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Aktuelles Heft

INHALT #173

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Alles nur Wahn?

Buchcover Eine Auseinandersetzung mit:

Gerhard Scheit, Der Wahn vom Weltsouverän. Zur Kritik des Völkerrechts, Ça Ira, Freiburg 2009, 300 Seiten, 20 Euro.

Vorbemerkungen

Längst ist die antideutsche Linke im Stadium ihrer eigenen Historisierung. Feststellen lässt sich das allein schon daran, dass das designierte Zentralorgan, die Berliner Zeitschrift „Bahamas“, den Anspruch auf ihr einstiges Label „antideutsch“ aufgegeben und an ehemalige – nun selbstverständlich umso schärfer gescholtene – Weggefährten weitergereicht hat. Inzwischen segelt man lieber unter dem ideenpolitisch weniger anspruchsvollen Label „Ideologiekritik“ und bricht so – zumindest terminologisch – die Brücken ab, die den sogenannten Bewegungs-Antideutschen über die Jahre hinweg so dienlich waren. Ob diese Strategie terminologischen Abschüttelns Erfolg zeitigen wird, lässt sich freilich noch kaum ermessen.
Bei der Suche nach sonstigen Gründen für den neuerlichen Kurswechsel, stößt man jedoch schnell auf Widersprüche. Dort, wo noch vor einiger Zeit große Anstrengungen auf die Klärung der Frage „Was ist antideutsch?“ unternommen wurden, gibt man sich jenseits des tagespolitischen Geschäfts eher zurückhaltend. Ein Katechismus zur Frage: „Was ist Ideologiekritik?“ steht momentan nicht zur Verfügung und dürfte wohl auch mit einigen Distinktionsproblemen zu kämpfen haben.(1) Wie ist der politische Etikettenwechsel, der mittlerweile schon als Kontinuität verklausuliert wird, also inhaltlich zu begründen? In der nunmehr ideologiekritischen Zentrale scheint man dieser Frage offenbar auszuweichen.(2)
Die Krise der antideutschen Linken zeigt sich indes recht deutlich dort, wo die Sendung sperriger Theoriepakete so recht nie ankam – in der politischen Bewegung, die ihrer Gründer- und Vorbildgeneration nun an allen Ecken und Enden der Republik das Leben schwer macht.(3) Die „Bahamas“ hat die Gefahr der politischen Überfrachtung eigener Ansprüche möglicherweise noch rechtzeitig erkannt und mit dem Etikettenwechsel zur Ideologiekritik die Notbremse gezogen. Ob aber dadurch der einst ins Rollen gebrachte Zug zum Stehen kommt, ist damit keineswegs gesichert. Der Zerfallsprozess an den bewegungspolitischen Rändern offenbart vielmehr, dass das Theoriepaket im Gegensatz zur ideenpolitischen Kurzbotschaft gar nicht so recht ausgepackt wurde und viel eher zur identitätsstiftenden Staffage diente.(4)

Zu den aktuellen Theoriesendungen der ehemaligen Antideutschen gehört das neueste Buch von Gerhard Scheit.(5) Seit Jahren kümmert sich Scheit um die theoretischen Leitlinien der antideutschen Linken und fördert durch seine recht freie Lesart einschlägiger Autoren Interessantes zutage. Diese freigeistige Bewegung im Stoff hat jedoch ihren Preis, der sich vor allem in Form einer zurichtenden Methodik zeigt. Die folgende Buchkritik wird sich deswegen hauptsächlich auf dieses nicht ganz ideologiefreie Element konzentrieren, das der auf rhetorische Abgeschlossenheit zielenden Theoriebildung nicht sogleich anzusehen ist. Die Leistungen antideutscher Theorie oder Ideologiekritik (z. B. die Kritik des Antisemitismus, des Antiamerikanismus und des Islamismus) können dabei nicht eigens berücksichtigt werden.(6) Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass einzelne Teile des Buches, so z. B. Kapitel 4 sowie Teile von Kapitel 3, unbestrittenen Erkenntniswert besitzen.

Die These

Auf dem Buchcover von „Jargon der Demokratie“, dem vor etwa 3 Jahren erschienenen Buch Gerhard Scheits, befindet sich eine fotografische Abbildung, die den Blick aus dem Inneren der begehbaren Kuppel des Reichtagsgebäudes auf einen der Ecktürme lenkt, auf dem die bundesdeutsche Flagge weht. Direkt neben dieser Abbildung kündigt der Untertitel des Buches an, Auskunft „Über den neuen Behemoth“ zu geben. Die naheliegende Assoziation von Bürgerkrieg, Nationalsozialismus und parlamentarischer Demokratie war zweifellos intendiert und sollte die im Buch vertretene These stützen, welche die europäische Vision vom ewigen Frieden nachdrücklich als „deutsch-europäische Entfesselung des Chaos“ identifizierte.(7)
An die damalige These schließt Gerhard Scheit in „Der Wahn vom Weltsouverän“ nahtlos an. Modifiziert lautet diese nun in etwa so: Das internationale Recht stützt sich auf die Vorstellung eines Weltsouveräns oder Weltstaats und steht einem westlichen Begriff von Souveränität entgegen. Da es einen Weltsouverän oder Weltstaat aber logisch gar nicht geben kann, so die These, sind alle Bemühungen, die auf die Konstitutionalisierung des Völkerrechts gerichtet sind, nicht nur von Grund auf wahnhaft, sondern ziehen darüber hinaus auch praktisch katastrophale Folgen nach sich.(8)
Im Buch biegt sich Scheit alles auf diese These zurecht. So wird die moderne politische Ideengeschichte seit Machiavelli und Hobbes mit dem Problem internationaler Politik bzw. ihrer Verrechtlichung konfrontiert, ganz unabhängig davon, was sich die jeweiligen Denker und Denkerinnen tatsächlich bei der Abfassung ihrer Schriften vorgelegt haben.(9) Der Wahn vom Weltsouverän, der mit dem Label „deutsche Ideologie“ verknüpft wird, untergrabe den Begriff westlicher Souveränität. Beim Nachweis dieser These lässt sich Scheit weder davon irritieren, dass heute kaum ein Völkerrechtler mit der Vorstellung eines Weltstaats oder Weltsouveräns arbeitet, noch nimmt er es mit einer Überprüfung der von ihm kritisierten Autoren reichlich ernst.

Wie baue ich mir einen Pappkameraden?

Ein Beispiel dafür ist Scheits Rezeption von Jürgen Habermas, den er als vom Wahn ergriffenen Denker oder wahlweise als „deutsche(n) Ideologe(n) des Weltsouveräns“ (92) bezeichnet. Weil Habermas nämlich im Anschluss an den „frommen Wunsch des Immanuel Kant“ (aus der Überschrift des ersten Kapitels) die gesetzlosen Verhältnisse im zwischenstaatlichen Raum verwischen wolle, sei er Protagonist des Wahns vom Weltstaat.
Dass dies grober Unfug ist, weiß, wer Habermas' Schriften daraufhin befragt. Nirgends in diesen Schriften will Habermas auf einen Weltsouverän oder Weltstaat hinaus. Denn zu deutlich hat er dafür die Problemlage vor Augen, die sich aus der Konfrontation von Kant mit Carl Schmitt ergibt. Man muss schon – wie Scheit – gestückelt und entstellt zitieren, um auch nur annähernd etwas zusammenzubasteln, das Habermas als Anhänger einer Illusion vom Weltstaat oder Weltsouverän erscheinen lässt.(10) Offensichtlich ist es für Scheit nicht der Mühe wert, sich dezidiert mit dem von ihm selbst zitierten Aufsatz auseinanderzusetzen, worin Habermas sein (mittlerweile revidiertes) Modell einer „Weltinnenpolitik ohne Weltregierung“ vorstellt, das gerade nicht staatliche Züge annehmen kann, weil das nämlich gar nicht möglich sei, wie Habermas ausdrücklich betont.(11)
Der simple Trick, der es Scheit dennoch erlaubt, Habermas oder auch andere als Ideologen des Weltsouveräns darzustellen, besteht schlicht darin, den Kritisierten zu unterstellen, sie meinten etwas anderes als sie sagten. Wer nämlich von „global governance“, „Weltinnenpolitik“ oder „Völkerrecht“ spreche, meine in Wahrheit den Weltsouverän, der nur nicht benannt werde, weil Souveränität innerhalb solcher Konzepte verdrängt werden müsse.(12)
Einer zurichtenden Interpretationsstrategie fällt auch Hans Kelsen zum Opfer. Spricht dieser vom „Primat des Völkerrechts“, so wird daraus bei Scheit der „Weltsouverän, der nicht beim Namen genannt werden soll“ (50 f.) oder ein „Weltherrscher“ (51), wie er vielfach im Anschluss an Kant gefordert worden sei.(13) Besonders infam werden Scheits Unterstellungen, wenn er eben noch Kelsens 1920 geschriebene Schrift „Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts“ kritisiert, um im nächsten Moment folgendes zu äußern:

„Eben erst [1920] war die NSDAP gegründet worden, und schon hatte ein Rechtswissenschaftler die völkerrechtliche Begründung der Appeasement-Politik entworfen, die in Anwendung kommen konnte, sobald jene Partei den deutschen Staat eroberte.“ (55)

Scheit geht zwar anschließend auf Kelsens 1938 vorgenommene Revision der Völkerrechtstheorie ein, sein impliziter Vorwurf aber lautet, dass Kelsen am Aufstieg der NSDAP indirekten Anteil gehabt habe – und zwar weil er im Jahr der Gründung dieser Partei, deren Bedeutung zu diesem Zeitpunkt als absolut marginal eingeschätzt werden darf(14), eine Schrift verfasst hat, deren Einfluss so groß gewesen sein soll, dass es besagte Partei 13 Jahre später besonders leicht gehabt habe. So funktioniert die auf größtmögliche Abgrenzung zielende Suggestion, die der tatsächlichen Weimarer Realität nur insofern nahe kommt, als dass sie bequem von Carl Schmitt stammen könnte.(15)

Jenseits von Carl Schmitt?

Aber auch die Rezeption Carl Schmitts hat bei Gerhard Scheit so ihre Tücken. In der Deutung des Nationalsozialismus als „Wiederkehr des Verdrängten“ (S. 75) affirmiert er – willentlich oder nicht – jene Denkbewegung, die auch Schmitts Kritik des Rechtspositivismus und der Weimarer Demokratie bestimmt hatte. Dieser argumentierte Mitte 1932 in der Schrift „Legalität und Legitimität“, dass es verfassungsfeindlichen Parteien möglich sei, auf legalem Wege an die Macht zu gelangen, um im Anschluss daran die „Tür der Legalität“ zuzuschlagen.(16) Für Verfassungsrechtler wie Hans Kelsen, die sich die Verteidigung der Demokratie mit legalen Mitteln erhofften und von Scheit deswegen als Katalysatoren des Wahns dargestellt werden, war es 1932 freilich zu spät, das Ruder herumzureißen. Eine verfassungsgemäße Lösung der politischen Krise, welche sich vor allem in der Machtlosigkeit des Parlaments, d. h. in der Auflösung seiner Souveränität ausdrückte, war vermutlich spätestens mit dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932, bei der die bekennenden Verfassungsgegner von Weimar bereits die Mehrheit stellten, aber möglicherweise auch schon mit der Reichstagswahl vom 14. September 1930 hinfällig geworden.
Das eigentliche Problem der gesamten Argumentation von Scheit besteht darin, dass er seinen eigenen Begriff von Souveränität unhinterfragt an Hobbes und Schmitt ausrichtet. Souveränität heißt bei Scheit schon auf der Ebene des Nationalstaats nichts anderes als die bloße Ausübung von Gewalt: „Souveränität heißt eine Macht, die nur Untertanen kennt, und neben sich andere Souveräne, aber keinen über sich.“ (105).(17) Da ist es nur logisch, alles, was nach Spaltung des Gewaltmonopols aussieht, mit Manfred Dahlmann als „Gegensouverän“ zu bezeichnen. So etwas wie Volkssouveränität, kann sich Scheit wiederum nur unter den Vorzeichen von Schmitts Demokratie-Auffassung denken, wonach Demokratie und Parlamentarismus (Gewaltenteilung) gleichzeitig nicht zu verwirklichen seien. Dementsprechend ist es für Scheit auch folgerichtig, Demokratie als drohende Volksgemeinschaft zu deuten, anstatt zu fragen, was Herrschaft des Volkes in den knapp 350 Jahren nach Abfassung von Hobbes' „Leviathan“ außerdem bedeutet haben könnte. Im Übrigen ist diese Überblendung der Geschichte liberaler Verfassungsstaaten mittels der Interpretations-Achse Hobbes – Schmitt ein Grund dafür, dass Scheit bei der Beurteilung der Weimarer Positionen von Hermann Heller und Franz L. Neumann zu völlig realitätsfernen Urteilen kommt. Während er Heller die Formulierung „gesellschaftliche Seinsordnung“ als völkische Substanzialisierung auslegt (73), klassifiziert er Neumanns Position als „demokratische(n) Faschismus“ (268). Dabei wäre die demokratisch reflektierte Souveränitätsauffassung der beiden gerade derjenigen von Schmitt gegenüberzustellen, weil sie den unmittelbaren Zugang zur Gewalt nicht in derselben Weise überbewertet. Heller und Neumann sind, was ihre Auffassung der Souveränitätsproblematik betrifft, daher also aus gutem Grund weniger konsequent als Schmitt und lehnen dessen Souveränitätsbestimmung über den Ausnahmezustand ab. Man könnte auch sagen, dass ihre Inkonsequenz, sich nicht einseitig auf die Seite der Gewalt (Schmitt) oder des Rechts (Kelsen) zu schlagen, die Möglichkeit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufbewahrt – und dies wiederum mit einiger Nachwirkung für die spätere Bundesrepublik.(18) Gegen Gerhard Scheits Interpretation kann man daher mit Heller und Neumann, aber auch mit Hannah Arendt und Ernst Fraenkel einwenden, dass die Rede vom „Minimum an Freiheit“ (Neumann) nur dann Sinn macht, wenn Demokratie nicht bloß als „Jargon“ oder Ideologie betrachtet wird, sondern als parlamentarische Form von Souveränität, die auf eine Einschränkung unvermittelter Gewaltausübung zielt. Scheits Begriff einer „westlichen Souveränität“ dagegen bleibt ohne diesen demokratischen Gehalt auffallend eingeschränkt. Nur in der Form eines staatlichen Gewaltmonopols und in der Entgegensetzung zum nationalsozialistischen „Behemoth“ (Neumann) soll „westliche Souveränität“ überhaupt erst ihren Sinn entfalten können. Diese offensichtlich auf Schmitts Formel vom Ausnahmezustand beruhende Souveränitätsvorstellung bestätigt Scheit, wenn er die „Konjunktion zwischen der staatlichen Einheit und dem Dienst für den Frieden“ als eine „Lüge“ (194) bezeichnet, die „die Schwäche des Westens ausnutzt wie voraussetzt“ (ebd.). „Westliche Souveränität“ beweise sich demnach, wie man an solchen Formulierungen ermessen kann, nur in der Form des Krieges. Bei Lichte besehen, ist diese Art Argumentation also näher an Carl Schmitt als Scheit bei aller sonstigen Abgrenzung lieb sein dürfte.

Mythos Krisenbewältigung

Ein weiterer Schwachpunkt in der Theoriebildung Gerhard Scheits ist das seit „Meister der Krise“ immer wieder bemühte Theorem von der Krisenbewältigung, das sich in anderer Form auch bei Joachim Bruhn, Manfred Dahlmann oder Clemens Nachtmann findet. Das Theorem dient auch im aktuellen Buch von Scheit dazu, eine zentrale Schwäche antideutscher Theoriebildung zu überdecken. Einerseits, so könnte man meinen, ist es nicht falsch, im Anschluss an Marx' Kritik der politischen Ökonomie die generelle Krisenhaftigkeit der Kapitalverwertung hervorzuheben.(19) Andererseits aber erspart das Theorem, das zwar verschiedene Modelle von Krisenbewältigung berücksichtigt, jedwede ereignisgeschichtliche Überprüfung. Das bedeutet, dass die konkreten Ereignisse – etwa die bürgerkriegsartigen Zustände zum Ende der Weimarer Republik(20) – bei der Erklärung, wie es zum Nationalsozialismus kommen konnte, immer schon einer funktionalistischen Deutung unterliegen. Da nämlich der „wahre Weltsouverän“ – wie Scheit auch im neuen Buch bekräftigt – nur das Kapitalverhältnis sein könne (187), entspringe der „Wahn vom Weltsouverän“ einem staatlichen Missverständnis, das damit verbunden sei, auf irgendeine Weise auf die Krise des Kapitals (und nicht der Weimarer Demokratie) zu reagieren. Politisches Handeln folge demnach – und darin ist die antideutsche Linke noch immer nicht weit genug von Theorien der Staatsableitung entfernt – ökonomischer Notwendigkeit oder kurz: „Die Sehnsucht nach dem Weltsouverän entspringt der Krise.“ (207). Eine ereignisgeschichtliche Rekonstruktion dieses Sprungs von der Krise in den Wahn wird aber nicht als notwendig erachtet. Stattdessen verweist Scheit einmal mehr auf jene mittlerweile hinlänglich bekannte Textstelle aus Marx' „Kapital“ (Erster Band), wonach sich die manifest werdenden Gegensätze der Krise des Kapitals gewaltsam geltend machen müssen.(21)
Wie die in Frage stehende Entwicklung jedoch genau vonstatten ging und welche Akteure dabei eine Rolle spielten, kann genau genommen nur dem konkreten historischen Verlauf abgelesen und nicht funktional im Vorausblick auf die spätere Identität von Staat und Volk erklärt werden. Letzteres würde eine Entwicklungslogik unterstellen, die im Endstadium der Weimarer Republik so nicht bestanden hat. So lässt sich etwa das Verhalten der um die Macht konkurrierenden Akteure nicht allein im Hinblick auf rationale Handlungsabläufe rekonstruieren. Ihre jeweiligen Entscheidungen sind vielmehr als wesentlich kontingent zu begreifen. Diese ebenso banale wie ausschlaggebende Erkenntnis wird in den Reihen antideutscher Ideologiekritik jedoch erfolgreich ignoriert, weshalb die Beschäftigung mit Ereignisgeschichte auch kaum eine Rolle zu spielen scheint. Gerhard Scheits Kritik des Nationalsozialismus macht da keine Ausnahme und beruht, weil sie die ereignisgeschichtliche Reflexion der Krisenbewältigung ausspart, auf einem spekulativen Kurzschluss, der über die Entwicklung der letzten Monate der Weimarer Republik einen Vorhang des Schweigens hüllt.
Dass hingegen die Entwicklung nationalsozialistischer Politik ab 1933 in ihrer Irrationalität doch wieder so etwas wie eine innere Notwendigkeit erkennen lässt, kann der Ideologiekritiker Scheit gegenüber dem rationalsten Historiker wiederum sehr gut erklären, weil er den Wahn – wenn er erst einmal die Schaltstellen der Macht besetzt hat – in seiner inneren Dynamik ernst nimmt. In der Kritik dieser schon von Neumann und Arendt beschriebenen Dynamik sind denn auch die Stärken der antideutschen Linken zu sehen.

Ein abschließendes Wort

Wie sehr die These des Wahns vom Weltsouverän schließlich ins Wanken geraten muss, zeigt sich, sobald Scheit sie in Hinblick auf die weltweit operierenden islamistischen Rackets formuliert. So heißt es im abschließenden Kapitel des Buches, dass jene Gruppierung, die den „Hass auf Israel am wirkungsvollsten zu schüren vermag, (...) zum Hegemon des jihad“ aufsteige – also zum „Gegenhegemon, zu jener Kraft, die den Weltsouverän überzeugender als andere in Aussicht stellt“ (255). Schwer zu sagen, ob der Nachsatz so etwas wie Unsicherheit in der Begriffswahl ausdrückt. Merkwürdig ist jedenfalls, dass Scheit dem globalen Islamismus bei der Verwirklichung des Wahns eine Wirkungskraft zuschreibt, die er auf der anderen Seite den globalen Institutionen der internationalen Gemeinschaft permanent abspricht. Nachvollziehbar ist, dass er die Wirkungskraft des Wahns islamistischer Rackets klar beim Namen nennt, fragwürdig dagegen, warum die Anliegen internationaler Organisationen zwangsläufig als die komplementäre Spielart dieses Vernichtungswahns erscheinen müssen. Dabei könnte man doch auch argumentieren, dass zum Beispiel humanitäre Organisationen wie „Amnesty International“ oder „UNICEF“ zumindest einen Teil jenes Gedankens verkörpern, den Scheit so despektierlich als den „frommen Wunsch des Immanuel Kant“ bezeichnet. Ist Politik im internationalen Raum nicht viel komplexer als Scheit es in seinem Buch vorführt? Ist es ausreichend, dabei auf positive Beispiele gänzlich zu verzichten, weil sie die eine tragende These eventuell relativieren? All dies aber sind vermutlich Fragen, die himmelweit an einer Ideologiekritik vorbeizielen, die – wie Scheit es ausdrückt – „das Schlimmste an(nimmt)“ (263), damit sich ihre Adressaten anders entscheiden mögen.(22) Und dafür bedarf es dann wohl doch dieser überladenen These vom völkerrechtlichen Wahn. Am Ende muss es immer irgendwie reißerisch sein.

Roman
Der Autor ist Mitglied der Gruppe in Gründung

Anmerkungen

(1) Vgl. hierzu etwa die aktuelle akademische Debatte über „Was ist Kritik?“ (Suhrkamp 2009) bzw. darin: „Was ist Ideologiekritik?“, die sich ganz bewusst auch auf die ältere Kritische Theorie (Adorno) bezieht. Auch hier ist natürlich nicht alles Gold, was glänzt.

(2) Diesen Eindruck bestätigen auch die kurzen Ausführungen zur Ideologiekritik von Justus Wertmüller (vgl. „Ideologiekritisch und sonst nichts“, Bahamas Nr. 57, 2009). Zwar sei jede Art Klassifizierung von vornherein „fragwürdig und etikettenhaft“, aber eine Rechtfertigung des Etikettwechsels kommt anscheinend doch nicht ohne klare Unterscheidungen aus. Falsche Ideologiekritik, so Wertmüller in seiner niedergeschriebenen Konferenzansprache, sei schon „dem Begriff nach“ unmöglich. Warum dies so sei, verschweigt er seiner Hörer- und Leserschaft allerdings. Die Grenze zwischen Ideologiekritik und (vermutlich) Ideologie verlaufe dort, wo Sprache sich von bloßen „Reihungen von Wörtern“ unterscheide. Und weil Wertmüller und seine Kolleginnen und Kollegen von der „Bahamas“ eine „hohe Meinung von der Sprache“ haben, so die Argumentation, steht die „Bahamas“ schon seit langem auf Seiten der Ideologiekritik. Da staunt man nicht schlecht, wie einfach es mit Begriffsbestimmungen manchmal sein kann.

(3) Deutlich zu sehen an der Art und Weise, wie das [a:ka] aus Göttingen im Nachgang der Hamburger Ereignisse vom 25. Oktober 2009 reagiert hat. (Das Ganze ist hier nachzulesen: http://akagoettingen.blogsport.de/2009/12/05/rueckzugerklaerung/#more-18) Das Problem der Zerfaserung der antideutschen Linken greift indirekt auch der Beitrag von Johannes Knauss auf: „Zwischen Skylla und Charybdis. Eine Nachlese zur letzten Antifadebatte“ (Antifadebatte?), in: CEE IEH #172 (http://www.conne-island.de/nf/172/19.html), hier vor allem der Abschnitt: „Epilog Eins: Wer oder was sind ‚die Antideutschen`?“.

(4) Der erwähnte Artikel von Johannes Knauss versucht sich dem Problem aus einer Binnenperspektive zu nähern und erinnert mit Clemens Nachtmann an frühere, theoretisch gesättigtere antideutsche Kritik. Leider verzichtet er auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Nachtmanns Ansatz. Der Kern einer Auseinandersetzung mit den Antideutschen wird allerdings deutlich benannt: „Wenn man sich von „den Antideutschen“ verabschieden möchte, dann sollte man sich (...) an den avanciertesten Positionen abarbeiten, die unter dem Etikett vorgebracht wurden“ (CEE IEH #172, S. 49).

(5) Gerhard Scheit, Der Wahn vom Weltsouverän. Zur Kritik des Völkerrechts, Freiburg 2009. Alle nicht anderweitig ausgewiesenen Stellennachweise im Text beziehen sich auf dieses Buch.

(6) Wenig gibt es z. B. an Scheits Rezeption von Marx oder Adorno auszusetzen. Die Probleme liegen vielmehr dort, wo die antideutsche Theoriebildung von jeher wenig zu sagen hatte: im Bereich politischer Theorie.

(7) Zu dieser These: vgl. auch meine Buchkritik aus CEE IEH #143 (http://www.conne-island.de/nf/143/21.html).

(8) Siehe z. B. die Formulierung auf Seite 15 f. Die These durchzieht in den verschiedensten Kontexten das gesamte Buch.

(9) Zu einigen grundlegenden Voraussetzungen politischer Ideengeschichtsschreibung: Quentin Skinner, Visions of Politics (Deutsch: Visionen des Politischen, Suhrkamp 2009). Hierin vor allem: „Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte“ und „Interpretation und das Verstehen von Sprechakten“. Skinner räumt dort mit dem Mythos auf, wonach jeder klassischer Autor „zu jedem der für das Gebiet als konstitutiv erachteten Themen eine eigene Doktrin ausgearbeitet habe“ (S. 24). Demnach ist es auch nur in geringem Maße möglich, einem Autor wie Thomas Hobbes Antworten auf die Problemstellungen des heutigen Weltsystems abzuschauen.

(10) Solche sinnentstellende Zitierung praktiziert Scheit z. B. auf S. 18 (mittlerer Absatz), wo er Habermas jenen Wahn vom Weltsouverän unterschieben möchte. Dabei geht es in den beiden, im Zitat zusammengestückelten, ca. 50 Seiten auseinanderliegenden Passagen des Habermas-Aufsatzes („Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?“, in: Der gespaltene Westen, Suhrkamp 2004) um ganz verschiedene Dinge: Stelle 1 (S. 123): Hier referiert Habermas die Idee vom Weltbürgerrecht, die Kant in die Gestalt einer Weltrepublik überführen wollte und stellt sie dessen Idee eines Völkerbundes gegenüber, den Kant als sich ausbreitende Föderation begreift. Habermas gibt hier also lediglich die miteinander konkurrierenden Konzeptionen einer politischen Weltgesellschaft bei Kant wieder, nicht seine eigene Konzeption. Stelle 2 (S. 176): Hier stellt Habermas sein Theorem der „postnationalen Konstellation“ vor und kommt auf den „bewusstseinsverändernden Einfluss internationaler Diskurse“ zu sprechen, den man sicherlich kritisieren kann. Die Unterstellungs- und Entstellungsmethode von Scheit besteht nun darin, dass Stelle 1 mit Stelle 2 in einer Zitatcollage verbunden wird. So scheint es, als würde Habermas die (von Kant und ihm selbst) verworfene Idee des Weltstaates mit den Mitteln seiner Diskurstheorie verwirklichen, d. h. institutionalisieren wollen. Richtig ist hingegen, dass Habermas die Reichweite seiner Diskurstheorie zur Diskussion stellt und diese – darauf kommt es an – der Institutionalisierung von internationalen Rechtsverhältnissen nachordnet. Die Institutionalisierung selber findet vielmehr auf dem politischem Terrain des internationalen Systems statt, wo die Diskurstheorie – wie Habermas klar ist – kaum zur Anwendung kommen kann. Was Scheit hier anhand sinnentstellender Mittel praktiziert, spottet jeder ernstzunehmenden Habermas-Kritik.

(11) Vgl. Jürgen Habermas, Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?, in: Der gespaltene Westen, Suhrkamp 2009, S. 134.

(12) Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage verweist vielmehr darauf, dass es um Gewalt geht, die in solcher Theoriebildung verdrängt wird – und zwar zumeist in Form präskriptiver Aussagen: z. B. darüber, dass „Gewalt nicht sein solle“. Hierbei geht es um ein Sollen, das normativer Theoriebildung nun mal eigentümlich ist. Man kann solche Sollensaussagen zwar durchaus für überzogen oder realitätsfremd halten. Dass sich das Normative in Hinblick auf die reale Verabschiedung von Gewalt aber nicht allein mit einem Verweis auf empirische Gegebenheiten erledigt, lässt sich beispielsweise an Vorstellungen über eine Gesellschaft ohne Zwang ablesen. Diese kommen letztlich auch nicht ohne solcherlei normativen oder (in anderen Worten) geschichtsphilosophischen Überschuss aus. Das grundlegende Problem von Gerhard Scheit besteht aber darin, dass er sich keinen Begriff von Souveränität denken kann, der selbst noch auf die Einschränkung von Gewalt gerichtet ist, d. h. auf die Einrichtung demokratischer Verhältnisse. Darin unterscheidet er sich im Übrigen von den von ihm geschätzten Arendt, Neumann und Fraenkel. Bei Scheit fallen Souveränität und Gewaltausübung unterschiedslos ineinander. Zu diesem entscheidenden Punkt aber weiter unten.

(13) Die zitierte Textstelle (S. 51 f.), in der Kelsen tatsächlich vom „Weltstaat als Weltorganisation“ spricht, zeigt denn auch nicht eindeutig ein eigenes Konzept oder Modell, sondern erinnert eher an jenes geschichtsphilosophische Regulativ Kants, das den Fortschritt der Menschheit zum Weltbürgertum als eine „unendliche Aufgabe“ beschreibt. Der genaue Kontext dieser Stelle konnte von mir allerdings nicht anhand der Originalquelle überprüft werden.

(14) Mitte 1920 hatte die Partei ca. 2000 Mitglieder und operierte weitestgehend im Raum München, wo sie sich mit mehreren anderen radikalen Splitterparteien auseinandersetzen musste.

(15) Vgl. die glänzende Gesamtbiographie zu Schmitt: Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, C.H. Beck 2009, dort besonders: S. 281 ff.

(16) Vgl. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 292.

(17) Und mit Affirmation des Theorems vom Ausnahmezustand: „Für diesen modernen Staat, der das Kapital ebenso nötig hat wie das Kapital ihn, gilt nun wirklich die Definition von Souveränität, die Schmitt an der Wende zum Nationalsozialismus formuliert hat.“ (136 f.) Das Ideologische an Schmitts hinlänglich bekannter Definition von Souveränität sei, so Scheit, dass darin der Belagerungszustand „zum Verschwinden gebracht“ (137) werde. Allerdings meint Scheit mit „Belagerungszustand“ im Gegensatz zu Schmitt die „Verwertung des Werts“ und nicht die konkrete Belagerung des Staates – z.B. der Weimarer Republik in ihrer Endphase – durch radikale Gruppierungen, die um das Monopol der Macht kämpfen.

(18) Vgl. Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, C.H. Beck 2001, dort vor allem: Kapitel 8: „Politologie als Demokratiewissenschaft“. Speziell für Heller: C. Müller/ I. Staff (Hrsg.), Staatslehre in der Weimarer Republik. Hermann Heller zu ehren, Suhrkamp 1985.

(19) Auf die abwegige Deutung, den Schmitt'schen Begriff vom „Belagerungszustand“ darin aufgehoben zu sehen, wurde weiter oben bereits hingewiesen.

(20) Vgl. Dirk Blasius, Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930-1933, Vandenhoeck & Ruprecht u. Fischer 2005 u. 2008.

(21) Zu Beginn des Kapitels über den Nationalsozialismus: S. 207 ff.

(22) Zu dieser Form eines als Kritik missverstandenen Alarmismus: Harte Männer, hartes Geschäft, Dossier in: Jungle World, 22. Januar 2009 (http://jungle-world.com/artikel/2009/04/32523.html)

22.01.2010
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