Über den Pfad der Tugend und sein Ergebnis
Der Film Das weiße Band Eine deutsche Kindergeschichte
Am 28. Juli erklärte Österreich den Krieg an Serbien. Am Samstag dem
1. August erfolgte die Deutsche Kriegserklärung an Russland, am darauf
folgenden Montag an Frankreich. Zum festlichen Gottesdienst am folgenden
Sonntag kam das ganze Dorf, eine Stimmung von Erwartung und Aufbruch lag in der
Luft. Alles würde nun anders werden. [
] Ich wurde am Beginn des
dritten Kriegsjahres eingezogen. Nach Kriegsende verkaufte ich das von meinem
inzwischen verstorbenen Vater geerbte Haus in Vasendorf und eröffnete mit
diesem Geld eine Schneiderwerkstätte in der Stadt. Ich habe niemand aus
diesem Dorf jemals wieder gesehen
[Epilog des Erzählers und Dorflehrers von Eichwald]
Psychogramm eines Dorfes
Es ist der Vorabend des 1. Weltkrieges, der den zeitlichen und
gesellschaftlichen Rahmen für den Film Das weiße Band
absteckt. Der Handlungsplatz, das fiktive und zugleich doch so reelle Dorf
Eichwald, liegt irgendwo im von Kornfeldern und Birkenwäldern gezeichneten
norddeutschen Flachland. Die typisch pommerschen Backsteinhäuser, deren
rote Farbe durch den Schwarz-Weiß-Charakter des Films nur zu erahnen ist,
kennzeichnen das Dorf, in dessen Mitte die Kirche steht räumlich
wie auch gesellschaftlich. Ergänzt wird die Dorfstruktur durch das etwas
abseits gelegene Adelsgut, dessen Gutsherr der politische und wirtschaftliche
Protektor der ganzen Gemeinde ist. Baron und Pfarrer bestimmen das
gesellschaftliche Klima des Dorfes wie selbstverständlich. Seinen Ausdruck
erfährt dieses Klima in Autoritarismus, häuslicher Gewalt,
protestantischer Disziplin und der starken Hand des Vaters, welche die Kinder
des Dorfes sowohl psychisch als auch körperlich zu spüren bekommen.
Besonders der Pfarrer wird in seiner Rolle als Familien- und Kirchenoberhaupt
zur Exekutive einer
gottgewollten Moral von Sitte, Anstand und Reinheit.
Als die Pfarrerskinder eines abends verspätet zu Hause eintreffen, sieht
er sich durch den Auftrag Gottes zu drakonischen Strafen gezwungen und wendet
sich mit folgenden Worten an seine Kinder:
Eure Mutter und ich werden
heute eine schlechte Nacht haben, weil wir wissen, dass ich euch morgen weh tun
muss und weil uns das mehr schmerzen wird als euch die Schläge. Um
diesen Schlägen mehr Kraft zu verleihen und die Demütigung der Kinder
auch nachdrücklich wirken zu lassen, erinnert der Vater die Kinder an das
weiße Band, welches ihnen die Mutter früher ins Haar geknüpft
hat und das sie auf dem Pfad der Tugend halten sollte. Der Vater beendet die
angespannte Atmosphäre:
Morgen sobald ihr durch die
Züchtigung gereinigt sein werdet, wird eure Mutter euch erneut dieses Band
umbinden und ihr werdet es tragen bis wir durch euer Verhalten erneut
Vertrauen gewinnen in euch. Die geschilderte Schlüsselszene des Films
ist lediglich eine von vielen Situationen, aus denen hervorgeht wie brutale
körperliche Gewalt und psychische Demütigung im wilhelminischen
Deutschland als Mittel der Erziehung genutzt wurden. Opfer sind mal die Kinder,
mal ist es die Frau. Gepaart mit den künstlerischen Mitteln des Films
Schwarz-Weiß-Charakter, lange Standbilder, Dunkelheit, fehlende
Filmmusik ergeben die Bilder aus dem Inneren der Dorfamilien
allen voran der Pfarrersfamilie eine düstere Gesamtstimmung.
Nach und nach gehen im Dorf mysteriöse Dinge vor sich. Der Dorfdoktor muss
nach einem ungeklärten Reitunfall ins Krankenhaus, der Sohn der
Adelsfamilie wird misshandelt, die große Getreidescheune des Adelsgut
geht in Flammen auf und das behinderte Kind der Hebamme wird beinahe bis zur
Bewusstlosigkeit malträtiert. Alle Taten bleiben mangels auszumachender
TäterInnen ungesühnt. Bäuerliches Misstrauen macht sich unter
der Dorfbevölkerung breit und führt zu Verdächtigungen und
Denunziationsversuchen untereinander. Das unwohnliche Dorf wird so noch
düsterer als es die gesellschaftlichen Umstände ohnehin schon
machen.
Dem autoritären und gewaltvollen Charakter der Dorfgemeinschaft stehen die
Person des Dorflehrers und seine Liebe zum Kindermädchen der Adelsfamilie
gegenüber. Der junge und allein stehende Dorflehrer, welcher zugleich die
temporär auftretende Rolle des retrospektiven Erzählers
übernimmt, ist freundlich, aufgeschlossen, umgänglich und
musikalisch. Sein Haar trägt er etwas länger und seinen Anzug auch
eher locker. Im Gegensatz zu den anderen Protagonisten der Dorfgemeinschaft ist
seine Art der Kommunikation eher durch Vernunft und das Wort geprägt. Er
steht im Film für Bildung, Empathievermögen und schlussendlich wohl
für Humanismus zumindest im Ansatz. Um den Lehrer in seiner
Position als Gegengewicht zur düsteren Dorfgemeinschaft nicht
gänzlich allein zu lassen, stellt das Drehbuch ihm die Baronin zur Seite.
Obwohl beide nichts miteinander zu tun haben, eint sie doch die offene Art und
die Liebe zur Musik. Die Baronin beherrscht die Tasten des Klaviers
ausgezeichnet, ihren Sohn lässt sie in Italienisch unterrichten und als
sich die Situation im Dorf zuspitzt, verlässt sie längst
überfällig den grauenhaften Ort und damit auch ihren Mann, den
Gutsherren, in Richtung italiensche Mittelmeerküste.
Lichtblick bleibt die arg verklemmte, aber behutsame Liebesgeschichte zwischen
dem Dorflehrer und der erst 17jährigen Eva. Es ist die Sensibilität
des Lehrers, die ihm nicht nur in der Beziehung zu Eva auszeichnet, sondern
auch dazu bringt, die mysteriösen Unglücksfälle des
Dorfes zu enträtseln. Was dem Zuschauer und der Zuschauerin schon
länger auffällt, wird nun auch dem Lehrer klar. Als der Doktor seinen
Unfall hatte, waren die Kinder plötzlich in seinem Garten, als der Sohn
der Adelsfamilie misshandelt wurde, ward er zuletzt mit den Kindern gesehen und
auch sonst ist das kollektive Verhalten der Kinder, deren Anführerin die
Pfarrerstochter ist, äußerst seltsam. Der Vermutung des Lehrers
schenkt im Dorf allerdings niemand Glauben. Der Film endet mit dem Eintreten
des 1. Weltkrieges und mit dem eingangs zitierten Epilog des Erzählers.
Die Kinder bleiben Kinder und die Unbekannten bleiben unbekannt.
Es mag überspitzt formuliert klingen, aber zum Teil deckt sich das
exemplarische Dorf Eichwald aus dem Jahr 1913 in seinen gesellschaftlichen
Grundelementen mit heute existierenden Dorfstrukturen.
(1) Damit sind weniger die
geistigen und materiellen Abhängigkeiten der DorfberwohnerInnen von Kirche
und Adel gemeint, sondern die stark ausgeprägte Bereitschaft zu
gegenseitiger Denunziation, die auf wenige Personen oder Familien fixierte
Dorfhierarchie und das Fehlen von Anonymität. Besonders das Fehlen von
Anonymität wird natürlich nur den Personen zum Verhängnis, die
im Sinne der Dorfgemeinschaft nicht zu ihr passen. Dass im Film nicht die
Tochter des Bauern oder des Pfarrers gequält wird, sondern das
körperlich benachteiligte Kind der Hebamme und der materiell besser
ausgestattete Sohn der Adelsfamilie ist auf die Abwehr des Fremden bzw. des
Anderen und auf Neid zurückzuführen. Ein Vorgehen, welches sich heute
sicher nicht mehr in körperlicher Gewalt niederschlägt, dafür
aber in getuschelten Worten in der Dorfkneipe, in Blicken an der Bushaltestelle
und in Gesprächen über den Gartenzaun, die alle ebenso brutal sein
können wie physische Gewalt.
Eichwald liegt irgendwo in Europa
Im Mai erhielt der österreichische Regisseur Michael Haneke auf den
Filmfestspielen von Cannes die Goldene Palme für Das weiße
Band. Schenkt man den Feuilletons und Cineasten Glauben, so stehen seine
Chancen bei der Oscarverleihung 2010 den Auslands-Oscar einzuheimsen wohl auch
nicht all zu schlecht. Der Film gehört zu den meist diskutierten
deutschsprachigen Produktionen des Jahres, dies sicherlich auch wegen seiner
gesellschaftspolitischen Botschaft. Die Welt beispielsweise betitelte
ihre Leitrezension zum Film mit Die schmerzhafte Kinderstube der
Nazi-Generation
(2) und trifft damit die Botschaft des Regisseurs recht gut,
könnte man zumindest meinen. Schließlich lässt der Regisseur
über den Erzähler des Films im Prolog mitteilen:
Ich
weiß nicht, ob die Geschichte, die ich ihnen erzählen will, in allen
Details der Wahrheit entspricht. [
] Aber dennoch glaube ich, dass ich die
seltsamen Ereignisse, die sich in unserem Dorf zugetragen haben erzählen
muss, weil sie möglicherweise auf manche Vorgänge in diesem Land ein
erhellendes Licht werfen können und meint damit die
nationalsozialistischen Verbrechen und deren gesellschaftliches Fundament. Ist
Das Weiße Band also ein Ansatz den Nationalsozialismus und seine
tragende Generation durch die wilhelminische Erziehung, häusliche Gewalt,
Disziplin und Neid und durch autoritäre Familienstrukturen zu
erklären? Man könnte es vermuten, liegt aber nur teilweise richtig,
betrachtet man die Äußerungen Michael Hanekes zur Entstehung des
Films. Im Interview mit der TAZ spricht Haneke über das Böse
in jedem Menschen auch in Kindern: In jedem Menschen ist alles
angelegt, es hängt von den Umständen ab, was sich daraus entwickeln
kann.
(3) Zwei wesentliche Punkte, die Haneke mit seinem Film offensichtlich
ansprechen will, werden deutlich. Zum einen, das zeigt der Film auf gelungene
Art und Weise, können auch Kinder gewalttätig und brutal sein und die
Projektion von Unschuld in Kindlichkeit ist mehr als naiv, was einer Anlehnung
an Freud gleichkommt und weniger in Frage zu stellen ist. Zum anderen sei in
allen Menschen alles angelegt und die Umstände entscheiden
über Ausbruch oder Unterdrückung von positiven und negativen
Charakterzügen eines jeden. Die Aussage ist klar und deutlich:
Nazi-Deutschland entstand nicht 1933, 1929 oder mit dem Ende des 1. WK und der
Schmach von Versailles nein der Faschismus ist schon im
wilhelminischen Deutschland und besonders in dessen brutaler autoritärer
Pädagogik zu suchen und auszumachen. Aber zielt der Film in seiner
spielerischen Analyse überhaupt darauf ab, den Faschismus auch als
Ergebnis der gesellschaftlichen Umstände des Kaiserreichs zu betrachten?
Ist das die Hauptaussage der Geschichte von Eichwald und seinen BewohnerInnen?
Dazu der Regisseur: Das Beispiel des deutschen Faschismus ist
natürlich das Naheliegendste, aber in dem Film geht es letztendlich darum,
zu zeigen, unter welchen Bedingungen der Mensch bereit wird, Ideologien zu
folgen. Und das ist er immer dort, wo es Unbehagen, Hoffnungslosigkeit und
Verzweiflung gibt. Da greift jeder den erstbesten Strohhalm, der ihm gereicht
wird.
(4) Die Entstehung des deutschen Faschismus steht im Film nach Hanekes
Selbstinterpretation also als Beispiel für die universelle Fehlbarkeit der
Menschen, in denen immer alles angelegt ist und nur die
Umstände über die Ausprägung der Individuen entscheiden.
Damit wird Michael Haneke zum Protagonisten der aktuellen europäischen
Geschichtsdeutung, in der die Spezifik und die Einzigartigkeit des deutschen
Faschismus nach und nach verloren gehen und zu Gunsten einer universalistischen
Deutung menschlicher Fehltritte weichen. Und noch etwas bleibt als fader
Beigeschmack zum an sich sehr guten Film: Die Metapher von Unbehagen,
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung und vom erstbesten Strohalm kommt
bekannt vor und ähnelt der des Demagogen und Verführers, dem
sich die Massen in ihrer aussichtslosen Situation anschließen, doch
sehr.
Hätte Michael Haneke doch besser seine Klappe gehalten und von mir aus
auch den Oscar abgegrast. Meine Empfehlung: Film unbedingt ansehen, Interviews
mit dem Regisseur besser nicht!
BrunoAnmerkungen
(1) Bezogen auf die gesellschaftliche Grundstruktur heutiger Döfer,
nicht auf den Grad der Brutalität und das Auftreten dieser Strukturen.
(2) Die schmerzhafte Kinderstube der Nazi-Generation, Rezension über
Das weiß Band, Die Welt 15.10.2009
(3) Liebe ist zu wenig, Interview mit Michael Haneke, TAZ 10.10.2009
(4) ebd.