Den Deutschen ins Stammbuch geschrieben...
Zum Werk Gisela Elsners und einem jüngst wiederveröffentlichten Roman
Christine Künzel (Hrsg.): Die letzte Kommunistin. Texte zu Gisela Elsner. Hamburg: KVV Konkret, 2009.
Gisela Elsner: Fliegeralarm. Herausgegeben und am Manuskript letzter Hand überprüft von Christine Künzel. Mit einem Nachwort von Kai Köhler. Berlin: Verbrecher Verlag, 2009.
vielleicht gibt es wahrheit doch. ich glaube ja nicht an wahrheit, aber
was wahrheit ist, merke ich immer, wenn ich böll lese. alle sind so nett
bei ihm. der berufsverbotene lehrer ist nett, die terroristin ist nett, der
industrielle ist nett, man kriegt lust, auf ein dorf zu ziehen. aber böll
ist nicht die wahrheit. die wahrheit, das sind elsner und jelinek.
Ronald M. Schernikau
I.
Im September 2003 besuchte ich eine Freundin in Hamburg und mit ihr eine Lesung
im Rahmen des Ladyfestes`. Gegeben wurde ein Ausschnitt aus Die
Zähmung Chronik einer Ehe, verfasst von einer gewissen Gisela
Elsner. Vorgetragen wurde die Gesellschaftssatire, in der eine
karriereversessene Powerfrau ihren erfolglos schriftstellernden Ehemann an
Kind, Heim und Herd fesselt`, um zunächst als Filmemacherin, dann
gar selbst als Autorin Erfolge zu feiern, vom vollbärtigen Jörg
Sundermeier, der für seine über die Jahre etwas Moos ansetzende
Jungle World-Kolumne Der letzte linke Student` bekannt sein dürfte.
Viel wichtiger aber ist, dass er 1995 noch mehr im Scherz mit
einem Freund den Verbrecher-Verlag gründete, zunächst einen Roman des
mittlerweile bei Suhrkamp und im Feuilleton zu Ehren gekommenen Dietmar Dath
herausbrachte, den Verlag anschließend mehrere Jahre auf Eis legte,
schließlich wiederbelebte und mittlerweile zu einem imposanten Imperium
für Literatur, politische Essayistik und mehr gemacht hat. 2002 begann der
Verlag, Elsners Romane geschrieben v.a. in den Siebziger und Achtziger
Jahren (und Anfang der Neunziger nach eigener Aussage von ihrem damaligen
Verlag Rowohlt totalverramscht`) neu herauszugeben. Die Lesung in
der Ex-Punk-Kneipe Marktstube verfehlte ihre Wirkung nicht. Die wie mit dem
Seziermesser auseinander gelegte Tristesse der in Beziehungslosigkeit
versinkenden Partnerschaft eines kleinbürgerlichen Pärchens im
Zeitalter des rheinischen Kapitalismus überzeugte. Fortan bemühte ich
mich, die Bücher mit den bitterbösen Schilderungen der BRD 1945ff. in
Antiquariaten und auf Ebay-Auktionen zu ergattern, um sie anschließend zu
verschlingen. Der Verbrecher-Verlag steuerte in der Folgezeit noch die bis dato
unveröffentlichten Bände Heilig Blut und Otto der
Großaktionär bei. Und so gelang es Gisela Elsner, mich in
regelmäßigen Abständen mit ihrer eindringlichen und weder
Widergedanken noch -rede erlaubenden Schachtelsatzprosa davon zu
überzeugen, dass das Leben und die Welt im allgemeinen und das Dasein in
der bundesdeutschen Wirtschaftswunderlandschaft im speziellen trostlos,
schlecht und kaum auszuhalten war und ist.
Blieb die Qualität ihres Schreibens dem zeitgenössischen Literatur-
und Kulturbetrieb aus (sexual)politischen Gründen weitgehend verborgen
und dass, obwohl oder auch gerade weil sie schon 1964 für ihren
ersten Roman Die Riesenzwerge einen angesehenen Verlegerpreis verliehen
bekam bemühen sich neben dem Verbrecher Verlag einige verwegene
LiteraturwissenschaftlerInnen derzeit, das Werk Gisela Elsners wieder
zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck fand vor zwei Jahren ein Symposium
in München statt. Einige der dort gehaltenen Vorträge versammelt nun
ein in der Reihe konkret texte veröffentlichter Band unter dem Titel
Die letzte Kommunistin. Texte zu Gisela Elsner. Neben textnahen oder
auch vergleichenden Interpretationen zu einzelnen Aspekten ihrer Romane und
Erzälungen, finden sich Beiträge zur Rezeption Elsners in ihrer Zeit,
ihrem Verhältnis zu BRD und DDR und ihren politischen Abhandlungen.
Schließlich erweist Elfriede Jelinek, mit der Elsner nicht nur von Ronald
M. Schernikau gern in einem Atemzug genannt wurde und wird, in einem Essay der
Autorin ihre Reverenz.
Die Herausgeberin Christine Künzel, sie arbeitet derzeit an einer
Elsner-Biographie, eröffnet den Band mit einem Durchgang durch Leben, Werk
und die Widerstände, auf die beides stieß. Nicht nur kämpfte
Elsner lange gegen ihre großbürgerliche Herkunft aus der Familie
eines Siemens-Managers, gegen die muffigen deutschen (Nachkriegs)Zustände
weswegen sie zeitweilig in Rom und London lebte, und gegen die starren
Rollenzuschreibungen des Literaturbetriebs (so wurde sie z.B. in der Gruppe 47
v.a. als die hübsche Freundin ihres damaligen Mannes Klaus Roehler
und nicht als Autorin wahrgenommen). Sie führte auch einen inneren
Kampf, worüber neben den Werken selbst zum Beispiel ihre lange Zigaretten-
und Medikamentabhängigkeit Auskunft gibt und der sich nicht zuletzt im
Briefwechsel mit Klaus Roehler (Wespen im Schnee 99 Briefe und ein
Tagebuch) und in dem Film Die Unberührbare (Regie führte ihr
Sohn Oskar Roehler) dokumentiert findet. Folge davon war ihr
unerbittlicher ethnographischer Blick und der große Hass, mit dem sie die
Rituale des Klein- und Großbürgertums betrachtete (8). Gegen diese
Art des Schreibens wendete sich die Literaturkritik fast unisono: die Satire
galt als männliche Domäne, Elsners Vivisektionen der
bürgerlichen Gesellschaft wurden mit Bezug auf ihr Geschlecht
trivialisiert (10) und noch nach ihrem Tod sie nahm sich 1992 durch
einen Sprung aus einem Krankenhauszimmer das Leben wurde ihr Werk
gnadenlos verrissen. (17) Werner Preuß arbeitet in seinem Text heraus,
dass diese ablehnende Haltung sich v.a. gegen die konkrete
Gesellschaftskritik (32) in Elsners Büchern richtete. Künzel
schließt ihre Einleitung mit der Hoffnung, der Band werde dazu beitragen,
das Schaffen der Autorin vor dem Hintergrund aktueller literatur- und
kulturwissenschaftlicher Debatten neu zu verorten und politische Motive [...]
differenzierter zu untersuchen (20). Dies zu ermöglichen sind weitere
Publikationen (auch bisher unveröffentlichen Materials) im
Verbrecher-Verlag geplant, die mittlerweile auch vom Deutschen
Literaturfond e.V. Darmstadt` gefördert werden.
Der Text Elfriede Jelineks nimmt zwei (nicht nur) gegen Elsner in Anschlag
gebrachte Abwertungsstrategien in den Blick: Ablehnung und Entwertung der
schriftstellerisch tätigen Frau und der Kritik an traditionellen
Machtverhältnissen. Sie zeigt aber auch, dass die Mittel der Herabsetzung
oftmals ihr Ziel aus eigener Borniertheit verfehlten: Man hat Gisela
Elsner öfter vorgeworfen, dass man sich mit ihren Helden nicht
identifizieren könne, dabei lehnte sie diese Identifikation doch
ausdrücklich ab (25).
Neben der Herausgeberin selbst gehen Evelyne Polt-Heinzl, Bernhard Jahn und
Carsten Mindt genauer auf die Konstruktion ihrer Romane ein. So wird die
zentrale Elsnersche Methode der Wiederholung (sowohl innerhalb eines Buches,
als auch was bestimmte Motive anbelangt über das Werk
hinweg) als Versuch aufgezeigt, die triste Kleinbürgeridylle samt der ihr
immanenten Gewaltverhältnisse darstellbar zu machen und überspitzt ad
absurdum zu führen. Elsner beschreibt in ihrem Debütroman
quälend ausführlich das sich tagtäglich wiederholende
Abreißen eines Knopfes vom Hemd des Vaters des Ich-Erzählers und das
darauf folgende Ritual: Die Ehefrau versucht, während der Hausherr
fluchend und sich für den Schuldienst vorbereitend durch die Wohnung
wirbelt, den Knopf anzunähen, scheitert aber schon am Einfädeln des
Fadens, woraufhin ihr Mann sie mit Spott überzieht und auf die Nachbarin
zurückgreift', um diese nach getaner Näharbeit über den
grünen Klee zu loben. Die Familie als Keim- und Schutzzelle privater
Gewaltverhältnisse! Und auch in dem weiter unten zu besprechenden Roman
Fliegeralarm spielt eine u.a. mit Knöpfen gefüllte
Nähkiste als Symbol femininer Rollenzuweisungen wiederholt eine Rolle:
Hier ist es aber der Hausmann', der sich bei jedem Bombenangriff des
Nähkästchens bemächtigt, um es regelmäßig auf dem Weg
in den Luftschutzkeller fallen zu lassen und den Inhalt anschließend,
sich mühsam und angstpanisch auf dem Boden windend, akkurat wieder
einzusortieren.
Zu den restaurativen Verhältnissen in der Nachkriegs-BRD trug nicht
unerheblich die Kirche und ihre Vertreter bei, die einerseits trotz
allwöchentlicher Dauerreflexion von der Kanzel herab die Vergangenheit
beschweigen halfen und andererseits in den Erziehungs- und
Disziplinierungsmethoden ungebrochen an altdeutsche Traditionen
anknüpften. Als Schülerin eines katholischen Mädcheninternats
kannte Gisela Elsner diese Techniken aus eigener Erfahrung. Den Roman
Heilig Blut konzipiert Elsner wohl nicht zuletzt deshalb in Form einer
Passionsgeschichte, die aber, anders als die christliche, mit dem völlig
sinnlosen Opfer des Protagonisten endet: Er wird von einer Gruppe Alt-Nazis,
die ihn zuvor schon verbal als Versager und Schwächling brandmarkten, bei
der Wolfsjagd aus Versehen erschossen und im Wald verscharrt. Gleichzeitig
markiert die Handlung in dieser Weise, so Christine Künzel, die
Restauration des Väterregimes nationalsozialistischer Prägung
(87), wie sie in der frühen BRD der aufmerksamen Beobachterin Gisela
Elsner auf Schritt und Tritt begegnete.
Den m.E. interessantesten Beitrag liefert der mit Elsner befreundete ehemalige
Lektor des DDR-Verlags Volk und Welt` Chris Hirte. Er untersucht das
durchaus ambivalente Verhältnis der letzten Kommunistin zum
einzigen Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden. Anders als Ronald M.
Schernikau (auf dessen im letzten Jahr erschienene Biographie von Matthias
Frings ja der Buchtitel anspielt), der kurz vorm Mauerfall 1989 noch in die DDR
übersiedelte, war es für Gisela Elsner nie eine Option, sich ganz dem
Realsozialismus hinzugeben. Zwar trat sie 1990 aus Protest gegen die
Wiederverschweinigung (so Elsner in einem Text zur Wende, der in der
Novemberausgabe von konkret dokumentiert ist) wiederholt der DKP bei, nachdem
sie diese 1989 nach langjähriger Mitgliedschaft verlassen hatte, doch ihr
Verhältnis zum drübigen Volk (ebd.) war mehrfach gebrochen.
Diese Ambivalenz fängt Hirte in seinem mehr erzählerischen denn
literaturwissenschaftlichen Essay ein. So habe Elsners Werk, das zwischen
Groteske und Satire changierte, auch nicht unbedingt in den sozialistischen
Kanon gepasst, der nicht-realistischer Literatur skeptisch gegenüber
stand. Dass doch drei Romane bei Volk und Welt` erschienen,
[d]ahinter stand keine einhellige Begeisterung, sondern ein ganzes
Bündel von Motiven, die Ausdruck einer zwiespältigen und auch
routinehaften Sicht auf die Autorin waren (105). Daher attestiert er der
Wirkung ihrer Romane denn auch einen Hang zur Unterwanderung (109) des
Realsozialismus auch wenn sich dies natürlich nicht beweisen
lässt. Aber auch das konkrete Verhältnis zur DDR als
kommunistische Wunschprojektion (110) war widersprüchlich. So
meinte Elsner 1986 anlässlich einer Lesereise nach Leipzig, Dresden und
Berlin in einem Publikumsgespräch: Ich lasse mir aber die DDR nicht
miesmachen (110). Gleichzeitig habe sie angesichts fehlenden Toilettenpapiers
in einem Restaurant wutschnaubend geurteilt, in einem solchen Saustall
könne man es ja keinen Tag aushalten (110). Tatsächlich scheiterte
1990 ihre Umsiedlung nach Ostberlin schon nach drei Tagen die
Wendetristesse, der fanatische Bananismus des Ossis (so in konkret)
machte ihr ebenso zu schaffen wie der graue Westalltag. Auch wenn Elsner
offensichtlich keine originär undogmatische Linke war das stellt
auch Tjark Kunstreich in seinem Artikel fest (119); Hirte spricht von
leninistische[m] Jakobinertum (111) und der Zusammenbruch des
Realsozialismus sie selbst in eine wirtschaftliche Notlage brachte: In einem
Brief an Hirte betonte sie, dass das Scheitern der DDR noch nicht den Beweis
der Unmöglichkeit der Verwirklichung des Kommunismus erbracht habe
(113).
Kunstreich verweist in seinem Versuch über Gisela Elsners
Kommunimsus auf eine Stellungnahme der Autorin aus dem Jahr 1990.
Die aktuelle Niederlage weise seinen künftigen FreundInnen immerhin
den Weg, der nicht zu beschreiten sei, heißt es dort, ansonsten sei dem
Kommunismus nur um so todesverächtlicher (126) zuzustreben.
Aber noch ist uns die Hoffnung trotz unserer höchst hoffnungslosen
Lage nicht abhanden gekommen. (126) Schon Preuß hatte auf eine Art
Bilderverbot in Elsners Werk hingewiesen (41); und auch Kunstreich macht
deutlich, dass es nicht Utopie, sondern Hass ist, der Gisela Elsner zum
Schreiben bewegt, Haß auf die Verhältnisse im Kapitalismus und
jene, die sie tagtäglich reproduzieren (118). Ihr Werk ähnele in
diesem Zug zur Ideologiekritik dem der Kritischen Theorie (119). Von dieser
Ähnlichkeit ausgehend sucht Kunstreich die Erklärung für Elsners
strikten Anti-Realismus: so untersuchte Elsner in einem Essay Autoren des
bürgerlichen Realismus und wies z.B. Fontane nach, dass er an seinem
eigenen Realismusanspruch scheiterte, als er die wahre Geschichte der Effi
Briest nur unvollständig im Roman wiedergab (124f.). Statt also wie
Fontane mittels noch dazu geschönter Darstellung die
bürgerlichen Verhältnisse zu verdoppeln, setzte Gisela Elsner auf
Bloßstellung durch Verfremdung.
II.
So zum Beispiel im letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Roman
Fliegeralarm. Dieser wurde Mitte des Jahres im Verbrecher-Verlag
wiederveröffentlicht, was angesichts des nicht statt gefundenen oder
verhunzten Lektorats der Originalausgabe (Zsolnay Verlag, 1989) auch dringend
Not tat.
Erzählt wird von den Abenteuern einer Gruppe Vorschulkinder in der
Zeit der Bombardierung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg. Weit
entfernt vom Wehklagen über den alliierten Terror, wie es in den
Debatten um Jörg Friedrichs Der Brand und den Neuen Deutschen
Opferdiskurs (Samuel Salzborn) nach der Jahrtausendwende angestimmt wurde,
begreifen die Kinder die Bomben als Geschenke aus dem Himmel (6). Die
elterliche Aufregung angesichts nächtlicher Alarmsirenen und Hastens in
den Luftschutzkeller können die Kinder nicht verstehen, finden das
Verhalten ihrer Eltern kindisch, wenn nicht gar politisch verurteilenswert (sie
können sich nichts Schöneres vorstellen, als für den
Führer` zu sterben). Immerhin werden sie durch die Bomben mit
Devisen (Bombensplitter), Unterkünften zum Spielen (Ruinen ausgebrannter
Häuser) und diversen Einrichtungsgegenständen (teilzerstörter
Hausrat) versorgt. Die Ich-Erzählerin gehört mit ihrem MANN
(wie er in Majuskeln bezeichnet wird; ebenso ist sie seine FRAU), der
den Titel eines Oberscharführers trägt und später einmal Hitler
als Führer beerben will, und einer Gruppe (selbsternannter) SS-Männer
zu einem Mini-Racket, das, während die Eltern versuchen, den
Lebensunterhalt im Ausnahmezustand zu besorgen, in den Ruinen u.a.
Pogrom (64) spielt. Später entführen sie einen Gleichaltrigen,
der, weil sein Vater Kommunist und gleichzeitig Jude war, ebenfalls ein
Jude sein mußte (68). Da sie wissen, dass dieser Vater ins KZ
verschleppt wurde, gründen sie kurzerhand ihr eigenes, in welches sie das
Kind einliefern`. Zwar lassen sie den Jungen nach einer Art Verhör
wieder frei, kidnappen ihn wenig später jedoch erneut, fesseln und
quälen ihn einerseits, sind gleichzeitig jedoch bemüht, ihn am Leben
zu erhalten alles muss seine deutsche Ordnung haben. Nachdem die
Mitglieder der Clique wegen einer Erkältung einige Tage ihr KZ nicht
aufsuchen konnten, finden sie schließlich den leblosen Körper
ihres` Juden. Der kleine Bruder der Ich-Erzählerin versucht zwar,
diese Tatsache zu Haus zu petzen, jedoch wird ihm nicht geglaubt. Zum
Ende des Buches verwischt ein neuerlicher Bombenangriff schließlich die
Spuren des kindlichen Rassenkleinkrieges.
Zur Erstveröffentlichung warf die Kritik dem Roman (wie auch früheren
Büchern Elsners) fehlende Authentizität, Anti-Realismus und das
Scheitern psychologischer Einfühlung in die dramatis personae vor
(Bernhard Jahn sieht darin einen Hinweis, dass die Rezensierenden emotional vom
Roman gepackt wurden, was Abwehr hervorrief
(1)). Aber
nichts dergleichen beabsichtigte die Autorin: weder wollte sie zur
Identifikation mit einer der Figuren einladen, noch das echte Kinderleben im NS
nachzeichnen. Im Gegenteil ist der Rollentausch Eltern/Kinder ein wesentliches
Verfremdungsmittel so wird ein Teil der Eltern der aufrechten Nazi-Kids, die
sich selbst HART WIE KRUPPSTAHL, ZÄH WIE LEDER und FLINK WIE WINDHUNDE
fühlen, als feige, RASSESCHANDE betreibende Verräter beschrieben; die
Kinder denken, handeln und erzählen auch keinesfalls altersgerecht von
ihren Erlebnissen. In anderer Hinsicht treten sie eben doch als Kinder auf: Die
Ich-Erzählerin Lisa Welsner (ein Alter-Ego der Autorin) fühlt sich
angesichts der Eröffnung des Banden-KZs an das Märchen Von
einem, der auszog, das Fürchten zu lernen erinnert; die Spielkameraden
würden gern wissen, was die ?NDLÖSUNG (96f.) ist das Wort hat
Gaby Glotterthal von ihrem Vater aufgeschnappt, aber sie haben keine Ahnung,
was zum Beispiel die ENDLÖSUNG [...] lösen kann (97) und von
Seiten der Eltern müssen sie die Drohung erleiden, ins ?INDER-KZ AM
WALDESRAIN eingeliefert zu werden, wenn sie nicht schön schlafen. Am
letzten Beispiel wird deutlich, dass eine Ebene des Romans das auch aus anderen
Elsner-Büchern bekannte Thema Familie als repressive Sozialstruktur
bildet. Zwar sind die Kinder letztlich die Täter das wird an der
(wenn auch ungewollten) Tötung ihres angeblich jüdischen KZ-Insassen
deutlich doch ihre Bosheit entwickelt sich zweifelsfrei aus der
Erfahrung elterlicher Autorität. So wünscht sich eines der Kinder,
Manfred Schmer, Bandenmitglied und ?S-Mann nichts sehnlicher, als selbst in ein
KZ eingeliefert zu werden, denn lieber möchte er ?Zler sein, als ein
HUNDSKNOCHEN, wie ihn sein Vater, der Oberlehrer Schmer, regelmäßig
schimpft. Der ?S-Mann Adolf Dittmeier wiederum bernimmt bei der notwendigen
Knebelung des festgenommenen Kindes die psychisch entlastende Entschuldigung
direkt von seinem Vater (einem echten SS-Mann), der in Auschwitz dient: Ich
habe nichts als meine Pflicht getan. (134)
Eine zweite Erzählebene bildet der Nationalsozialismus und hier spiegelt
sich in der Grausamkeit der absurden Kinderspiele die Monstrosität der
erwachsenen Nazis. Waren es in den früheren Romanen Elsners vor allem die
restaurativen Verhältnisse der BRD, die im Fokus standen, so sind es hier
die Fundamente der Nachkriegsentwicklung selbst. Ohne es direkt anzusprechen,
weist sie z.B. den Mythos des Wir haben von all dem nichts gewusst!
zurück: wie erwähnt sind die dargestellten Eltern des Buches kaum
überzeugte Nationalsozialisten der Vater Lisa Welsners
verhöhnt den Führer und seinen Krieg; der Lebensmittelhändler
Wätz nutzt die Kriegssituation für Extraprofite und spielt seine
Macht als Nahrungsressource gegenüber seinen Kunden gnadenlos aus
aber an ihrem Wissen über Ziele und Mittel des NS kommen keine Zweifel
auf. Wie in vielen Romanen Elsners bekommt auch die Kirche ihren Teil ab. Die
Liturgie eines Gottesdienstes wird als sinnloser Hokuspokus entlarvt, wenn die
Ich-Erzählerin sich die fremdsprachigen Verse einprägt und sie
später als Zaubersprüche einsetzt, um den entführten Jungen in
die Gestalt eines Untermenschen zu verwandeln. Als Jude muss er ja eine solche
haben, sein aktuelles, allen Anschein von Normalität anzeigendes
Äußeres, ist für die Nazi-Kinder nur magische Verwandlung,
schöner Schein.
Das gesamte Buch ist durchzogen von der Parolenhaftigkeit der NS-Propaganda
(Elsner schrieb in dem Essayband Gefahrensphären über Kriegslieder im
Dritten Reich und ihre Wirkung), die aus den zarten Kindermündern wie
Maschinensprache quillt. Mit dem gefährlichen Halbwissen verbinden sich
Sprache und Handlung zu einer absurden Pseudorealität: So wäre den
Kindern nichts unangenehmer als der Tod des einzigen Insassen, denn dies
würde ja ihrem KZ den Ruch, eine Kinderei zu sein (140)
aufbürden. Zwar sind an der alleinigen Erklärungsmächtigkeit des
Nationalsozialismus über Propaganda, die von den Romankindern
unablässig reproduziert wird, berechtigte Zweifel anzumelden, da sie die
Handelnden aus jeder Verantwortung entlässt; und der Judenmord im Roman
geschieht ja tatsächlich aus Versehen und nicht etwa aus eliminatorischem
Antisemitismus. Aber dies von der Autorin zu fordern wäre schon wieder ein
realistischer Reflex, den ihr satirisches Schreiben, indem es z.B. jegliche
Rasselehre als zweckbestimmte Konstruktion vorführt, ja gerade
zurückweist. Abschließend kann nur die Empfehlung ausgesprochen
werden, sich diesem wirklich gescheiten Beitrag zu NS und Luftkriegsdebatte
einer tragischerweise gescheiterten deutschen Kommunistin selbst zu widmen.
M.M.
Anmerkungen
(1) Vgl. den oben besprochenen Sammelband, S. 74.