Besser spät als nie: am 15. Dezember 2008 referierte
Daniel Kulla im Rahmen von CEE IEH live im Conne Island zum Thema
1917 Anfang und Ende des Kommunismus?. Auf Grundlage der
Veranstaltung entstand nun ein längerer Text, den wir in zwei Teilen
drucken. Der zweite Teil wird in der Märzausgabe erscheinen.
Die Redaktion
1917
Anfang und Ende des Kommunismus?
Teil Eins
Kaum ein historisches Ereignis ist gründlicher durch Mythen
verfälscht worden als das des 25. Oktober 1917. Das populäre Bild vom
bolschewistischen Aufstand als einem blutigen Kampf Zehntausender, bei dem
einige tausend Helden fielen, geht weniger auf historische Fakten zurück
als vielmehr auf Oktober, den glänzenden, aber weitgehend auf Fiktionen
beruhenden Propagandafilm Eisensteins anläßlich des zehnten
Jahrestages dieses Ereignisses. (...) Der legendäre Sturm auf das
Winterpalais, in dem das Kerenski-Kabinett seine letzte Sitzung abhielt,
ähnelte mehr einer gewöhnlichen häuslichen Festnahme, denn die
meisten Soldaten, die den Palast zu verteidigen hatten, waren bereits hungrig
und deprimiert nach Hause gegangen, bevor der Angriff begann.
(Orlando Figes: Tragödie eines Volkes(1))
Lenin und Trotzki haben sich in Moskau dem Großfürsten [Lwow]
untergeordnet und sind von ihm als Minister eingesetzt worden. Ich rufe alle
Rechtgläubigen [Orthodoxen] auf, für den Zaren und die Sowjetmacht zu
den Waffen zu greifen.
(Erklärung des Minussinsker Partisanenführers Schtschetinkin, 1919)
Was soll der Blick zurück, was soll der Bezug auf 1917, wurde sich nicht
schon genug positioniert, stolz auf die Brust oder mit der Geißel auf den
Rücken geschlagen? Was läßt sich aus der alten durchgekauten
Geschichte denn noch lernen?
Zunächst, dass es nicht nur eine Geschichte gibt, sondern viele, von denen
ich auf die drei wichtigsten über das russische Revolutionsjahr eingehen
werde: die leninbolschewistisch-sowjetische, die
anarchistisch-sozialrevolutionäre und die
bürgerlich-antikommunistische. Es wird sich zeigen, dass von diesen
Ereignissen, die gerade etwas mehr als 90 Jahre zurückliegen, nur mehr
Zerrbilder übrig sind. Und dass das keineswegs ungewöhnlich ist und
mit den oft klar motivierten Hervorhebungen und Ausblendungen schon
während des Geschehens zu tun hat. Es gibt etwas zu lernen über
Geschichtlichkeit, über den Modellcharakter historischer Erzählungen.
Mit diesem Bewußtsein ausgerüstet kann ins Auge gefaßt werden,
was an 1917 bis heute so bedeutsam geblieben ist, in welcher Weise die
Geschichte also in der Gegenwart präsent ist: Kommunismus wurde für
die Weltöffentlichkeit von der Zielvorstellung zum praktischen
Politiklabel, Kommunisten machten sich unter diesem Namen an die Einrichtung
der besseren Gesellschaft ohne Klassen und Ausbeutung. Vorher hatte der Begriff
des Kommunismus in der politischen Sphäre des frühen 19. Jahrhunderts
vor allem die Emanzipation des Vierten Standes bezeichnet, also die Ausweitung
der Versprechen von Freiheit und Gleichheit aus der Französischen
Revolution auf alle (werktätigen) Gesellschaftsmitglieder. Nun entstand in
Rußland das Vorbild für die Kommunistischen Parteien, die sich ab
1917 auf der ganzen Welt gründeten und mit einer ganz bestimmten
Marx-Auslegung die gesamte Gesellschaftsordnung zu verändern trachteten.
Die spezifische Interpretation prägte fortan Begriffe und Auffassungen
bezüglich der Geschichte, des revolutionären Subjekts, der Rolle der
Partei, des Staates, des Krieges. Und sie prägte auch das Bild der
Kommunisten von sich selbst.
Historischer Hintergrund bis 1917
Um die Ereignisse von 1917 zu verstehen, sei zunächst ihr Rahmen, ihre
Vorgeschichte skizziert, zum einen die internationale, zum anderen die
spezifisch russische.
Das weitaus wichtigste historische Geschehen dieser Zeit war der Erste
Weltkrieg, die bis dahin größte Massenschlächterei, eine Orgie
der industriellen Kriegführung zwischen zivilisierten, aufgeklärten,
modernen Nationalstaaten. In den Augen gerade vieler Sozialdemokraten war
dieser Krieg jedoch gerade erst der Auftakt zu einer ganzen Epoche solcher
Kriege, die nach der Aufteilung der Welt unter den Großmächten
fortan unvermeidlich scheinen mussten. Unter diesen Umständen erschien
diesen Sozialdemokraten die Idee eines letzten Gefechts, das diesen Krieg
beenden und für die Zukunft ähnliche oder schlimmere Kriege
verhüten würde, als so verheißungsvoll, dass auch ein enormes
Ausmaß an revolutionärer Gewalt zu diesem Zweck für vertretbar
gehalten wurde.
(2)
Im Jahr 1917 traten im April die USA in den Krieg ein und Russland trat nach
der Leninschen Machtübernahme Ende des Jahres aus dem Krieg aus. War das
erste ein Signal für die baldige Niederlage der feudal-militaristischen
Mittelmächte, so half zweiteres, den Krieg noch um ein weiteres Jahr mit
allen Folgen weitere Millionen von Toten und Verletzten, die
folgenreiche deutsche Interpretation des Kriegsendes zu
verlängern.
In vielen Staaten der Erde war bereits eine aktive Arbeiterbewegung entstanden,
vorherrschend blieb jedoch ein Kapitalismus ohne Demokratie, ohne die für
spätere und heutige Gesellschaften so charakteristische Einbindung der
Massen über fein kontrollierte Mitbestimmung und Beteiligung am
nationalökonomischen Erfolg. In weiten Teilen der Welt herrschten noch
feudale Strukturen, und gerade die Mittelmächte Deutschland und
Österreich suchten deren Fortexistenz zu sichern.
In fast allen kriegführenden Staaten gab es auch unter den
Sozialdemokraten Kriegsunterstützer, doch aus unterschiedlichen
Gründen. War es in der Entente, gerade in England, wichtig, durch den
Sturz der mitteleuropäischen Monarchien dem sozialen Fortschritt neuen
Auftrieb zu geben, schlugen sich eben dort in Mitteleuropa, vor allem in
Deutschland, Sozialdemokraten offen auf die Seite der Monarchie, begeisterten
sich für den Kriegssozialismus, bejubelten die Kontrolle des
autoritären Staats über die Ökonomie, sahen sich in einer
klassenübergreifenden nationalen Schicksalsgemeinschaft im Kampf
einerseits mit den britischen und französischen Kolonialreichen, ihrer
Völkervermischung und Dekadenz, andererseits mit den kulturell niedrigen
slawischen Horden des Ostens. In diesem geistigen Milieu, in dem zum ersten Mal
das politische Label Nationalsozialismus Verwendung fand
(3), entstanden
auch zwei der Grundauffassungen der später siegreichen Lenin-Bolschewiki:
dass die völlig zentralisierte Staatswirtschaft die beste Voraussetzung
für kommunistische Aneignung biete und dass der nationale Befreiungskampf
gegen den Imperialismus der stärkste Motor für eine kommunistische
Revolution sei.
Exemplarisch äußerte sich Trotzki, für den es nur ein
einziges Land unter den kriegführenden Staaten gab, das dank seiner
kapitalistischen Entwicklung über solche riesigen ökonomischen,
geistigen und kulturellen Mittel verfüge, dass es im Falle seines Sieges
vielleicht auch gewaltsam den so nottuenden Zusammenschluss der
ganzen Kulturwelt verwirklichen und dadurch einen großen Schritt
vorwärts tun könne. Dieses Land sei Deutschland!
(4)
Wie sah es nun in Russland selbst aus? Hier spielten sowohl die
Arbeiterbewegung als auch das Bürgertum eine viel geringere Rolle als in
den anderen Großmächten, vor allem, da die Bevölkerung zu
80-90% aus Bauern bestand, die unter feudalen Bedingungen oder zu großen
Teilen auch jenseits staatlicher Gewalt in archaischer Selbstverwaltung lebten.
Auch die städtische Arbeiterklasse bestand größtenteils aus
bäuerlichen Saisonarbeitern, die während der Ernte zurück aufs
Land gingen.
Zu dieser Bevölkerungsmehrheit gab es unter den revolutionären
Parteien diametrale Auffassungen. Für die aus der
Volkstümler-Bewegung (Narodniki) hervorgegangenen
Sozialrevolutionäre, 1917 die bei weitem größte politische
Partei in Russland, waren die Bauern aufgrund ihres Gemeineigentums und ihrer
tiefen Staatsfeindschaft das revolutionäre Subjekt. Den Marxisten und
Sozialdemokraten galten die gleichen Bauern als reaktionär, antiwestlich,
antimodern, als Verfechter überkommener Gemeinschaft gegen moderne
Gesellschaft, als religiös verblendete Analphabeten, die von der
städtischen Welt allenfalls kleinbürgerliches Besitzdenken
übernommen hätten.
Schon 1905 hatte es in Russland eine Revolution gegeben, durchaus eine massive
Erschütterung der Zarenherrschaft, deren schon greifbares Ende jedoch in
Ermangelung einer Alternative ausblieb. Da weder die bereits kühn
auftretenden Arbeiter noch das Bürgertum in der Lage waren, die Macht zu
übernehmen, schien der Zar nach der blutig erstickten Revolution sogar
noch fester im Sattel zu sitzen. Der naive Volksglaube an den Guten
Zaren, welcher sich mit demütigen Bittschriften zu einer gerechten und
guten Regentschaft bewegen lassen würde, blühte wieder auf.
Im Verlaufe des Ersten Weltkriegs waren die Millionen von Bauernsoldaten in der
russischen Armee immer kriegsmüder geworden, erwiesen sich aber als
motivierbar gegen die Deutschen, wenn ihre Offiziere (wie z.B.
Großfürst Brussilow) eben just den Guten Zaren beschuldigten,
unter dem Einfluss deutscher Hofschranzen und Spione die Front absichtlich
schlecht zu versorgen und schlechte strategische Entscheidungen (oder auch
einfach keine) zu treffen. Viele Bauern kämpften also weiterhin für
den Guten Zaren, den sie durch die Niederlage der Deutschen vom
diabolischen westlichen Einfluss befreien wollten, damit er ihnen wieder
väterlich sein Gehör schenken würde.
Unterdessen organisierte das Bürgertum im Hinterland bald die gesamte
Logistik selbst, die notdürftige Versorgung der Bevölkerung wie auch
den ebenfalls knappen militärischen Nachschub. Überzeugt, damit zum
Rückgrat der Kriegsanstrengungen geworden zu sein, drängte das
Bürgertum nun auch zur politischen Macht, wollte vom Staat im Staate zur
herrschenden Klasse werden, an die Stelle der Aristokratie und der zaristischen
Bürokratie treten, welche mehr und mehr als Hindernisse für den
Erfolg auf dem Schlachtfeld wie auf dem Weltmarkt wirkten.
Das leninbolschewistisch-sowjetische 1917
Als erste Version der Ereignisse des Revolutionsjahres 1917 möchte ich die
Siegergeschichte behandeln, diejenige der Lenin-Fraktion der Bolschewistischen
Partei, also des berufsrevolutionären Flügels der russischen
Sozialdemokratie. Anfang 1917 war diese Minderheit der Minderheit in der
revolutionären Bewegung Rußlands wenig bedeutend; gerade ihr
zügiger Aufstieg während des Jahres zur revolutionären
Regierungspartei und Stifterin einer internationalen kommunistischen Bewegung
sollte später immer wieder leuchtendes Beispiel für die Siegeschancen
kleiner Politsekten sein.
Aus Sicht der Leninbolschewiki verhalf im Februar 1917 zunächst eine
spontane Erhebung von Arbeitern dem Bürgertum zur Macht. Ein
DDR-Geschichtslehrbuch
(5) fasst das so: Zunächst ging es in
Rußland um eine bürgerlich-demokratische Revolution, in der, wie
schon die Lehren aus der Revolution von 1905 bis 1907 gezeigt hatten, die
Arbeiterklasse als führende Klasse auftreten mußte. Selbstredend
sind die eigenen Leute für den großen Wurf verantwortlich, auch wenn
das historisch nicht haltbar ist: Aufrufe der Bolschewiki machen aus der
Revolte einen Generalstreik, schließlich den bewaffneten Aufstand. Von
der ausbrechenden Revolution auf dem Land ist aufgrund der beschriebenen
Position gegenüber den Bauern meist nur am Rande die Rede.
Im Laufe des Jahres sieht diese Geschichtsversion Sozialverräter am Werk,
die sozialrevolutionären und menschewistischen Führer in der
Provisorischen Regierung, die nur stärker waren, weil sie bis 1917 legal
gewesen waren. Nur Bolschewiki seien konsequent für Räte, Frieden und
Land eingetreten (und zwar alle Bolschewiki). Der Juliaufstand wurde von den
Verrätern niedergeschlagen.
Endlich kommt im Oktober die Große Sozialistische Oktoberrevolution dem
später als faschistisch bezeichneten Putsch des Generals
Kornilow zuvor (ein Putsch, der zwar geplant war, jedoch angesichts der
Stärke der revolutionären Bewegung praktisch keine Chance auf Erfolg
hatte). Anschließend beginnt ein den Bolschewiki aufgezwungener
Bürgerkrieg, Sowjetrußland ist umzingelt von Feinden, nicht zuletzt
weil die Revolutionen in Europa (noch) ausbleiben oder niedergeschlagen
werden.
Willy Huhn: Der Mythos der russischen Revolution lautet etwa: als
Abschluss einer großartigen, auf dem Programm und der Organisationsform
der leninistischen Partei beruhenden, kompromißlosen Politik, wurde im
Oktober 1917 planmäßig ein bewaffneter Aufstand unter der
Führung der Bolschewiki unternommen, der nach seiner siegreichen
Beendigung die beabsichtigte Diktatur des Proletariats verwirklichte und damit
den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung ermöglichte und
einleitete.
(6)
Das sozialrevolutionär-anarchistische 1917
Die zweite Version repräsentiert die sozialrevolutionäre (und
teilweise die menschewistische) Sicht. Die Sozialrevolutionäre (SR) waren
1917 mit Abstand die größte Partei in Russland und entsprechend auch
die größte revolutionäre Fraktion; grob vereinfacht lassen sie
sich als linke Sozialdemokraten und Agrarsozialisten mit anarchistischer
Tradition einordnen. Den Hauptunterschied zu den Bolschewiki bildete die
Ablehnung einer Verstaatlichung des Bodens; die SR propagierten eine dezentrale
Vergesellschaftung und eine Stärkung der ländlichen Gemeinden.
Sie waren in der bürgerlichen Übergangsregierung vertreten und
stellten mit Kerenski für mehrere Monate den Regierungschef, der aber
bereits als Vertreter des äußersten rechten Parteiflügels
agierte. Linke Sozialrevolutionäre waren noch bis Anfang 1918 in der
bolschewistischen Regierung und sogar im Tscheka-Ausschuss und wurden erst
später, vor allem nach der einsetzenden Verfolgung durch ihre
bolschewistischen Genossen, zu erbitterten Gegnern und zur feindlichen
Bürgerkriegspartei.
Aus der Sicht der SR fegte im Februar eine glorreiche Manifestation des
Volkswillens, des Narodnoje Wolja, wie auch eine der
Vorgängerorganisationen der SR hieß, Zar und Staat hinweg. Die
Massen organisierten sich selbst, bildeten Räte, nahmen eigenständig
überall Enteignungen vor und richteten Fabrikkontrolle ein. Das Jahr
über wurden dann Vorbereitungen für eine neue Verfassung und eine
neue Gesellschaft getroffen, während die Bolschewiki politische
Wühlarbeit leisteten und versuchten, die Unorganisierten und Ungeduldigen
mit Maximalforderungen gegen die siegreiche Revolution aufzuwiegeln. So ging im
Laufe des Jahres das Etikett Anarchisten von den einst staatsfeindlichen
SR auf die marxistischen Bolschewiki über, gegen die nun paradoxerweise
die einstigen Staatsfeinde (im Bündnis mit anderen Fraktionen) die
gesellschaftliche Vermittlung verteidigten. Der Historiker Helmut Altrichter
schildert die Situation so:
Da war die Sowjetführung eben dabei, eine gemeinsame
außenpolitische Linie zu finden, die die Forderung eines Friedens
ohne Annexionen und Kontributionen mit der Bereitschaft, die neugewonnene
Freiheit zu verteidigen, verband, da hielt ihr Lenin, gerade zwei Tage und mit
deutscher Hilfe zurück, entgegen, die revolutionäre
Vaterlandsverteidigung sei etwas kleinbürgerliches, ein
Betrug der Bourgeoisie an den Massen, ja der schlimmste Feind der
weiteren Entwicklung. Da hatten es die gemäßigten Sozialisten im
Innern gerade geschafft, die Ordnung aufrecht, die Zentralverwaltung in
Funktion, die Produktion am Laufen und die Front intakt zu halten, da wurden
sie vom gleichen Kritiker mit der Forderung einer generellen Abschaffung von
Armee, Polizei und Beamtenschaft konfrontiert, anscheinend ohne Rücksicht
auf die Folgen. Da wurden von ihm Institutionen zu Keimzellen eines neuen
Staatstypus hochstilisiert, auf die zuvor keine der sozialistischen
Gruppierungen einen programmatischen Gedanken verschwendet hatte,
Institutionen, die gerade fünf Wochen alt, weit davon entfernt waren zu
funktionieren, und die in ihrer großen Mehrheit die ihnen angetragene
Macht gar nicht haben wollten. Da machte sich jemand zum Fürsprecher der
Massenspontaneität, der früher schlichtweg geleugnet hatte, daß
diese Massen zu einem revolutionären Bewußtsein fähig
wären, es sei denn, sie würden von einer straff organisierten
Kaderpartei von Berufsrevolutionären angeführt. Und dubios erschienen
auch die Konzessionen an die Bauernschaft: Denn wie ernst war die Forderung zu
nehmen, die Großgrundbesitzer zu enteignen und die Bestellung des Bodens
den Bauern zu übertragen, wenn gleichzeitig im Parteiprogramm stand,
daß die bäuerliche Familienwirtschaft keine Zukunft habe?
(7)
Den Bolschewiki wurde nicht nur eine Wühlarbeit zum Zwecke ihrer eigenen
Machtübernahme vorgeworfen, sondern auch unterstellt, für die
Deutschen zu arbeiten.
(8) Besonders von den Menschewiki sind zahlreiche
Positionierungen dazu bekannt: Es ist dringend notwendig, durch aktiven
Kampf und Propaganda die Revolution vor dem Dolchstoß zu bewahren, der
gegen sie vorbereitet wird.
(9) Noch zugespitzter rief einer der
menschewistischen Führer aus: Das schlimmste, was uns passieren
kann, wäre ein separater Friede. Das wäre der Untergang der
russischen Revolution und der internationalen Demokratie. Die russische
Revolution wäre dann verpflichtet, auf Seiten der deutschen Koalition zu
den Waffen zu greifen.
(10) Und: Für uns ist es klar, daß jetzt,
wo unser Land von außen bedroht ist, die russische revolutionäre
Armee stark und imstande sein soll, in die Offensive zu gehen. (...) Genossen,
die Untätigkeit, die es da an der Front gibt, stärkt nicht unsere
Revolution und die Armee, sondern schwächt und desorganisiert sie.
(11)
Im Juli wird die Desertionspropaganda der Bolschewiki und anderer
Gruppen gar zum konterrevolutionären Dolchstoß erklärt:
Wir werden den Frieden nicht sichern, wenn wir durch Desorganisation der
Armee die schon angelaufene Offensive aufzuhalten suchen, wie das die
Leninisten getan haben.
Ihre Taktik ist ein direkter
Dolchstoß in den Rücken jener, die zu Tausenden auf den
Schlachtfeldern zugrunde gehen. Sie hat schon zu ernsthaften militärischen
Niederlagen geführt. Sie wird zu allseitiger Verbitterung, zum
Bruderhaß unter den Soldaten an der Front, zur Auflösung der
revolutionären Armee und vielleicht zu einer neuen Invasion durch
Hindenburg führen.
(12)
Gegen die Bolschewiki hielten die SR und die Menschewiki an dem Versuch fest,
die Revolution nach Mitteleuropa zu tragen. Unter beständiger Berufung auf
die Französische Revolution und Napoleon wurde der Sieg über die
militaristischen Monarchien zur revolutionären Pflicht erhoben. Die
Soldaten revoltierten kaum gegen das Versprechen, die Freiheit siegreich
zu verteidigen, sahen aber nicht mehr ein, den Krieg bis zum Erwerb der
Dardanellen fortsetzen zu müssen
(13). Je mehr es den Bolschewiki gelang,
die Verteidigung der Revolution als bloße Parole und jede weitere
Kriegsanstrengung als Handlangerdienst für den Imperialismus hinzustellen,
desto mehr Zulauf hatten sie und desto mehr Desertionen lösten sie aus.
Dennoch: Die Front hielt trotz aller Verfallserscheinungen
bis in den Oktober hinein.
(14) Von denen, die ihre Einheit verließen, um
zu Hause nach dem Rechten zu schauen, kehrte ein erheblicher Teil wieder
zurück.
(15) Ganz unabhängig von den Kriegszielen war allerdings klar,
daß die Soldaten nicht bereit waren, sich darauf
einzustellen, einen weiteren Winter in den Schützengräben zu
verbringen, gerade weil man auf einen raschen Frieden hoffte...
(16)
In der Einschätzung der Sozialrevolutionäre fand dann im Oktober ein
Putsch gegen die Revolution statt, der zur Errichtung einer Partei- und
Terrorherrschaft führte. Dass Lenin erklärtermaßen den
Bürgerkrieg der fraktionenübergreifenden revolutionären
Koalition vorzog
(17) und die aktive Herbeiführung dieses Bürgerkrieg
dann mit den zur Reinigung der Gesellschaft notwendigen
Strömen von Blut rechtfertigte, wurde ihm ebenso vorgeworfen wie
die bald folgende Kapitulation vor den Deutschen. Für die
Sozialrevolutionäre machten die Bolschewiki unter Missachtung aller
Warnungen auch aus den eigenen Reihen Frieden mit der ausländischen
Reaktion und bekriegten und vernichteten stattdessen alle anderen
revolutionären Fraktionen in Russland.
Das bürgerlich-antikommunistische 1917
Die drittwichtigste Version des Revolutionsjahrs war damals durch die Partei
der liberalen Konstitutionellen Demokraten (Kadetten), aber auch durch
die Monarchisten repräsentiert, von denen sich die Mehrzahl später
bei der Weißen Bürgerkriegspartei wiederfanden. Im
Revolutionsjahr versuchten die Kadetten als einzige nicht-sozialistische
Regierungspartei, die gesellschaftlichen Veränderungen soweit wie
möglich auf einen Austausch des Herrschaftspersonals und die
Einführung bürgerlicher Freiheiten zu begrenzen, wollten letztliche
eine erfolgreichere Regierung. Ihre Deutung ist aus begreiflichen Gründen
spätestens seit 1990 wieder einflußreicher geworden und paßt
viel besser in heutige Geschichtsbilder.
Die Hungerrevolte im Februar ermöglichte demnach
überfällige Veränderungen, eine Modernisierung des Staats,
vermehrte Kriegsanstrengungen. Das Bürgertum schickte sich endlich an, die
Klassenherrschaft des Adels zu übernehmen, in seine Rolle einzutreten und
Rußland an die Spitze der Großmächte zurückzuführen.
Doch die Bolschewisten wühlten, auch in dieser Version oft für die
Deutschen. Die Linken in der Regierung lassen sich von Räten und
Gewerkschaften erpressen und verspielen so den Kriegserfolg und den Triumph der
bürgerlichen Ordnung. (Je nach politischer Couleur und Entstehungszeit der
Geschichtsdarstellung wird hier die Einbindung der Massen in den
bürgerlichen Staat, die ihn erst zu einem modernen solchen macht, als
ursprüngliches Ziel aufgeführt.)
Im Oktober kam es in dieser Darstellung dann zu Zusammenbruch und
Extremistenherrschaft. Das Volk wehrt sich gegen die Roten, die es aber mit
Terror in die Unterwerfung zwingen. Jegliche Unterstützung für die
Rote Bürgerkriegspartei gegen die Weißen wird fortan
nur so
erklärt.
***
Das sind die drei Versionen des Revolutionsjahres, die bis heute je nach
politischer Richtung vorherrschend geblieben sind. Im zweiten Teil des Textes
werde ich diese drei Geschichten vergleichen und besonders darauf eingehen, was
in allen von ihnen fehlt. Aus der genaueren Betrachtung der Leninschen Version
werde ich dann die Konsequenzen für den heutigen Umgang mit dieser
Geschichte und für eine kommunistische Position skizzieren.
Daniel Kulla
Anmerkungen
(1) Orlando Figes: Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen
Revolution 1891 bis 1924, Berlin 2008, S. 512
(2) Diese Einschätzung ging insbesondere darin fehl, den Soldaten der
Weltkriegsarmeen unterschiedslos eine wachsende Kriegsmüdigkeit zu
unterstellen, was sich rächen sollte, als die Sympathisanten der
Revolution in Scharen desertierten und die Parteigänger der Reaktion
munter weiterschossen.
(3) Willy Huhn: Der Etatismus der Sozialdemokratie. Zur Vorgeschichte des
Nationalsozialismus, Freiburg 2003; lange Rezension im CEE IEH:
http://www.conne-island.de/nf/161/17.html
(4) Elias Hurwicz, nach: Willy Huhn: Trotzki - der gescheiterte Stalin, West
Berlin 1973, S. 103
(5) Geschichte. Lehrbuch für Klasse 9, Volk und Wissen Berlin (DDR) 1987,
S. 10f.
(6) Willy Huhn: Trotzki der gescheiterte Stalin, West-Berlin 1973, S. 75
(7) Helmut Altrichter: Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich
selbst, Paderborn 1997, S. 169
(8) Die Diskussion über die faktische Grundlage dieser Beschuldigung
hält an. Ohne Frage wurde Lenin vom Auswärtigen Amt mit dem Auftrag
nach Rußland geschickt, es zu destabilisieren und aus dem Krieg
ausscheiden zu lassen; ebenso zweifellos wurden dafür gewaltige
Geldbeträge an die Bolschewiki transferiert. Offen bleibt, einen wie
großen Einfluß das letztlich auf die Entwicklung hatte und wer
letztlich wen ausnutzte.
(9) Kommentar der Thesen in der Rabotschaja Gaseta, in: Sozialistische
Revolution in einem unterentwickelten Land, Texte der Menschewiki zur
russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937, Junius Hamburg 1981, S. 50
(10) Tseretelli auf dem 1. Allrussischen Sowjetkongreß im Juni 1917,
ebenda, S. 52
(11) Ebenda, S. 53
(12) Aufruf der Organisationskomittees der Menschewiki, ebenda, S. 55
(13) Altrichter, S. 156f.
(14) ebenda, S. 316
(15) ebenda, S. 319
(16) ebenda, S. 326
(17) Figes, S. 497f.