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Überwältigende Geschichte(n)

Gedanken zu den „Sternstunden der Menschheit“ Stefan Zweigs

Mit diesen beiden Sätzen Stefan Zweigs, der bekannt geworden ist durch Werke wie Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers (1939-1941) und Die Schachnovelle (1938-1941), leitet er die Sternstunden ein, durch die ein besonderer Zusammenhang von Individuum und Gattung sowie Kunst und Geschichte hergestellt wird. Basierend auf Tagebucheinträgen, Briefwechseln, Bildnissen und historischen Darstellungen wird die große tickende Weltuhr der Geschichte in ihrem schier unaufhaltsamen Gang für kurze Momente angehalten, um so für einen Augenblick in die Schaffensperiode eines Künstlers einzutauchen oder um die Bedeutung bestimmter schicksalhafter Ereignisse für die Menschheit besser nachempfinden, verstehen und beurteilen zu können.

Die spezifische Form der historischen Miniatur, die Stefan Zweig für seine Erzählungen schuf, entzieht sich dem gängigen Zugriff einer Rezension. Denn es lässt sich nicht durch abgegriffene Worte wiedergeben, was er unsystematisch, in dieser einer seiner schöpferischsten Schaffensperioden, niedergeschrieben hat. Jede Sternstunde ist für sich selbst ein eigenständiges Kunstwerk und schon der Titel verrät, dass man beim Lesen zum Träumenden wird.

Durch jene Darstellungsform kommt den Künstlern, Revolutionären und Abenteurern sowie den historisch einmaligen Konstellationen wahrhafte Bedeutung zu. Indem man die Angst und Erlösung, Enttäuschung und Hoffnung der einzelnen Menschen nachempfinden kann, werden sie so anscheinend lebendig und gleichzeitig – verewigt. Den in der Vergangenheit liegenden, winzigen und scheinbar zu vernachlässigenden Begebenheiten wird in einer erzählenden Weise Aufmerksamkeit zuteil, die in einer begrifflich zusammenhängenden Geschichte nicht aufgeht, und sie so als einzelne, von ihr heraus gelöste Momente in Erscheinung treten. Jenen wohnt ein transzendierendes Moment inne, denn sie wollen sich nicht dem wissenschaftlich rationalisierten Anspruch der Historiker unterordnen, Geschichte als einen in sich geschlossenen und vor allem widerspruchsfrei funktionierenden Makrokosmos darzustellen.

Die erzählerischen Skizzen berichten von zwielichtigen Abenteurern, die unbarmherzig und heroisch zugleich dem überwältigenden Ruf des Schicksals folgten; von Entdeckern und Wissenschaftlern, die gegen sich jedwede Härte walten ließen, um der Natur die letzten Geheimnisse zu entlocken, sie ihr abzuringen; von Persönlichkeiten, die ihres unbändigen Willens zum Trotz in den entscheidenden Momenten mutlos waren; von militärischen Eroberungen, die den Verlauf der christlich-abendländischen Zivilisation so entscheidend beeinflussten, dass für lange Zeit Grausamkeit und Verderben herrscherisch Einzug hielten; von ganz einfachen Menschen, die in einer Nacht zum Genie wurden; von den Genies der Komposition und Dichtung, denen ihre einschneidenden Lebenserfahrungen zum Antrieb für ihre Kunstwerke wurden. Indem Stefan Zweig die bedeutsamen Taten, die Menschen vollbracht und die Worte, die sie gesprochen haben, kunstvoll skizziert, ohne dadurch deren in der Vergangenheit liegenden, einmaligen Charakter zu zerstören, gerät man wahrlich ins Staunen. Auf wundersame Weise wird man in die von ihm beschriebenen Personen hineinversetzt und malt gleichzeitig von einer spezifischen Perspektive aus an ihren Porträts mit, die er von ihnen, im Einverständnis mit der oben in Auszügen zitierten These Walter Benjamins über die Geschichte, in einem nur kurz aufblitzenden Augenblick erstellt. So werden die Lesenden zum Teil ihrer unwiederbringlichen Erfahrungen und Schöpfungen.(2)

Die historischen Miniaturen Zweigs sind der Malerei entsprungen, denn ebenso wie der Betrachter von malerischen Kunstwerken in diesen selbst ist, da sich sein Blick im Bild verliert, verhält es sich beim Lesen der Sternstunden. Es werden wahre, bildlose Bilder von der Vergangenheit festgehalten. Es entfaltet sich vor dem inneren Auge eine dynamische Bewegung gedanklich freier Assoziationsketten, die der Starrheit jener Bilder entgegengesetzt ist und so über sie hinausweist. So treiben jene ins „scheinlose Bild des Schönen“ (Adorno, Minima Moralia, De gustibus est disputandum), in die Schönheit an sich.

Die Sternstunden, Stefan Zweig hat sie so genannt, „weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen“ (8), ziehen den Leser unweigerlich in einen unbewussten Bann, der seinen Ursprung hat in der tatsächlichen Bedeutungslosigkeit, die heutzutage objektiv auf Erden waltet. Mit ihnen verbindet sich der sehnsüchtige Wunsch, man möge aus ihr heraustreten, man möge bedeutsam werden.

Ein Motiv, das im Buch wiederkehrt, ist der triumphale Fortschritt der Menschheit. Immer wenn die wenigen Einzelnen, von denen berichtet wird, etwas Großes, Überwältigendes und Unaussprechliches geschaffen haben, wurden sie von der Geschichte mit einem besonderen Schicksal bedacht. Sie sind qua Eingebung risikobereiter gewesen als andere, haben einen stärkeren Willen oder die materiellen Mittel besessen, Wunder zu vollbringen. Damit aber „ein Wunder oder ein Wunderbares sich vollende, ist immer die erste Vorbereitung der Glaube eines einzelnen an dieses Wunder.“ (157)

Der bürgerliche Humanist Stefan Zweig steht jenem Fortschritt zugleich skeptisch gegenüber; zu sehr ist sein Leben von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges geprägt. So nimmt die Reflexion auf den Tod einen zentralen Stellenwert ein. „Und herrlich wäre sie [die Menschheit – Anmerkung des Autors] dank ihres Sieges über Raum und Zeit nun für alle Zeiten vereint, verwirrte sie nicht immer wieder von neuem der verhängnisvolle Wahn, unablässig diese grandiose Einheit zu zerstören und mit denselben Mitteln, die ihr Macht über die Elemente geben, sich selbst zu vernichten.“ (176) Denn die Menschen sind unter den heutigen Verhältnissen gezwungen, sich der Dichterin und Darstellerin der Geschichte unterzuordnen, deren schalten und walten sie nicht zu beeinflussen imstande sind. Das Wunder, dessen Erfüllung Stefan Zweig herbeisehnt, würde erst dann als die Sternstunde eintreten, wenn der Fortschritt der Menschheit das in sich zur Barbarei drängende Moment aufhebt.

Auch wenn das göttliche Prinzip der tickenden Weltuhr als das Wesen aller Erzählungen identifiziert werden kann, bleibt es doch ein zusammenhangslos Verborgenes, das sich der unmittelbaren Erfahrung entzieht. Es wird kein logischer Zusammenhang zwischen den voneinander separierten historischen Miniaturen hergestellt. Als vereinzelte erzählen sie keine in sich stringente Geschichte, sie bleibt als Ganzes unbestimmt, weil sie mit scheinbar eigenem Willen begabt sich selbst still zu stellen vermag. Dadurch schmiegen sich jene dem Nichtidentischen, dem unbegriffenen Gesetz der omnipräsenten, göttlichen Weltgeschichte an, deren schier unaufhaltsamer Gang in der Tat zugunsten des Menschen grundlegend geändert werden müsste. Zu viel Elend hat sie über die Menschheit gebracht als das ihr etwas Positives noch abgerungen werden könnte. Dies ist einer der Gedanken, den Walter Benjamin in seinen Thesen über den Begriff der Geschichte zum Ausdruck gebracht hat, der sich dem Scherbenhaufen, den sie hinterlassen hat und sich vor dem Engel der Geschichte aufbäumt, gewahr wurde. Die Kontrolle über dieses riesige Uhrwerk würde die Dialektik zwischen Mensch und Gattung, würde die Harmonie zwischen ihm und ihr wiederherstellen, ohne doch den der Natur entsprungenen Menschen und seine Welt gänzlich zu entzaubern. So würde Frieden auf Erden einkehren.(3)

Nicht zuletzt wurde die Hoffnung Stefan Zweigs auf den geschichtlichen Fortschritt, auf die Menschheit, auf Aufklärung und Individualismus durch sein persönliches Schicksal, wie das vieler anderer deutscher und europäischer jüdischer Intellektueller, durch die Shoa bitter enttäuscht. Viele von ihnen mussten aus ihren Herkunftsländern vor den Nazis fliehen – so auch der Österreicher Stefan Zweig. Ebenso wie Walter Benjamin, der sich ein Jahr nach der Fertigstellung seiner Thesen über den Begriff der Geschichte auf der Flucht vor den Nazis an der französischen Grenze das Leben nahm, steht Stefan Zweig für die unfassbare Verzweiflung der von den Nazis Getriebenen und Verfolgten. Er beendete sein Leben im brasilianischen Exil im Jahre 1942 freiwillig. Die vielen Stellen in den Sternstunden der Menschheit, an denen er auf den Tod zu sprechen kommt – auf den Besitz der Seelenstärke ihm bewusst ins Auge blicken zu können – evozieren in traurigen Zügen jene Entscheidung, die er später selbst fällte.

Seine Werke und Gedanken aber leben weiter. Damit sie unsterblich bleiben, sollten sie nicht dem Vergessen überantwortet werden.

Chris

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Anmerkungen

(1) „Sternstunden der Menschheit. Fünf historische Miniaturen“ erschien erstmals 1927 im Leipziger Inselverlag. Später sollten weitere Sternstunden hinzukommen. Alle folgenden mit Seitenzahlen versehenen Zitate sind dem Buch entnommen.

(2) An dieser Stelle möchte ich, aufgrund der philosophischen Schwierigkeiten, die sich mit jener (introvertierten) Erfahrungsweise verbinden – nicht zuletzt bedingt durch die melancholische Grundstimmung im Werk selbst – auf die sehr lesenswerten und überaus komplexen Beiträge von Habermas verweisen, u. a. die Essays zu Adorno und Benjamin. (Habermas, Jürgen: Politik, Kunst, Religion. Essays über zeitgenössische Philosophen. Reclam, Stuttgart 1978)

(3) Damit würde sich auch das Verhältnis der Menschen zu ihrer Geschichte grundlegend wandeln. In den Worten Walter Benjamins: Erst „der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar“ (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, These III)

21.12.2009
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