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1. Roman an Studienrat Groll, am 1. Oktober 2009.
Zitat:
Anarchisten und Syndikalisten verwerfen prinzipiell jede parlamentarische
Tätigkeit, weil sie der Ansicht sind, dass die Interessen der Bourgeoisie
als Klasse den Interessen des Proletariats so diametral entgegengesetzt sind,
dass jede Vermittlung auf dem Boden des bürgerlichen Parlamentarismus
nicht nur zwecklos, sondern direkt schädlich für die Arbeiter ist,
indem sie den Klassenkampf zur würdelosen Komödie gestaltet und
lähmend auf die revolutionäre Energie und Initiative der Massen
wirken muss. Das freieste Wahlrecht kann an dieser Tatsache nichts ändern
und alles Gerede von der Demokratie ist nur eitle Schaumbläserei, denn
politische Freiheit ohne ökonomische Gleichheit ist Lüge und
Selbstbetrug.(1)
Sehr geehrter Herr Studienrat,
wer seine Kritik der repräsentativen Parteiendemokratie wie Sie
durch solch schlagkräftige und hier offensichtlich affirmative
Zitatauswahl bebildert, muss sich die Frage gefallen lassen, inwiefern sich der
eigene Anti-Parlamentarismus (hier offensichtlich mit Agnoli und mir
unbekanntem Autor) nicht nur vom Antiparlamentarismus eines Gabriele D`
Annunzio oder Georges Sorel unterscheidet, sondern auch von derjenigen
Prägung, die in der Weimarer Republik als antiparlamentarische Rechte von
sich Reden machte. Man vergleiche nur mal die folgende Kostprobe:
Die Lage des Parlamentarismus ist heute so kritisch, weil die Entwicklung
der modernen Massendemokratie die argumentierende öffentliche Diskussion
zu einer leeren Formalität gemacht hat. Manche Normen des heutigen
Parlamentsrechtes (...) wirken infolgedessen wie eine überflüssige
Dekoration, unnütz und sogar peinlich, als hätte jemand die
Heizkörper einer modernen Zentralheizung mit roten Flammen angemalt, um
die Illusion eines lodernden Feuers hervorzurufen. Die Parteien (...) treten
heute nicht mehr als diskutierende Meinungen, sondern als soziale oder
wirtschaftliche Machtgruppen einander gegenüber, berechnen die
beiderseitigen Interessen und Machtmöglichkeiten und schließen auf
dieser faktischen Grundlage Kompromisse und Koalitionen. Die Massen werden
durch einen Propaganda-Apparat gewonnen, dessen größte Wirkungen auf
einem Appell an nächstliegende Interessen und Leidenschaften beruhen. Das
Argument im eigentlichen Sinne, das für die echte Diskussion
charakteristisch ist, verschwindet. An seine Stelle tritt in den Verhandlungen
der Parteien die zielbewußte Berechnung der Interessen und Machtchancen
(...) usw. usf.(2)
Die Verachtung der parlamentarischen Demokratie ist übrigens etwas, was
Schmitt an den Bolschewiki durchaus zu schätzen wusste, offenkundig auch
am italienischen Faschismus. Anscheinend aber ist es für gelernte Linke
gar nicht so leicht, dem von Schmitt Dargebotenem zu widersprechen. Die
Schwierigkeit heute (insbesondere nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts)
besteht nun darin, die eigene Kritik der Repräsentativdemokratie so zu
formulieren, dass sie gerade nicht in die Falle marxistischer oder
faschistischer Totalablehnung steuert. Das kann man z.B. von den alten
Frankfurtern lernen. Warum wohl war Carl Schmitt der Neuen Linken der 60er und
70er Jahre ein geistiger Patron? Warum ist er es heute für die Nouvelle
Droite?
Freundlich nachfragend und grüßend
Ihr Roman
2. Studienrat Groll an Roman, am 2. Oktober 2009.
Werther Roman,
vielen Dank für Ihre interessante Zuschrift, die mich bedauerlicherweise
just zu einem Zeitpunkt erreicht, da mein gesamtes Wesen vollends von anderer
Seite eingenommen ist. Der Teufel selbst klopft an, wenn Sie verstehen.
Gestatten Sie mir, dass ich mich deshalb auf einige flüchtige Andeutungen
beschränke.
Die Unterstellung, Agnoli stünde in einer Kontinuität mit der
faschistischen Parlamentarismuskritik, wurde ja von Wolfgang Kraushaar
prominent artikuliert leider freilich erst einige Tage nach dem Tod des
Beschuldigten, der sich also, sozusagen aus praktischen Gründen, nicht
mehr gegen diese Infamie zu Wehr setzen konnte.(3)
Zu D`Annunzio, Sorel und Schmitt kann ich mich leider nicht sachkundig im
Detail aussprechen. Was aber die faschistische Parlamentarismuskritik von einer
Kritik der Politik, wie sie Marx oder Agnoli umrissen haben, unterscheidet, ist
dies:
Die Faschisten verachteten den Parlamentarismus, weil er die
Souveränität der Volksgemeinschaft nicht effektiv genug ausübte
er spaltete das Kollektiv in Fraktionen, statt es völkisch zu
einen. Die Kritische Theorie aber zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie
der Macht an sich negativ gegenübersteht: Agnolis Leitmotiv der Subversion
belegt das auch für diesen Denker recht offen. Von der faschistischen
Verkehrung grenzt man sich also dadurch ab, dass man die im Parlamentarismus
vollstreckte Herrschaft eben nicht als zu zersetzend, sondern als zu effektiv
wahrnimmt.
Nun plädieren Sie allerdings dafür, den bürgerlichen
Parlamentarismus nicht total abzulehnen man lande sonst im 20.
Jahrhundert. Weil Sie von den alten Frankfurtern sprachen, muss ich Ihnen
versichern, dass zumindest Adorno unmöglich zum Komplizen in dieser
Angelegenheit gemacht werden kann: Sein Denken ist doch deshalb so
unwiderstehlich, weil es so konsequent die unbedingte Negation der
gesellschaftlichen Institutionen aufrecht erhielt. Auch nur ein
kleinesbißchen Zustimmung zur zentralen Leitstelle des falschen
Ganzen wäre ihm übel aufgestoßen, ja, man muss vielmehr damit
rechnen, dass es erneut Erbrochenes gegeben hätte.
Vielleicht aber war der alte Horkheimer gemeint? Dass dieser sich angesichts
der Vernichtung zunehmend positiver auf die bürgerliche Gesellschaft
bezog, als das kleinere Übel wohlgemerkt, ist nicht umstritten. Das
spricht eigentlich nur für Adorno.
Dass viele Idioten im SDS Carl Schmitt so freudig lasen, lag meines Erachtens
zunächst einmal daran, dass sie schon damals Nazis waren. Mahler und
Rabehl beteuern das ja auch in jedem Interview. Selbstverständlich
und an dieser Stelle möchte ich Ihnen noch einmal danken, dass Sie mich
mit Ihrem Schreiben daran erinnern wäre ich selbst sehr
interessiert, endlich einmal genauer bei Schmitt und den Faschisten zu lesen,
um die übelriechenden Tendenzen der Volksmacht im SDS einordnen zu
können.
Abschließend nur noch die Frage, wo in Ihrem Entwurf einer (teilweisen)
Rehabilitierung des Parteienstaates die Kritik der politischen Ökonomie
aufbewahrt ist? Diese, also die Ökonomie am Laufen zu halten ist ja der
Beruf der Verwaltung. Das erfrischende an Rudolf Rocker (wohl der andere noch
unbekannte Freiheitsbarde) ist nun, dass er nicht wie so viele andere
Anarchisten und Kommunisten in den Irrglauben verfällt, man könne die
politische Herrschaft isoliert von der Kapitalzirkulation betrachten, und
anders herum. Marx` Zur Judenfrage enthält die Grundlagen zum
Verständnis des Zusammenspiels von Staat und bürgerlicher
Gesellschaft. Die ideologische Verdopplung des Subjekts in citoyen und
bourgeois dient genau dazu, die Bürger in ihrer irdischen Realität
der kapitalistischen Produktion ruhig wirtschaften zu lassen. Das gleiche gilt
auch noch heute, daher kein Ja zum Parlament. Wie gesagt: Der Versuch, die
Unterdrückung akzeptabel zu machen. Es ist ja doch eine teuflische Welt.
Natürlich, Leviathan ist immer noch besser als Behemoth. Aber das macht
ihn nicht gut. Stimmt man dem zu, so darf theoretische Reflektion hier keinen
Unterschlupf nehmen, um sich positiv auszuleben.
Stets der Ihre,
Studienrat Groll
3. Roman an Studienrat Groll, am 2. Oktober 2009.
Verehrter Herr Studienrat,
ich danke Ihnen für Ihre aufschlussreiche und wohlgesonnene Antwort.
Vielen Dank auch für die Hinweise in Sachen Anarchosyndikalismus, welcher
mir bisher wahrlich fremd geblieben ist. Ich verspüre trotzdessen nicht
allzu viel Dissens, was die von Ihnen geäußerten Gedanken angeht.
Gleichwohl möchte ich doch auf die von mir bemerkten feinen Unterschiede
eingehen, die ich freilich nicht in der gebührenden Weise behandeln kann.
Auch mich plagt Sie sprachen es selbst an das Joch
tagtäglicher Verpflichtung. Sie werden daher entschuldigen, dass ich die
Gepflogenheiten akademischer Federführung einstweilen zurückstellen
muss und ab und an in Kurzform verfalle:
Leider habe ich bisher zu wenig Agnoli gelesen, um mir ein dezidiertes Urteil
zu erlauben. Deshalb habe ich in meiner Anfrage auch nicht behaupten wollen,
dass Ihre Kritik (oder die Agnolis) am Parlamentarismus in
Kontinuität zur konservativen deutschen Parlamentarismuskritik im
Sinne einer Identität besteht. Das haben Sie ja selbst in Ihrer Antwort
sehr deutlich ausgeräumt. Meine Frage wenn ich daran erinnern darf
war: Worin besteht der Unterschied? Und nicht: Worin besteht die
Kontinuität? Freilich unterstellte ich damit zugleich, dass es
Gemeinsamkeiten geben könnte, quasi Identität in der
Nichtidentität. Darauf sind Sie ja in ihrer Antwort auch eingegangen.
Meine Verständnisschwierigkeiten beginnen jedoch woanders. Sie, verehrter
Studienrat, führen Agnoli ja als Protagonisten Kritischer Theorie ein,
für die Sie ja zuallererst auch Adorno und Horkheimer ins Felde
führen. Sie schrieben folgendes:
Die Kritische Theorie aber zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie der
Macht an sich negativ gegenübersteht: Agnolis Leitmotiv der Subversion
belegt das auch für diesen Denker recht offen.
Nun ist es ja mit der Macht so eine Sache. An sich kann man ihr zwar
wie ich Ihnen sowie der von Ihnen angeführten Kritischen Theorie
zugeben würde negativ gegenüberstehen. Nur ist es leider so,
dass der Alltag uns sehr viele Situationen beschert, in denen uns Macht (ein
sehr schwieriger Begriff, wie Sie zugeben werden) nicht in dieser reinen Form
begegnet. Manchmal müssen wir uns, ähnlich wie etwa Adorno oder
Horkheimer, für konkrete Erscheinungsformen der Macht entscheiden bzw.
abwägen, wo wir uns unserer individuellen Freiheit am wenigsten beraubt
sehen. Für solch eine Situation dürfte insbesondere die amerikanische
Erfahrung der alten Frankfurter stehen, denen Deutschland ab 1933 zuwider
war.
Sie sehen, es ist gar nicht so einfach mit der unbedingte[n] Negation der
gesellschaftlichen Institutionen. Auch Adorno hat, da sehe ich einen Dissens,
so ernst in der Praxis nicht machen können, wie es an manchen Stellen
seines Werkes klingen mag. Ich möchte Sie daher in
Übereinstimmung mit diesem Werk darauf hinweisen, dass es vielmehr
die bestimmte Negation ist, nicht eine etwaige unbedingte, die
Adornos an Hegel geschultes Denken anleitet. Seine Negative Dialektik
ist daher auch nicht mit Fundamentalkritik zu verwechseln, die ihm als
Antipoden Heideggers wie Sie wissen gar nicht behagte. Selbst
sein Kollege Herbert Marcuse wusste, was er mit Hegel seinem ehemaligen Lehrer
Heidegger voraus hatte.
Nun stellen Sie Agnoli als einen Nachfolger der alten Frankfurter hin, oder
zumindest stellen Sie ihn in diese Linie. Dies hat mich doch zugegebener
Maßen etwas verwirrt. Denn abgesehen davon, dass dies durch die
Sekundärliteratur kaum personell belegbar ist (bitte berichtigen Sie mich,
wenn ich hier falsch liege), ist es doch erstaunlich, dass Agnoli in seiner
Kritik der Demokratie eher in einer Kontinuität mit dem frühen
Jürgen Habermas steht. Hierfür glaube ich indes auch Belege angeben
zu können, weshalb ich Sie gern auf die Werke Strukturwandel der
Öffentlichkeit und Student und Politik hinweisen möchte. Wie
Sie ebenfalls wissen werden, waren es diese Studien, die den damaligen
Institutsdirektor Horkheimer gegen den zu forschen Jungakademiker aufbrachten,
weshalb dieser dann nach Marburg zu Herrn Abendroth (auch eine interessante
Gestalt in Sachen Parlamentarismuskritik) wechselte. Dies feststellend, muss
ich Ihnen leider ihre Einordnung des Herrn Agnoli in den Zusammenhang der
Kritischen Theorie absprechen, es sei denn Sie würden den Zusammenhang
Kritischer Theorie auf die von mir genannten Abendroth und Habermas ausweiten,
deren personelle Nähe zu den alten Frankfurtern zweifellos mehr gegeben
scheint als bei Agnoli (wie gesagt: berichtigen Sie mich hierin, falls
notwendig). Wer oder was Kritische Theorie ist, wer dazugehört und wer
nicht bzw. wer (evtl. mit Abstrichen) für welche Zeiträume, ist eine
sehr schwere Frage. Sie werden aufgrund meiner bisherigen Ausführungen
jedoch verstehen, dass ich Ihrem Urteil über Adorno nicht in der Weise
zustimmen kann, wie es in dem folgendem von Ihnen geschriebenen Satz über
ihn zum Ausdruck kommt:
Auch nur ein kleines bißchen Zustimmung zur zentralen Leitstelle des
falschen Ganzen wäre ihm übel aufgestoßen, ja, man muss
vielmehr damit rechnen, dass es erneut Erbrochenes gegeben hätte.
Ihrem Urteil über den späten Horkheimer, das an ihm
ähnlich wie die einschlägige Literatur nicht viel mehr
übrig lässt als die Servilität eines alten Mannes, kann ich
leider ebenfalls nicht zustimmen. Aber lassen Sie mich lieber
abschließend auf Ihre konkrete Frage eingehen, die Sie wie folgt an mich
richten:
Abschließend nur noch die Frage, wo in ihrem Entwurf einer
(teilweisen) Rehabilitierung des Parteienstaates die Kritik der politischen
Ökonomie aufbewahrt ist?
Darauf antwortend, kann ich Ihnen versichern, dass ich die Kritik der
politischen Ökonomie für absolut notwendig erachte und auch nicht zu
vernachlässigen gedenke. Was ich aber einräumen muss, ist, dass sie
bei mir nicht die Rolle spielt, die ihr bei Marx aber auch im Marxismus zukam.
Ihr muss nicht die ganze Bürde einer Kritik aufgeladen werden, die an
einen Punkt einsetzt und am Ende wieder in diesen Punkt einmündet
weder historisch (spiral- oder stufenartig) noch irgendwie dialektisch
(logisch) und damit die Bürgerliche Gesellschaft als ganze schon
auf den Punkt gebracht zu haben glaubt. Ich glaube vielmehr, dass sich ein
solcher Hegelianismus angesichts der Komplexität der Gesellschaft,
hoffnungslos überfordert. Und ja ich misstraue jedem Ableiten
wer ableitet (was auch immer: Staat, Kultur, Bewusstsein,
Geschlechterverhältnis, Religion etc.) oder auch nur glaubt, dies alles
aufs Ökonomische draufsetzen zu können wie eine zweite Etage, der hat
implizit auch eingestanden, dass die Begriffe des Werts, Kapitals, Geldes
(diese hegelianisch gesetzten Großsubjekte) all dies gar nicht in ihrer
immanenten Bewegung einzuholen in der Lage sind in der Theorie oder
Kritik sowenig wie in der dieser vorausliegenden Realität. Da haben Sie
nun eine sehr defensive Antwort von mir bekommen. Nicht wahr?
Dies Letzte bitte ich Sie allerdings nicht so streng zu nehmen, da die Frage,
die Sie stellen, doch keine gar so leichte ist. Das Übrige können Sie
hingegen für bare Münze nehmen.
Hochachtungsvoll, Ihr R.
4. Studienrat Groll an Roman, am 5. Oktober 2009.
Sehr geschätzter R.,
seien Sie mir gegrüßt, wie geht es Ihrer Frau, was macht das
Büro? Verzeihung, nur ein kleiner Spaß.
Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der
Verhältnisse, auf den Menschen selbst.(4)
Vorweg erneut eine Enttäuschung: Auf den spannendsten Teil Ihrer
Überlegungen, nach Sinn und Mangel der Ableitungen, werde ich nicht
eingehen. Marx' Ableitungen (siehe oben) der himmlischen, scheinhaften
gesellschaftlichen Institutionen (Politik und Religion) aus der materiellen
Wirklichkeit der Produktion sind für mich wohl allerdings reinste
Offenbarungen. Ein klarer Quell der Aufklärung, in dem man sich den Kopf
waschen will! Die geheimnisvolle Auseinandersetzung mit jenen
hegelianischen Großsubjekten scheint mir von
außerordentlichem Reize, und Marx' Geschichtsphilosophie gehört
für mich nicht auf den Sperrmüll, sondern ist Gegenstand der
Inspiration, der sinnvollsten Spekulation sogar! Aus dem Stand kann ich meine
Gedanken jedoch nicht mit einer Ernsthaftigkeit vortragen, die der Ihren
gebührte. Doch wie sagt der Volksmund, seinerseits ganz hegelianisch?
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Ihre Ausführungen zu Adorno, Hegel und der bestimmten Negation habe
ich ebenfalls mit Interesse zur Kenntnis genommen. Ich möchte mich auch
hier zunächst einer Einschätzung enthalten, die Angelegenheit aber
durchaus weiter verfolgen. Im Vertrauen: Mein akademischer Titel schützt
mich nicht vor mangelndem Studium. Schreiben Sie mir in fünf Jahren
wieder, ich werde mich dann Wissenschaftlicher Oberrat taufen, und wie
die anderen Kartoffelphilister souverän auch zu mir noch so fremden
Angelegenheiten Konversation machen. Einstweilen aber überschätzen
Sie bitte keinesfalls meine bescheidenen Möglichkeiten.
Was ich freilich zur Sache sagen kann, ist, dass sich folgender Satz von Rolf
Tiedemann mit meiner bisherigen Lektüre gründlich deckt: Kritik
der Herrschaft ist das Movens jeden Gedankens, den Adorno gedacht hat.(5) Das
skeptische Festhalten an einer natürlich durch die Erfahrung
geläuterten Idee der Aufklärung, der unbeirrbare Traum des
mündigen, frei sich entfaltenden Menschen, so ließe sich andersherum
formulieren, verleiht Adornos Schriften ihre Strahlkraft. Der Parteiapparat,
jenes nach militärischem Gehorsam sich aufbauende Zentralkommando mit dem
General(sekretär) an der Spitze, ist eine zu offene Beleidigung der
menschlichen Selbstbestimmung, als dass Adorno es sich in ihm gemütlich
gemacht hätte. Generell beobachte ich die Tendenz, Adorno für alle
möglichen positiven, identitären Unternehmungen vor den Karren zu
spannen, mit großem Widerwillen. Sei es drum, Staatskritik kommt bei den
Frankfurten (das klingt so nach Würstchen, finden Sie nicht?) zu kurz
und damit möchte ich mein unbedarftes Geplauder über ein Werk,
das meinen Horizont eindeutig übersteigt, nun abschließen.
Agnoli habe ich zwar in meinem letzten Schreiben durchaus nicht in die
großgeschriebene Kritische Theorie (in Frankfurt in die Schule)
gesteckt eine elementare Gemeinsamkeit wurde und wird aber von mir
vermutet: leidenschaftliche Negativität. Heilige Flamme der Freiheit! Und
auf Abendroth, der ja glaubte, man könne die parlamentarische
Realität kritisieren, und trotzdem dem Grundgesetz treu bleiben, war
Agnoli besonders schlecht zu sprechen.(6) All diese ausufernden Diskussionen
führen uns allerdings weit weg vom ursprünglichen Gegenstand unserer
Unterhaltung, und ich möchte schon um eine gemeinsame Grundlage zu
haben (es ist ja nun geschehen, dass der eine Quellen beschreibt, von denen der
andere noch nie gekostet) das Kernproblem noch einmal konkretisieren.
Auf meinen Versuch, den Berliner Machtbetrieb ins lächerliche zu ziehen,
reagierten Sie ja mit der Mahnung, die Heftigkeit der Ablehnung noch einmal zu
überdenken. Es geht also grundlegend um die Frage, ob es möglich sei,
innerhalb der Institutionen zu handeln oder nicht denn im
Parlamentarismus gibt es ja nur die zwei Optionen: entweder man wählt,
oder man lässt es bleiben. Die Macht mag also ein kompliziertes Ding sein,
ob man sich ihrer aber systematisch bedient, muss man sich dennoch in aller
Allgemeinheit überlegen.
Insbesondere besorgte Sie eine etwaige Nähe radikaler
Parlamentarismuskritik zu faschistischen Formen der Ablehnung. Dazu möchte
ich noch ein paar Sätze vortragen, die womöglich zur Beruhigung
beitragen werden.
Kraushaars Unterstellung, Agnoli knüpfe an die faschistische
Parlamentskritik an, war deshalb so undankbar, weil Agnoli in der Tat sich ganz
offen mit dem Faschismus beschäftigte allerdings nur um zu zeigen,
wie zentrale Verkehrungen aus dieser Richtung sich im bürgerlichen
Parlamentarismus wiederfinden:
Ideologisch freilich wird in der Volkspartei wie in der faschistischen
Partei aus dem Ausgleich eine allgemeine Angleichung aller: beide zielen
ungeachtet eines etwaigen klassenmäßigen Auftrags auf die Bildung
einer großen Gemeinschaft, in der die Einzelnen der gleichen sittlichen
Verpflichtung unterliegen, jedoch einen ungleichen materiellen Anteil an
wirtschaftlicher und politischer Macht (und einen ungleichen Zugang zu den
Partei-Machtzentralen) erhalten. Dabei lag es auch der geschichtlichen
Aufgabe' des Faschismus zugrunde, als erstes die Proletarität' zu
überwinden ohne den Kapitalismus anzutasten [Fußnote: Vgl.
Mussolinis Kammerrede v. 21. Juni 1921 und seine Udiner Rede v. 20. September
1922.]. Diese von Leibholz übrigens schon 1928 angedeutete Nähe der
(pluralen) Volkspartei zum faschistischen Typus wird auch an der politisch
praktizierten Form des Ausgleichs ersichtlich. Sie geht der Tendenz nach auf
eine Zusammenarbeit von Berufskategorien aus, in der die Polarität von
Kapital und Arbeit aufgelöst werden soll. Sie orientiert sich also
grundsätzlich an einer korporativen Lösung der Konflikte und an einer
korporativen Friedensordnung.(7)
Volksparteien sind in der Substanz übrigens alle im Bundestag
vertretenen Fraktionen: Jeder verkauft seine Dummheiten da als Balsam für
die ganze Gesellschaft, und das, obwohl die Bürger ja gerade
Repräsentanten abordern sollen, die IHRE privaten Interessen am besten
vertreten. Ein recht dümmlicher Widerspruch, der allerdings
verfassungsrechtlich angelegt ist: GG § 38 (1) Die Abgeordneten:
Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen
nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Die Verherrlichung von Einheit, Harmonie, Ausgleich und Kompromiss ist auf der
Grundlage der antagonistischen Klassengesellschaft natürlich ideologischer
Unfug illusorische Gemeinschaft. Im Parlamentarismus, dem man nun seine
Totalablehnung ersparen soll, werden genau diese fehlplatzierten
Sehnsüchte jeden Tag geschürt. Das Parlament ist der Hohetempel des
Kompromisses selbst! Hier wird debattiert und engagiert gestritten,
damit am Ende das Beste für wen? für das Land
herauskommt.
Es muss verwundern, dass gerade eine Position, die sich durch den Versuch
verdient macht, die Vernichtung stets mitzudenken, noch ein Haar lassen sollte
an diesem Apparat, dessen Integrationsmechanismus immer wieder auf die
mörderische Scheiße der Nation zurückgreifen muss. Ja, ich muss
doch sehr bitten, lieber Roman, wie könnte man jemals ein freundliches
Wort verlieren über die hier schaltende und waltende Staatlichkeit, die
den Kreis der in ihr Geduldeten noch immer rein völkisch definiert! Dieses
Parlament wird von Deutschen gewählt nicht von Menschen! Der
Parteienstaat: schon im Moment der Konstituierung eine Nationalversammlung im
germanischen Sinne. Die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgericht besagt
nach wie vor: Das Volk ist die Gesamtheit der im Wahlgebiet
ansässigen Deutschen. Nicht: Menschen. Das ius sanguinis ist die
Grundlage des Geschehens. Die Negativität, die dieses schreckliche Wesen
der Volkssouveränität also verdient hätte, ist in Worten
überhaupt nicht zu fassen! Totalablehnung oder von mir aus
Fundamentalkritik, sind noch reichlich milde Ausdrücke das
Hohe Haus, dieses mystifizierte Paulskirchentheater, dieser vollends
verselbständigte Machtapparat, der sich als demokratisches Orakel geriert,
gehört entweiht ähnlich einem Stück Toilettenpapier,
immer mal wieder. Sehen Sie, diese unglaublichen Perversionen des Alltags
dass jeden Tag viele Menschen an den Europäischen Grenzen
ertrinken, weil sie leben wollen, am liebsten ein bisschen wie wir sind
gesellschaftliche Realitäten, die im parlamentarischen System nicht
erfunden, wohl aber umgesetzt werden. Die Exekutive, der politische Apparat,
sorgt schlicht dafür ich betonte dies nun bereits mehrfach, weil
ich hier den zentralen Verblendungszusammenhang vermute dass die
bürgerliche Gesellschaft sich frei entfalten kann. Der im Rahmen des
parlamentarischen Gesetzesprozesses sich vollstreckende Geist, ist niemals
einer, der seine Grundlagen in der Substanz reflektieren würde.
Einschließlich der PDS bekennt sich links und rechts und
alles dazwischen zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Selbst
wenn dem nicht so wäre, wenn sozusagen eine Fundamentalkritik eine
Fundamentalopposition in den Reichstag (welch traditionsreicher Name
für unsere schöne Assoziation) entsandte, käme mir weiterhin
stets das Kotzen, um es akademisch auszudrücken. Jede noch so gut
gemeinte, konstruktive Teilhabe legitimiert notwendig die Produktionsordnung
des Parlaments und die der Ökonomie überhaupt. Beides ist mir
zuwider: dass machtwahnsinnige Berufspolitiker mein Leumund zu sein sich
anmaßen und dass die Menschen unter Konkurrenzbedingungen nicht anders
können, als sich gegenseitig unentwegt die Torte wegzufressen. Die
Negativität wie gesagt, kennt in mir keine Grenzen, wenn man auf die
alltägliche Herstellung dieser Verhältnisse unbedingt (hier passt es
besser!) zu sprechen kommen muss. Keine Kompromisse: Die Verwaltung soll
ein Ende nehmen.
In diesem Sinne empfehle ich mich Ihnen in aller Herzlichkeit,
Studienrat Groll
PS:
Zwecks Austausch in Sachen Anarchosyndikalismus können Sie sich
übrigens auch in Zukunft vertrauensvoll an mich wenden. Man sollte der
Vielfalt, die sich hinter dieser Marke verbirgt, nicht voreilig spöttisch
begegnen. Vielmehr würde es sich lohnen, die lange Geschichte der
Organisationsfrage genauer zu studieren. Man könnte sich dadurch die ein
oder andere schwätzerische Grundsatzdiskussion ersparen. Sätze
wie der Folgende von Bakunin deuten an, mit welch schlichter Allgemeinheit man
es am Ende doch zu tun hat.
Wie könnte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer
autoritären Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich. Die
Internationale, Embryo der künftigen menschlichen Gesellschaft, ist
gehalten, schon von jetzt an das treue Bild unserer Grundsätze von
Freiheit und Föderation zu sein und jedes der Autorität, der Diktatur
zustrebende Prinzip aus ihrer Mitte herauszuwerfen.(8)
Das Verhältnis von Zweck und Mittel, die Idee der Avantgarde. Große
Fragen, für jene, die alles gerne anders hätten.
Studienrat Groll, Roman