Überwältigende Geschichte(n)
Gedanken zu den Sternstunden der Menschheit Stefan Zweigs
Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf
Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die
Vergangenheit festzuhalten. (Walter Benjamin, Über den Begriff der
Geschichte, These V)
Kein Künstler ist während der ganzen vierundzwanzig Stunden
seines täglichen Lebens ununterbrochen Künstler; alles Wesentliche,
alles Dauernde, das ihm gelingt, geschieht immer nur in den wenigen und
seltenen Augenblicken der Inspiration. So ist auch die Geschichte, in der wir
die größte Dichterin und Darstellerin aller Zeiten bewundern,
keineswegs unablässig Schöpferin. (Stefan Zweig, aus dem Vorwort der
Sternstunden)(1)
Mit diesen beiden Sätzen Stefan Zweigs, der bekannt geworden ist durch
Werke wie
Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
(1939-1941) und
Die Schachnovelle (1938-1941), leitet er die
Sternstunden ein, durch die ein besonderer Zusammenhang von Individuum
und Gattung sowie Kunst und Geschichte hergestellt wird. Basierend auf
Tagebucheinträgen, Briefwechseln, Bildnissen und historischen
Darstellungen wird die große tickende Weltuhr der Geschichte in ihrem
schier unaufhaltsamen Gang für kurze Momente angehalten, um so für
einen Augenblick in die Schaffensperiode eines Künstlers einzutauchen oder
um die Bedeutung bestimmter schicksalhafter Ereignisse für die Menschheit
besser nachempfinden, verstehen und beurteilen zu können.
Die spezifische Form der historischen Miniatur, die Stefan Zweig für seine
Erzählungen schuf, entzieht sich dem gängigen Zugriff einer
Rezension. Denn es lässt sich nicht durch abgegriffene Worte wiedergeben,
was er unsystematisch, in dieser einer seiner schöpferischsten
Schaffensperioden, niedergeschrieben hat. Jede
Sternstunde ist für
sich selbst ein eigenständiges Kunstwerk und schon der Titel verrät,
dass man beim Lesen zum Träumenden wird.
Durch jene Darstellungsform kommt den Künstlern, Revolutionären und
Abenteurern sowie den historisch einmaligen Konstellationen wahrhafte Bedeutung
zu. Indem man die Angst und Erlösung, Enttäuschung und Hoffnung der
einzelnen Menschen nachempfinden kann, werden sie so anscheinend lebendig und
gleichzeitig verewigt. Den in der Vergangenheit liegenden, winzigen und
scheinbar zu vernachlässigenden Begebenheiten wird in einer
erzählenden Weise Aufmerksamkeit zuteil, die in einer begrifflich
zusammenhängenden Geschichte nicht aufgeht, und sie so als einzelne, von
ihr heraus gelöste Momente in Erscheinung treten. Jenen wohnt ein
transzendierendes Moment inne, denn sie wollen sich nicht dem wissenschaftlich
rationalisierten Anspruch der Historiker unterordnen, Geschichte als einen in
sich geschlossenen und vor allem widerspruchsfrei funktionierenden Makrokosmos
darzustellen.
Die erzählerischen Skizzen berichten von zwielichtigen Abenteurern, die
unbarmherzig und heroisch zugleich dem überwältigenden Ruf des
Schicksals folgten; von Entdeckern und Wissenschaftlern, die gegen sich jedwede
Härte walten ließen, um der Natur die letzten Geheimnisse zu
entlocken, sie ihr abzuringen; von Persönlichkeiten, die ihres
unbändigen Willens zum Trotz in den entscheidenden Momenten mutlos waren;
von militärischen Eroberungen, die den Verlauf der
christlich-abendländischen Zivilisation so entscheidend beeinflussten,
dass für lange Zeit Grausamkeit und Verderben herrscherisch Einzug
hielten; von ganz einfachen Menschen, die in einer Nacht zum Genie wurden; von
den Genies der Komposition und Dichtung, denen ihre einschneidenden
Lebenserfahrungen zum Antrieb für ihre Kunstwerke wurden. Indem Stefan
Zweig die bedeutsamen Taten, die Menschen vollbracht und die Worte, die sie
gesprochen haben, kunstvoll skizziert, ohne dadurch deren in der Vergangenheit
liegenden, einmaligen Charakter zu zerstören, gerät man wahrlich ins
Staunen. Auf wundersame Weise wird man in die von ihm beschriebenen Personen
hineinversetzt und malt gleichzeitig von einer spezifischen Perspektive aus an
ihren Porträts mit, die er von ihnen, im Einverständnis mit der oben
in Auszügen zitierten These Walter Benjamins über die Geschichte, in
einem nur kurz aufblitzenden Augenblick erstellt. So werden die Lesenden zum
Teil ihrer unwiederbringlichen Erfahrungen und Schöpfungen.
(2)
Die historischen Miniaturen Zweigs sind der Malerei entsprungen, denn ebenso
wie der Betrachter von malerischen Kunstwerken in diesen selbst ist, da sich
sein Blick im Bild verliert, verhält es sich beim Lesen der
Sternstunden. Es werden wahre, bildlose Bilder von der Vergangenheit
festgehalten. Es entfaltet sich vor dem inneren Auge eine dynamische Bewegung
gedanklich freier Assoziationsketten, die der Starrheit jener Bilder
entgegengesetzt ist und so über sie hinausweist. So treiben jene ins
scheinlose Bild des Schönen (Adorno, Minima Moralia, De gustibus
est disputandum), in die Schönheit an sich.
Die
Sternstunden, Stefan Zweig hat sie so genannt, weil sie
leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit
überglänzen (8), ziehen den Leser unweigerlich in einen unbewussten
Bann, der seinen Ursprung hat in der tatsächlichen Bedeutungslosigkeit,
die heutzutage objektiv auf Erden waltet. Mit ihnen verbindet sich der
sehnsüchtige Wunsch, man möge aus ihr heraustreten, man möge
bedeutsam werden.
Ein Motiv, das im Buch wiederkehrt, ist der triumphale Fortschritt der
Menschheit. Immer wenn die wenigen Einzelnen, von denen berichtet wird, etwas
Großes, Überwältigendes und Unaussprechliches geschaffen haben,
wurden sie von der Geschichte mit einem besonderen Schicksal bedacht. Sie sind
qua Eingebung risikobereiter gewesen als andere, haben einen stärkeren
Willen oder die materiellen Mittel besessen, Wunder zu vollbringen. Damit aber
ein Wunder oder ein Wunderbares sich vollende, ist immer die erste
Vorbereitung der Glaube eines einzelnen an dieses Wunder. (157)
Der bürgerliche Humanist Stefan Zweig steht jenem Fortschritt zugleich
skeptisch gegenüber; zu sehr ist sein Leben von den Erfahrungen des Ersten
Weltkrieges geprägt. So nimmt die Reflexion auf den Tod einen zentralen
Stellenwert ein. Und herrlich wäre sie [die Menschheit
Anmerkung des Autors] dank ihres Sieges über Raum und Zeit nun für
alle Zeiten vereint, verwirrte sie nicht immer wieder von neuem der
verhängnisvolle Wahn, unablässig diese grandiose Einheit zu
zerstören und mit denselben Mitteln, die ihr Macht über die Elemente
geben, sich selbst zu vernichten. (176) Denn die Menschen sind unter den
heutigen Verhältnissen gezwungen, sich der Dichterin und Darstellerin der
Geschichte unterzuordnen, deren schalten und walten sie nicht zu beeinflussen
imstande sind. Das Wunder, dessen Erfüllung Stefan Zweig herbeisehnt,
würde erst dann als
die Sternstunde eintreten, wenn der Fortschritt
der Menschheit das in sich zur Barbarei drängende Moment aufhebt.
Auch wenn das göttliche Prinzip der tickenden Weltuhr als das Wesen aller
Erzählungen identifiziert werden kann, bleibt es doch ein zusammenhangslos
Verborgenes, das sich der unmittelbaren Erfahrung entzieht. Es wird kein
logischer Zusammenhang zwischen den voneinander separierten historischen
Miniaturen hergestellt. Als vereinzelte erzählen sie keine in sich
stringente Geschichte, sie bleibt als Ganzes unbestimmt, weil sie mit scheinbar
eigenem Willen begabt sich selbst still zu stellen vermag. Dadurch schmiegen
sich jene dem Nichtidentischen, dem unbegriffenen Gesetz der
omnipräsenten, göttlichen Weltgeschichte an, deren schier
unaufhaltsamer Gang in der Tat zugunsten des Menschen grundlegend geändert
werden müsste. Zu viel Elend hat sie über die Menschheit gebracht als
das ihr etwas Positives noch abgerungen werden könnte. Dies ist einer der
Gedanken, den Walter Benjamin in seinen Thesen über den Begriff der
Geschichte zum Ausdruck gebracht hat, der sich dem Scherbenhaufen, den sie
hinterlassen hat und sich vor dem Engel der Geschichte aufbäumt, gewahr
wurde. Die Kontrolle über dieses riesige Uhrwerk würde die Dialektik
zwischen Mensch und Gattung, würde die Harmonie zwischen ihm und ihr
wiederherstellen, ohne doch den der Natur entsprungenen Menschen und seine Welt
gänzlich zu entzaubern. So würde Frieden auf Erden einkehren.
(3)
Nicht zuletzt wurde die Hoffnung Stefan Zweigs auf den geschichtlichen
Fortschritt, auf die Menschheit, auf Aufklärung und Individualismus durch
sein persönliches Schicksal, wie das vieler anderer deutscher und
europäischer jüdischer Intellektueller, durch die Shoa bitter
enttäuscht. Viele von ihnen mussten aus ihren Herkunftsländern vor
den Nazis fliehen so auch der Österreicher Stefan Zweig. Ebenso wie
Walter Benjamin, der sich ein Jahr nach der Fertigstellung seiner Thesen
über den Begriff der Geschichte auf der Flucht vor den Nazis an der
französischen Grenze das Leben nahm, steht Stefan Zweig für die
unfassbare Verzweiflung der von den Nazis Getriebenen und Verfolgten. Er
beendete sein Leben im brasilianischen Exil im Jahre 1942 freiwillig. Die
vielen Stellen in den
Sternstunden der Menschheit, an denen er auf den
Tod zu sprechen kommt auf den Besitz der Seelenstärke ihm bewusst
ins Auge blicken zu können evozieren in traurigen Zügen jene
Entscheidung, die er später selbst fällte.
Seine Werke und Gedanken aber leben weiter. Damit sie unsterblich bleiben,
sollten sie nicht dem Vergessen überantwortet werden.
Chris
Anmerkungen
(1) Sternstunden der Menschheit. Fünf historische Miniaturen
erschien erstmals 1927 im Leipziger Inselverlag. Später sollten weitere
Sternstunden hinzukommen. Alle folgenden mit Seitenzahlen versehenen Zitate
sind dem Buch entnommen.
(2) An dieser Stelle möchte ich, aufgrund der philosophischen
Schwierigkeiten, die sich mit jener (introvertierten) Erfahrungsweise verbinden
nicht zuletzt bedingt durch die melancholische Grundstimmung im Werk
selbst auf die sehr lesenswerten und überaus komplexen
Beiträge von Habermas verweisen, u. a. die Essays zu Adorno und Benjamin.
(Habermas, Jürgen: Politik, Kunst, Religion. Essays über
zeitgenössische Philosophen. Reclam, Stuttgart 1978)
(3) Damit würde sich auch das Verhältnis der Menschen zu ihrer
Geschichte grundlegend wandeln. In den Worten Walter Benjamins: Erst der
erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente
zitierbar (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, These III)