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• das letzte: Die Fäuste ballen
Vor ein paar Monaten habe ich in einem Text im CEE IEH ausgeführt,(1) dass
die BRD nicht die Speerspitze der Barbarei darstellt und somit jeder
antideutsche Widerstand heutzutage siebzig Jahre zu spät kommt und allein
der Selbstinszenierung von Bewegungslinken dient, die möglichst radikal
und umstandslos nämlich unter Bedingungen, unter denen es keine
Gefahr mehr darstellt zu den Guten gehören wollen. Unter anderem
reagierte ein Leserbriefschreiber(2) auf mich, der sich den Decknamen Dr. Benwey
gibt und die Radikale Linke und deren Kritik an Deutschland in Schutz nimmt.
Ich möchte hier nur auf einen Punkt eingehen, die Auseinandersetzung um
Toni Negri und Michael Hardt. Auch wenn deren Wälzer Empire und
Multitude nun schon etwas angestaubt sind, lässt sich daran gut
illustrieren, wie sich die antinationale Utopie einer Weltgemeinschaft als
Leitbild eines romantischen, regressiven Antikapitalismus eignet.
Tradition der Radikalen Linken
Gegen meinen Hinweis, dass die Radikale Linke angesichts ihrer
unrühmlichen Tradition (UDSSR, China, DDR, etc.) die Extremismus- und
Totalitarismustheorie nicht selbstgefällig und brüsk abweisen sollte,
wendet der Leserbriefschreiber ein: Wann Radikale Linke` an der
Macht gewesen sein sollen, bleibt des Autors Geheimnis. Die DDR-Staatsregierung
so zu bezeichnen und damit anzudeuten, heutige Linke kämen aus dem
gleichen Stall, ist grob fahrlässig und historisch rundum blödsinnig.
Was hat Erich Honecker, die alte vaterlandstreue Dachlatte, mit einem mithin
antideutschen, radikalen Linken im Jahr 2009 zu tun? Richtiger formuliert muss
die Frage lauten: Was hat ein Honecker, der Mitglieder der Kommunistischen
Partei war, 1934 gegen den Anschluss des Saarlandes ans Dritte Reich
kämpfte und von den Nazis ins Zuchthaus gesteckt worden ist, mit jenem
Staatsratsvorsitzenden der DDR zu tun? Was geschah? Sich nur die Rosinen aus
der Tradition herauszupicken, ist gegenüber den Opfern dieser Tradition
ungerecht und gegenüber den eigenen sozialistischen Idealen grob
fahrlässig.
Notabene: Der Kalauer, den gelernten Dachdecker Honecker als Dachlatte
zu titulieren, ist dünkelhaft; er setzt die Überheblichkeit
Studierter voraus und auch ein Unwissen über historische Umstände,
die ärmeren Bevölkerungsschichten ein Studium verwehrten.
Problem der Radikalen Linken
Der Leserbriefschreiber versucht, meine Kritik an Negri und Hardt auf
Schuldenken (Kritische Theorie gegen Postmoderne) zurückzuführen:
Es wäre [...] an der Zeit, genau dieses bornierte Schulendenken
aufzugeben (und neben Marx und Adorno auch andere, böse`,
postmoderne Texte zu lesen) nicht nur, um den eigenen Horizont ein wenig
zu lüften.
Ich bin der Auffassung, dass das Dilemma des Kommunismus in einer
ungelösten Frage besteht: Wie nämlich sollen sich Individuum und
Gemeinwesen jenseits eines verdinglichten ökonomischen Zusammenhangs und
jenseits von Rechtsverhältnissen vermitteln, ohne dass die Vermittlung
zuungunsten freier individueller Entfaltung entschieden wird, d.h. zugunsten
einer Herrschaft der Gemeinschaft oder einer Herrschaft von Personen über
Personen? Mit diesem Problem habe ich mich in den letzten Jahren in
verschiedenen Artikeln zur Kritik der Politischen Ökonomie, zum real
existierenden Sozialismus und zum Frühsozialismus auseinandergesetzt
nicht um es zu hypostasieren, sondern um die Voraussetzung zu schaffen,
es zu negieren.(3) Wer diese Texte gelesen und nicht nur wie der
Leserbriefschreiber reflexartig das Wort Marx vernommen hat, wird
bemerkt haben, dass ich keine Schulbildung betreibe, sondern Marx am
Springpunkt seiner Kritik der politischen Ökonomie kritisiere: der
Perspektive einer Aufhebung des verdinglichten ökonomischen Zusammenhangs
zugunsten planmäßiger Kontrolle (Marx) der Ökonomie.
Beim Studium der Schriften Negris und Hardts ist mir neben einem schwammigen,
raunenden, prätentiösen Jargon(4) auch noch aufgefallen, dass die Frage
nach der Vermittlung von Individuen und Gemeinschaft von vornherein entschieden
scheint nämlich zum Vorteil von Produktivität und
biopolitischer Gemeinschaft.
Wenn der Leserbriefschreiber Negri und Hardt gegen meine angeblich
überzogenen Vorwürfe in Schutz nehmen will, dann vielleicht besser,
indem er keinen Metadiskurs über Schulbildung anfängt, der diese
herbeiredet, sondern indem er ausführt, wie Negri und Hardt seinem
Verständnis nach das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in
der Konzeption der Multitude darlegen. Die kleine Hilfestellung des
Leserbriefschreibers, dass Multitude etwa Vielheit heißt, punktet
vielleicht im Small Talk auf einer Vernissage, bringt uns im Thema aber nicht
weiter. Schließlich klingt auch ein Begriff wie Pluriversum (Alain
de Benoist), den die Neue Rechte mit Bedacht bemüht, erst mal ganz nett.
Oder?
So leichtsinnig der Leserbriefschreiber die Traditionslinien zwischen
Kommunisten der Vergangenheit und heutigen Kommunisten und Radikalen Linken
kappt, so lächerlich findet der Leserbriefschreiber meine Kritik an
heutigen Kommunisten: Das Argument (Negri und Hardt würden die
produktive Gemeinschaft verherrlichen und alles, was sich dieser nicht
fügt, zerschmettern wollen, H.G.) geht an Negri und Hardt etwa soweit
vorbei, wie die Behauptung, Westerwelle wäre ein ausgemachter Sozialist.
Ich habe Negri und Hardt beim Wort genommen und zitiert, mehr als sie
hier nochmals und ausführlicher zu Wort kommen zu lassen kann ich
nicht tun: Nur wenn das, was gemeinsam ist, Gestalt gewinnt, kann
Produktion stattfinden und die allgemeine Produktivität steigen. Alles,
was diese Macht zu handeln blockiert, ist nichts als ein Hindernis, das man zu
überwinden hat ein Hindernis, das durch die kritischen Kräfte
der Arbeit und die leidenschaftliche Alltagsweisheit der Affekte umgangen,
geschwächt und zerschmettert wird.(5) Die Hindernisse, die
umgangen, geschwächt und zerschmettert werden, fassen sie unter dem
Begriff der Korruption zusammen, die als Seuche, Frustration und
Verstümmelung sogleich näher und schließlich in ihrer Wirkung
auf die Gemeinschaft bestimmt wird: Sie bricht die biopolitische
Gemeinschaft auf und behindert deren Leben.(6) An dieser Stelle taucht in Negris
und Hardts Schrift überhaupt einmal die Kategorie der Individualität
auf just in dem Moment, in dem sie verschiedene Arten der Korruption
auflisten: An erster Stelle steht dabei Korruption als individuelle Wahl,
welche der grundlegenden, durch die biopolitische Produktion definierten
Gemeinschaft und Solidarität entgegensteht und sie verletzt.(7)
Ähnlich dem Marxismus deklamieren Negri und Hardt die Produktion, deren
Notwendigkeit dahingestellt sei, als Quelle des Befreiungskampfes und der
wahren Gemeinschaft. Der Adel der Produktion steht bei ihnen nicht zur
Disposition hierin prolongieren die Autoren eine mächtige Tradition
des Abendlandes, die schon die Ordensregeln der Franziskaner, die Arbeits- und
Sparethik des Protestantismus und die Heiligung produktiver Arbeit durch den
Arbeiterkampfmarxismus speiste und in der Gegenwart unter anderem in der
DIY-Ideologie der Autonomen- und Subkulturszene, der Hingabe ans Ehrenamt
innerhalb linker Verbände und in der Bereitschaft des kreativen
Präkariats zur unbezahlten 60-Stunden-Woche Blüten treibt.
Arbeit ist [...] produktiver Exzess. Dieser Exzess ist zum einen Folge
eines kollektiven Emanzipationsprozesses, zugleich aber auch Substanz einer
neuen gesellschaftlichen Virtualität der produktiven und befreienden
Möglichkeit von Arbeit.(8)
In dem Nachfolgewerk Multitude nehmen sie die offenen Angriffe gegen
Individualität sichtlich zurück und bemühen sich, einen
positiven Begriff von Singularitäten in Szene zu setzen, gelangen
dabei aber keinen Schritt weiter als der Marxismus, der die Befreiung des
Individuums zwar versprochen, es aber bei schönen Worten belassen und das
Problem, wie das in der bürgerlichen Gesellschaft erreichte Niveau
individueller Freiheit jenseits verdinglichter Vermittlung aufrecht zu erhalten
ist, verdrängt hat. So versichern sie uns hinsichtlich der Konstitution
der Multitude in der Produktion: Dabei negiert diese zunehmende
Produktion des Gemeinsamen keineswegs die Singularität der
Subjektivitäten, welche die Multitude bilden.(9) Wie sich die
Singularitäten dabei konkret vermitteln sollen, teilen uns Negri
und Hardt nicht mit. Man bekommt immer nur den gleichen Blumenstrauß von
Begriffen vorgesetzt: das Gemeinsame, Multitude, Liebe, kooperative
soziale Produktionsprozesse.(10)
Warum Negri und Hardt blauäugig davon ausgehen können, dass Multitude
Harmonie und Frieden bedeutet, wird im ersten Drittel von Empire
deutlich, in dem sie erklären, wann und wie das Empire seinen Lauf
nahm. Zu Beginn der Moderne hätte es einerseits die revolutionäre
Tendenz gegeben, die schöpferischen Kräfte, die vormals Gott
zugeschrieben worden sind, nun der Menschheit zuzuschreiben, anderseits
wäre es zu einer konterrevolutionären Tendenz gekommen, den Menschen
eine Ordnung aufzuzwingen und ihre schöpferische Kraft zu beherrschen und
auszubeuten. Letztere Tendenz hätte sich durchgesetzt: Ordnung gegen
Begehren(11), Empire gegen Multitude. Dem Lebendigen und Unmittelbaren sei ein
künstliches Korsett angelegt worden: Der Trias vis-cupiditas-amor(12),
welche die produktive Trias spezifischer Vermittlungsinstanzen bildete, (wurde)
eine Trias spezifischer Vermittlungsinstanzen gegenüber gestellt. [...]
Was hier zum Zuge kommt, ist [...] eine Art abgeschwächter Transzendenz,
welche die Erfahrung relativiert und jede Instanz des Unmittelbaren und
Absoluten in Leben und Geschichte der Menschen aufhebt. Warum aber ist diese
Relativierung nötig? [...] Weil jede Selbstkonstituierung der Menge sich
einer vorgegebenen Ordnung zu unterwerfen hat und weil jede Behauptung, die
Menschen könnten ihre Freiheit des Seins unmittelbar erlangen, sein
subversiver Wahnsinn wäre.(13) Negri und Hardt predigen die Feindschaft
gegen Gesellschaft und die Erlösung durch Gemeinschaft. Das Böse sei
die Austreibung alles Lebendigen aus dem Erkennen und Handeln(14), der
politische Apparat(15), die Souveränitätsmaschine(16), das
Gute sei das Lebendige, die biopolitische Gemeinschaft, deren
Schmelztiegel die Produktion und dessen Feuer die Trias Kraft-Liebe-Begehren.
Gleich einem Denker der Neuen Rechten beschwören sie den Vorrang des
Emotionalen, des Verschmelzenden(17). Wie einst das Volk (beziehungsweise die
Rasse) damit beworben worden ist, dass sein eigentliches Leben und Begehren
unter dem aufgesetzten System (der Weimarer Republik, des Parlamentarismus, des
Kapitals etc.) ächzt und es im Gegensatz zu kalter
Rationalität und künstlichen Institutionen wahrhaftige
Gemeinschaft verspricht,(18) so bewerben Negri und Hardt ihre
Gegen-Gobalisierung(19), ihre Multitude. Sie müssen sich nicht um die
Frage kümmern, wie die Menschen ihr Zusammenleben so organisieren werden,
dass dieses jedem Menschen gerecht wird, sie vertrauen darauf, dass die
Multitude im gemeinsamen Begehren an sich existiert.
Entgrenzung der Radikalen Linken
Eine kurze Definition der Multitude gibt Negri an anderer Stelle:
Multitude ist der ontologische Begriff des Vollen gegen das Leere, der
Produktion gegen parasitäre Relikte.(20) Die Gegenüberstellung von
Multitude und Empire offenbart sich hier deutlich als kitschig-philosophische
Variante der klassischen Unterscheidung von schaffendem und raffendem Kapital.
Diejenigen, die schaffen, sollen von den raffenden Parasiten befreit werden,
die parasitäre Maschine, die vampiermäßig das Blut
der Lebenden saugt, soll zerstört werden.(21) Bloß werden die
Parasiten nicht mehr als Zersetzer der Nation und der Volksgemeinschaft
bestimmt, sondern als imperiale Befehlsgewalt, die mittels Nationen das
Weltvolk zersetzt. Nationen seien das Künstliche und Abstrakte, mittels
dessen Herrschaft über die Multitude ausgeübt würde. Mit
anderen Worten: Die Souveränität wirkt durch die Kerbung des
gesellschaftlichen Felds.(22) Statt dass dieses von sich aus, urwüchsig und
kräftig, gedeiht. In dieser Ideologie verschmilzt romantischer,
regressiver Antikapitalismus mit linkem Kosmopolitismus, Antiimperialismus und
Antinationalismus.
Staatskritik und Antinationalismus sind für sich genommen keinerlei
Ausweis für eine gescheite linke Einstellung; bei Negri und Hardt bezeugen
sie vielmehr den Hass auf eine künstliche Vergesellschaftung sowie ihren
Glauben an eine harmonische Gemeinschaft, die nicht vermittels
Rechtsverhältnissen und Institutionen, sondern unmittelbar durch
Kraft-Liebe-Begehren konstituiert wird. In diesem Weltbild ist es nicht mehr
die Volksgemeinschaft, die als Gemeinschaft dem kalten System entgegengestellt
wird, sondern die Weltgemeinschaft, die verzerrte Variante des uralten Traums
von einer vereinten Menschheit als Fluchtpunkt des regressiven
Antikapitalismus.
Auf der bösen Seite stehen das Parasitäre, der Imperialismus,
Unterjochung und Nationen, die mit ihren Grenzen die natürliche Ordnung
zerschneiden, auf der guten Seite stehen Produktivität, Menge, globale
Gemeinschaft und Liebe: Imperiale Befehlsgewalt erzeugt nichts Lebendiges
und nichts Ontologisches. Aus ontologischer Sicht ist sie rein negativ und
passiv. [
] Imperiale Macht ist [...] ein Parasit, der von der
Fähigkeit der Menge (Multitude, H.G.) lebt, immer wieder neue Energie- und
Wertquellen zu schaffen. [...] Die virtuellen, konstituierenden Mächte
stehen in einem endlosen Konflikt mit der konstituierenden Macht des Empire.
Sie sind vollkommen positiv, weil ihr Dagegen-sein` ein
Dafür-sein` ist, d.h. ein Widerstand, der zu Liebe und Gemeinschaft
wird. [...] Die mobile Menge muss eine globale Staatsbürgerschaft`
erlangen. Der Widerstand der Menge gegen die Unterjochung der Kampf
gegen die Sklaverei, einer Nation, einer Identität anzugehören, und
damit die Desertion aus der Souveränität und den Beschränkungen,
die sie der Subjektivität auferlegt ist vollkommen positiv.(23)
Die moderne rechte Variante des reaktionären Antikapitalismus' bewegt sich
seit Jahrzehnten auf diese linksradikale Variante zu. Auch dieser hat in
verschiedenen Ausprägungen mit der Weltgeschichte Schritt gehalten und die
Globalisierung in sein Denken aufgesogen wie der Lumpen die Nässe. In
Zeiten globaler Gleichzeitigkeit (Internet, Popkultur, Mode und Fernsehen) will
kaum noch jemand nationalchauvinistisch oder rassistisch argumentieren.(24) Es
sind immer weniger Rasse, Volk, Ethnie und Nation, die von reaktionären
Ideologen als positive, konkrete Bezugsgemeinschaften angerufen werden, sondern
es sind mittlerweile je nach politischer Fasson die
Völkerfamilie, die Weltgemeinschaft, die Kulturen oder das Pluriversum,
die dem imperialistischen, amerikanischen, kulturlosen, parasitären und
nationalistischen Kapitalismus als positive, konkrete Bezugsgemeinschaften
entgegengestellt werden.
Die Volksgemeinschafts-Parole Gemeinnutz vor Eigennutz! funktioniert
ebenso auf globaler Ebene. Aber hier gelten nicht mehr nur Spekulanten und
Finanzkapitalisten als Parasiten am gesunden Leib der Weltgemeinschaft, sondern
nun auch Nationen, d.h. abstrakte Konstrukte, die im eigenen Interesse, d.h.
egoistisch respektive imperialistisch handeln. Im Antizionismus kulminiert der
moderne reaktionäre Antikapitalismus. Israel wird als die künstliche
und imperialistische Macht schlechthin ausgemacht, die die Gemeinschaft
bedroht. Was vormals dem Juden innerhalb der Volksgemeinschaft angelastet
wurde, wird nun Israel innerhalb der Weltgemeinschaft attestiert: Egoismus,
Kulturlosigkeit, die Bedrohung des inneren Friedens und die Störung
innerer Harmonie. In dieser Projektion verwirren sich links und rechts.
Zwischen der Gemeinschaft der Völker, dem Pluriversum und der Multitude,
zwischen Ethnopluralismus, Internationalismus und Antiimperialismus gibt es
keine schwerwiegenden Differenzen zumindest nicht im Kampf gegen den
gemeinsamen Feind.
Hannes Gießler