerikalen oder unter einer
liberal-sozialdemokratischen Reichstagsmehrheit alles beim Alten bleibt. Es
soll sich entscheiden, ob wir weiterhin blauschwarze Tinte saufen müssen
oder ob wir uns an einer rötlich-gelben Melange den Magen verderben
dürfen. Kurz und gut: Es geht um die letzten Dinge.
Wahltag Zahltag. Das deutsche Volk wird aufgerufen, das eigene
Glück zu schmieden. Gleiches Recht für alle. Jede Stimme zählt.
Jede Stimme ist wichtig. Wer der Wahlurne fernbleibt, schneidet sich ins eigene
Fleisch. Wer nicht wählen will, muß fühlen. Wer keinen
wählt, wählt seine Feinde. Wer im Reichstag nicht vertreten sein
will, hat sich alles Unheil zuzuschreiben. Auf gegen die Reaktion! Auf gegen
die Verdummung und Verpfaffung! Auf gegen den roten Umsturz! Auf gegen den
Freihandel! Auf gegen die Schutzzölle! Auf gegen die
Lebensmittelverteuerung! Auf gegen die Feinde der Landbevölkerung! Auf
für Freiheit, Wahrheit und Recht! Auf für die Erhaltung guter
deutscher Sitte! Das Vaterland muß größer sein! Wir halten
fest und treu zusammen! Hurrah! Hurrah! Hurrah!
Es gilt also wieder einmal, das einzige Recht auszuüben, das der Deutsche
hat. Wie denn: das einzige Recht? Seit 42 Jahren immer noch das einzige Recht?
Da doch seine Ausübung den Zweck verfolgt, den Deutschen Rechte zu
schaffen? Erkläre mir, Graf Oerindur, diesen Zwiespalt der Natur!
Es ist in der Tat wahr: Das einzige Recht des deutschen Mannes besteht darin,
daß er im Laufe von fünf Jahren einmal in eine verschwiegene Zelle
treten und einen Zettel in ein verschwiegenes Gefäß werfen darf,
worauf er einen (ihm gewöhnlich unbekannten) Mitmenschen zum
Fürsprecher seiner Überzeugungen bestimmt hat. Bekommt ein anderer
Kandidat mehr Stimmen, so tritt der Wähler betrübt in den
Hintergrund, bleibt für die nächsten fünf Jahre mit seinen
Überzeugungen unvertreten und tröstet sich mit dem erhebenden
Gefühl, daß er jedenfalls von seinem einzigen heiligen Recht
Gebrauch gemacht und gezeigt hat, daß er auch mitreden kann.
Aber warum so pessimistisch sein? Es ist ja möglich, daß zwei andere
Kandidaten miteinander in Stichwahl kommen, und der überstimmte
Staatsbürger hat nun die Entscheidung in der Hand: welcher ist der
Würdigere? Wer wird meine Interessen besser vertreten? Wem kann ich mich
soweit anvertrauen, daß ich ihn mit Generalvollmacht ins Parlament
schicken darf? Seine Parteileitung sagt`s ihm und er wählt und
bewirkt mit seiner Stimme das Resultat. So kann also doch die an die Wand
gedrückte Minorität immer noch den stärksten Einfluß haben
auf die Konstellation der Parteivertretungen? Kann sie auch. Hier ist ein
Beispiel aus der Praxis:
Man erinnere sich an die Vorgänge, die den Reichskanzler Fürsten
Bülow veranlaßten, den vorletzten Reichstag aufzulösen.(2) Dem
Manne war seine Position unsicher geworden, und er benutzte eine oppositionelle
Regung des Zentrums, das ihm von einer Kolonialforderung einen
geringfügigen Abstrich machte, dazu, die Volksboten heimzuschicken und das
Volk unter dem Schlachtruf: Gegen die Schwarzen und gegen die Roten! an die
Urne zu trommeln. Die Regierung kittete den famosen Block der Konservativen und
Liberalen, und die Ultramontanen und Sozialdemokraten revanchierten sich mit
der Verständigung zu einer Stichwahlversicherung auf Gegenseitigkeit. Die
kaiserliche Regierung hatte geschickt gearbeitet, und so ergaben die
Hauptwahlen einen starken Erfolg ihrer Blocktruppen zum Schaden der
Sozialdemokraten. Vor der Stichwahl sah man nun in München Plakate an den
Tafeln kleben, auf denen etwa folgendes zu lesen war: Wir danken der
aufopfernden Hilfe der Sozialdemokraten in verschiedenen Wahlbezirken Bayerns
mehr als ein Dutzend Mandate. Zeigen wir uns erkenntlich! Treten wir bei den
Stichwahlen in München Mann für Mann für die
sozialdemokratischen Kandidaten ein! Das Zentrums-Wahlkomitee. Daß zur
rechten Zeit der Herr Erzbischof eingriff, die Parole des Komitees für
unkirchlich erklärte und damit die Wahl des liberalen Kandidaten in dem
einen zweifelhaften Wahlkreis Münchens sicherte, ist in diesem
Zusammenhange unbeträchtlich. Die Kirche hat nie geheuchelt, daß sie
andere Nützlichkeiten als solche für sich selbst suche. Lehrreich
aber ist die Feststellung, daß eine große Anzahl von
Reichstagssitzen nur mit sozialdemokratischen Stimmen für das Zentrum
gerettet werden konnte. Nun besinne man sich auf das Walten des letzten,
jetzt verabschiedeten Reichstags. Seine bedeutsamste Tat war die Annahme jener
Steuergesetze, durch die die notwendigsten und populärsten Bedarfsmittel
in ganz maßloser Weise verteuert wurden und die die Lebenshaltung der
überwiegenden Mehrheit des deutschen Volks in beängstigendem
Maße verschlechterten. Diese Gesetze hätten ohne ein starkes Zentrum
nicht zustandekommen können. Das starke Zentrum aber wäre nach
eigenem Geständnis nicht vorhanden gewesen ohne die
nachdrückliche Unterstützung der Sozialdemokraten, die ihre Stimmen
bedingungslos den jetzt so gelästerten Volksfeinden zur Verfügung
gestellt hatten. Jede ungezwungene Logik wird gestehen müssen, daß
somit die unerträgliche Belastung des Volks durch die neuen Steuern auf
die parteioffiziöse Leitung vieler tausender sozialdemokratischer
Wähler zurückzuführen ist. Die zähnefletschende Wut
der sozialdemokratischen Agitation, wie sie jetzt gegen die Klerikalen
anknurrt, wird man also nicht allzu feierlich zu nehmen brauchen. Vielleicht
gehen die Roten das nächste Mal mit den Blauen. Wundern soll man sich
über gar nichts.
Freilich sind die armen Sozi bei den Wahlen besonders übel daran.
Sympathisch sind sie mit ihrer unproduktiven Betulichkeit, mit ihrer
anschmeißerischen Opposition und ihrer phrasenschwulstigen Alleswisserei
niemandem, außer den Kinderstuben-Politikern des Berliner
Tageblatts. Man läßt sich schließlich, wenn das Geschäft
lohnend aussieht, von ihnen unter die Arme greifen. Nachher gibt man ihnen den
Tritt. Während sich aber die soeben derart emporgehobenen
bürgerlichen Gegner von der peinlichen Berührung den Rock abputzen,
schreien die Sozialdemokraten schon durchs Land, daß sie die Starken
seien, die auf die eigene Kraft angewiesen sind.
Nein, die Rolle, die die roten Herren im politischen Leben spielen, ist nicht
beneidenswert. In der Theorie müssen sie immer noch so tun, als seien sie
Sozialisten, Revolutionäre, denen die kapitalistische Gesellschaftsordnung
ein Greuel ist und deren Kampf ein konsequentes Sturmlaufen gegen Monarchie,
Heer, Kapital und jegliche Ungleichheit und Unfreiheit darstellt. In der Praxis
aber posaunen sie lauter als irgendwer andres das Recht auf die Wahlstimme, das
Recht, sich in der bescheidenen Form, die (zumal der deutsche) Parlamentarismus
erlaubt, an der Verwaltung des so arg befehdeten Staatswesens zu beteiligen. In
der Praxis gilt ihnen das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht
als letztes Ziel ihres revolutionären Strebens, und sie merken nicht, wie
lächerlich sie selbst im Gesichtsfelde eines bürgerlichen Betrachters
aussehen, da sie heute als höchste Sehnsucht eine Forderung aufstellen,
die unter den Forderungen der nationalliberalen Revolutionäre von 1848 die
untergeordnete Komponente eines großen Programms war.
Die Teilnahme am Parlamentarismus war nicht immer der Inhalt aller
sozialdemokratischer Aktion. Solange die Partei sozialistisch fühlte und
in Wahrheit den Umsturz wollte, lehnte sie die Wählerei als Konzession an
die kapitalistischen Staatseinrichtungen ab. Im Jahre 1869 warnte Wilhelm
Liebknecht eindringlich vor diesem Schritt ins Lager der Feinde. Damals hob er
auch die Konsequenzen hervor, die das Beharren auf den revolutionären
Grundsätzen im parlamentarischen Leben zeitigen müßte. Damals
kündigte er die Kompanie Soldaten an, die eine unbequeme
Parlamentsmehrheit zum Tempel hinausjagen würde: 40 Jahre, bevor Herr v.
Oldenburg-Januschau den Leutnant und die zehn Mann an die kahle Wand des
Reichstagssaales malte. Marx und Engels sprachen vom
parlamentarischen Kretinismus, und erst 1890 entschloß sich die
Partei, die Jungen, die immer noch nicht unters Stimmjoch wollten, aus
ihren Reihen zu weisen.
Und gibt nicht die Entwicklung der Sozialdemokratie in diesen 42 Jahren
parlamentarischer Betriebsamkeit den skeptischsten Befürchtungen recht?
Was hat sie im Laufe dieser langen Jahrzehnte Positives erreicht, was einer
Wandlung von kapitalistischem zu sozialistischem Gesellschaftsgefüge
entfernt ähnlich sähe? Man muß beschämt gestehen: gar
nichts.
Und fragt man weiter, was infolge der sozialdemokratischen
Parlamentstätigkeit auch nur innerhalb der geltenden Ordnung zugunsten des
arbeitenden Volks Nennenswertes geschehen ist, so fällt die Antwort leider
nicht viel günstiger aus. Die Herren selbst weisen ja bei so unangenehmen
Erinnerungen gewöhnlich auf die herrliche Arbeiterschutzgesetzgebung hin.
Aber es muß zu ihrer Ehre gesagt werden, daß sie damals noch, als
diese Verhöhnung des Arbeiterelends ans Licht des Tages trat, dagegen
stimmten, und wenn sie später, in heller Angst, bourgeoise Sympathien zu
verlieren, ihren Standpunkt revidierten, so verrieten sie damit den letzten
Rest ihrer sozialistischen Gesinnung. Ich habe das im Anschluß an Gustav
Landauers Aufruf zum Sozialismus in diesen Blättern
ausführlich expliziert (vgl. Kain Heft 3).
In der positiven Arbeit hat also der ganze mit ungeheurer Mühe, ungeheuren
Kosten, ungeheurer Energie und ungeheurer Ausdauer konstruierte Apparat der
proletarischen Parlamentspolitik versagt. Angeblich soll er sich aber sehr
bewährt haben, wenn es galt, reaktionäre Beschlüsse der
übrigen Parteien zu verhindern. Auch auf diese Behauptung darf man
vernehmlich fragen: Was habt ihr verhindert? Wo habt ihr etwas verhindert? Wie
habt ihr es verhindert?
Die größte Mandatzahl hatten die Sozialdemokraten in der
Legislaturperiode von 1903-1907. Sie verfügten damals zeitweilig über
mehr als achtzig Sitze. In jener Zeit aber wurde Deutschland mit der
Wiedereinführung hoher Schutzzölle beglückt, gegen die
wütende Opposition, ja Obstruktion der 80 Revolutionäre, die
übrigens ohne Mitwirkung der Liberalen (damals: Liberale Vereinigung) gar
nicht gewagt hätten zu obstruieren. Die Sozialdemokraten haben es mit all
ihrem Krakehl nicht zu verhindern vermocht, daß Herr v. Tirpitz uns ein
Flottengesetz nach dem ändern bescherte. Das bürgerliche Gesetzbuch,
das Vereinsgesetz, sämtliche Kolonialgesetze mit all ihren
militärischen Folgerungen sind trotz ihres Widerspruchs in ihrer
Anwesenheit beschlossen worden.
Man rede nicht von den paar Gesetzentwürfen, die von der Regierung
eingebracht und vom Reichstage abgelehnt wurden. Die Zuchthausvorlage,
das Umsturzgesetz waren Totgeburten, weil die geschäftskundigen
Bürger, die im Reichstage sitzen, viel zu intelligent sind, um sich nach
den Erfahrungen mit dem Sozialistengesetz noch in solche Wespenneste zu setzen.
Hätten die bürgerlichen Mittelparteien diese Gesetze gewollt, dann
hätten die Sozialdemokraten sich auf den Kopf stellen und mit den Beinen
strampeln können sie hätten sie gekriegt.
Im Parlament geht es eben demokratisch zu: die Mehrheit hat recht, die
Minderheit hat unrecht. Die Sozialdemokraten sollten die Letzten sein, die das
bemängelten. Sie verkünden ja dies Prinzip als unübertreffliche
Gerechtigkeit. Ihr ganzes Streben bei den Wahlen selbst geht ja dahin, durch
eine zuverlässige Geometrie der Wahlkreise die absolute Majorität
wirklich auszumitteln, um die Minderheit damit knebeln zu können.
Gewiß ist das Streben nach gleicher Wahlkreiseinteilung berechtigt, wenn
man überhaupt das parlamentarische Prinzip will. Aber dieses
parlamentarische Prinzip selbst, scheint mir, ist eine Absurdität, ein
Humbug, ein Prinzip der Ungerechtigkeit.
Zunächst: die übergroße Mehrheit der Menschen ist vom
Wählen eo ipso ausgeschlossen. Die gesamte Hälfte der Menschheit, die
nicht Hosen sondern Röcke trägt, gilt in unsern erfreulichen
Zeitläuften als geistig unterbegabt. Jeder Dorfküster hat
infolgedessen größere Rechte als etwa einer Madame Curie, einer Duse
oder Ebner-Eschenbach zugebilligt werden könnten. Es ist zu dumm, als
daß man es tragisch nehmen sollte. Aber gleichzeitig sind
hunderttausend Soldaten und alle die vielen ausgeschlossen, die grade in
Gefängnissen und Zuchthäusern sitzen, und sogar alle solche, die dem
Staate als Arme zur Last fallen. Gewiß: hier möchten die
Sozialdemokraten manches ändern (die Liberalen übrigens auch). Aber
sie können es nicht ändern, und änderten sie es, so wäre
auch weiter nichts erreicht, als daß dem Parlamentarismus eine Spur von
dem sittlich Widerwärtigen genommen würde, das ihm anhaftet.
Die Ungerechtigkeit bleibt auch bei Zulassung der Frauen, Soldaten, Armen und
Gefangenen und selbst bei Einführung des konsequentesten
Proportionalwahlsystems bestehen, daß sich unter die
Mehrheitsbeschlüsse eines Parlaments jede Minderheit zu beugen hat, die
sich dadurch vergewaltigt fühlt. Die Ungerechtigkeit vor allem ist
unerträglich, daß von einer Zentralstelle aus durch Schacher und
Kompromisse aller Art Gesetze ausgebrütet werden, die zugleich für
alle Menschen eines großen Landes Geltung haben, deren Bedürfnisse
und Ansprüche auf ganz verschiedenen geographischen und
Charaktergrundlagen beruhen. Ein Parlament kann nur dann nützlich wirken,
wenn es ausschließlich ein Institut zur Aussprache und Verständigung
im Einzelfalle gleichmäßig interessierter Menschen wird, ein
Institut also, zu dem jede Meinung ihre Vertreter mit imperativem Mandat
entsenden und an dem jeder Einzelne auch persönlich mitwirken kann. Es ist
klar, daß solche gemeinsamen Interessen immer nur zwischen Menschen
bestehen können, die entweder durch eine sittliche Idee oder aber durch
praktische, sich aus räumlicher Nachbarschaft ergebende Notwendigkeiten
miteinander verbunden sind. Entstaatlichung der Gesellschaft, Dezentralisation
ist also anzustreben, um einen Zustand zu erhalten, in dem die Menschen
Beratungen pflegen können, ohne einander die Luft abzuschnüren zu
brauchen.
Es mag noch ein Einwand erledigt werden, mit dem man die Beteiligung am
Parlamentarismus häufig verteidigen hört. Das ist das Bedürfnis
prominenter Persönlichkeiten, sich von Tribünen mit weiter Akustik
reden zu hören. Nun zeigt aber ein Blick in die Sitzungssäle
deutscher Parlamente, daß die Redepulte dieser Anstalten gemeinhin von
allen eher als von überragenden Persönlichkeiten bestiegen werden.
Das liegt zum einen Teil an der Einflußlosigkeit des Parlaments auf die
Geschicke der Völker, zum ändern Teil am Reinlichkeitsbedürfnis
beträchtlicher Leute, die wissen, daß sie Einfluß nur gewinnen
können, wenn sie sowohl ihren Charakter wie ihre Intelligenz zu
Konzessionen bereit halten. In Wirklichkeit ist aber auch gar nicht einzusehen,
wieso denn ein Reichstagsabgeordneter etwa freier aus sich herausreden
könnte als ein Volksredner oder Publizist, der ehrliche eigene Ansichten
zu vertreten hat. Wer gehört werden will, der wird sich auf die Dauer
Gehör verschaffen, und wenn selbst der willenlosen Menge von ihren
journalistischen Seelsorgern das dickste Totschweigewachs in die Ohren
geträufelt wird.
Das Wort aber, das ans Volk direkt gerichtet wird, hat allemal stärkere
Wirkungen auf die Ereignisse als das, das unter taktischen
Verschnörkelungen auf dem Umweg über Parlamentsstenogramme zu ihm
gelangt. Denn der Bürger hat sich ja mit der Wahl eines Vertreters der
eigenen Aktionsbereitschaft begeben und verzichtet von vornherein darauf, aus
dem, was er aus dem Sitzungssaal vernimmt, andere Schlüsse zu ziehen als
solche, die sich auf die Auswahl des in fünf Jahren zu entsendenden
Vertreters erstrecken. Der Appell ans Volk selbst aber kann unmittelbares
Eingreifen in die Geschichte eines Landes bewirken. Noch ein Beispiel aus der
Praxis der Sozialdemokratie:
In den romanischen Ländern hat man mit der Anwendung umfassender
Streikaktionen sehr gute Erfahrungen gemacht, wenn man damit politischen
Unzuträglichkeiten begegnen wollte. In Deutschland wurde dieses Mittel der
direkten Massenaktionen von den Anarchisten und Syndikalisten solange
propagiert, bis es in Arbeiterkreisen Anklang fand und die sozialdemokratische
Partei sich um den peinlichen Gegenstand nicht länger herumdrücken
konnte. Vor einigen Jahren kam die Sache auf einem Parteitage zur Sprache und
man entschloß sich, den politischen Massenstreik als Kampfmittel in das
Waffenarsenal der Arbeiterschaft einzustellen. Um aber nicht den alten
Aberglauben von der allein seligmachenden Wählerei zu erschüttern,
erklärte man, der politische Massenstreik solle nur angewandt werden, wenn
es gelte, ein gefährdetes Wahlrecht zu verteidigen oder in Ländern
mit unfreiem Wahlrecht ein freieres zu erzwingen. Man gab also zu, daß
das Volk selbst, wenn es Forderungen durchsetzen wolle, die mit dem
Parlamentarismus nicht zu erzwingen sind, über das stärkere Mittel
verfüge. Man reservierte aber das stärkere Mittel zu dem einzigen
Zweck, das schwächere Mittel zu schützen. Wie konsequent die Herren
Sozialdemokraten diesen Standpunkt wahren, beweist ihr Verhalten den Anregungen
gegenüber, einer Kriegsgefahr mit dem Massenstreik zu begegnen. Sie
könnten sich dadurch das haben sie selbst zugegeben ihre
Position im parlamentarischen Schachergeschäft erschweren.
Man überlege einmal: Wenn alle die unzähligen Millionen, die im Laufe
von vier Jahrzehnten für die Agitation zu den Wahlen verausgabt wurden,
benutzt wären, um revolutionäre Genossenschaften zu beleben, wenn
alle zum Stimmenfang verbrauchte Arbeitskraft in produktiver Arbeit tätig
gewesen wäre, um den eigenen Unterhalt unabhängig von der
kapitalistischen Ausbeutung zu beschaffen, wenn also alle Propaganda der
Vorbereitung des Volkes zur Übernahme der Produktionsmittel in eigene
Regie gedient hätte zweifelt jemand, daß unser
gesellschaftliches Sein ein sehr anderes, ein sehr viel erfreulicheres Bild
böte als heute? Aber die Masse wird von ihren streberischen Führern
geflissentlich in Untätigkeit gehalten. Überall wird ihr der Wille
der Vertreter aufoktroyiert, und mit dem Humbug der Wählerei wird
ihr vorgespiegelt, daß sie selbst die Herrin ihrer Geschicke sei.
Ob und wen alle diejenigen wählen, die im Prinzip mit der geltenden
Staatsordnung einverstanden sind, scheint mir sehr wenig belangvoll. Jedes
Parlament, ob seine Mehrheit links oder rechts vom Präsidenten sitzt, ist
seiner Natur nach konservativ. Denn es muß den bestehenden Staat wollen
oder abtreten. Es kann nichts beschließen, was den Bestand der
heutigen Gesellschaft gefährdet, also auch nichts, was denen, die unter
der geltenden Ordnung leiden, nützt. Die Entscheidung für diesen oder
für jenen Kandidaten ist nicht die Frage des Stichwahltages. Die Frage
heißt: Soll ich überhaupt wählen oder tue ich besser, zu Hause
zu bleiben? Überlege jeder, daß er mit jedem Schritte, den er zum
Wahllokal lenkt, sich öffentlich zur Erhaltung des kapitalistischen
Staatssystems bekennt. Frage er sich vorher, ob er das tun will. Wer aber denen
glaubt, die vorgeben, durch Ansammlung von möglichst vielen Stimmen,
mögen sie gehören, wem sie wollen, die Fähigkeit zu erlangen, in
parlamentarischer Diskussion sozialistische Ansprüche zu ertrotzen, dem
sei erklärt: solche Behauptung ist blanker Schwindel.
Erich Mühsam