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Für die heutige antifaschistische Linke spielt das Thema
Erinnerungspolitik und die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit eine
wichtige Rolle. Demonstrationen zum 8. Mai werden organisiert,
Gedenkveranstaltungen zur Reichspogromnacht werden abgehalten, und viele kleine
Initiativen wollen die regionale Geschichte des NS in Erinnerung erhalten. Die
Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus soll eine Mahnung sein und
ist gleichzeitig immer der spezifische Background für den Antifaschismus
in Deutschland. Aber das Gedenken an den Holocaust geht heute nicht mehr nur
von der Linken aus.
Heute stehen die Anerkennung des Holocaust und die Erinnerung an die Opfer des
NS auf der politischen Agenda der BRD und sind ein integraler Bestandteil der
Geschichtspolitik geworden: Mitten in Berlin steht das Holocaust-Mahnmal,
daneben das Mahnmal für die Verfolgung der Homosexuellen. Die
Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen wurden, wenn auch unzureichend,
entschädigt und KZ-Gedenkstättenbesuche gehören zu offiziellen
Staatsbesuchen.
Dies geschah nicht von heute auf morgen, sondern war ein Prozess, bei dem der
Historikerstreit von 1986 eine bedeutsame Rolle spielte. Im Historikerstreit
wurde der Versuch konservativer Historiker, einen Schlussstrich unter die
deutsche Geschichte zu ziehen und die Verbrechen im NS zu relativieren von
linker Seite zurückgewiesen. Mit dieser Debatte rückte die
Auseinandersetzung über die deutsche Vergangenheit ins öffentliche
Bewusstsein und sie trug so dazu bei, dass Deutschland heute seine volle
Souveränität wiedererlangen konnte. Der Historikerstreit stellte
einen Wendepunkt in der Gedenkpolitik der BRD in der Art und Weise dar, dass
deutsche Schuld anerkannt wurde und so letztlich ein Umgang mit der deutschen
Vergangenheit gefunden werden konnte, der einen positiven Bezug auf die
deutsche Nation möglich machte.
Der Historikerstreit: Wer? Was? Wie?
Offiziell wurde der Historikerstreit von Jürgen Habermas eröffnet,
obwohl sein Artikel Die apologetischen Tendenzen in der deutschen
Zeitgeschichtsschreibung, am 11.07.1986 in der Zeit erschienen, als
Reaktion auf mehrere revisionistische Vorstöße einiger konservativer
Historiker der vergangenen Jahre zu verstehen ist. Stellvertretend für
diese werden hier Ernst Nolte und Andreas Hillgruber vorgestellt. Ernst Nolte
(geb. 1923) veröffentlichte 1973 das Buch Deutschland und der Kalte
Krieg, in welchem er den NS in die Globalgeschichte einzubetten versuchte.
Dabei relativierte Nolte die Verbrechen des NS wiederholt, unter anderem indem
er sie als Reaktion auf die Politik der SU darstellte. Um die Vernichtung des
europäischen Judentums zu verstehen, sei, so Nolte, der sowjetrussische
Klassenkampf von 1917/18 als Ausgangspunkt zu nehmen. Darüber hinaus
verglich Nolte den NS mit vielen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, wie
dem Maoismus, dem Stalinismus und dem Zionismus, und kam zu dem Schluss, dass
jede Bewegung seine Hitlerzeit` hatte oder einen ähnlichen Ursprung
gehabt und ähnliche Ziele verfolgt habe. Zehn Jahre später erschien
das Buch Marxismus und Industrielle Revolution, das die Thesen der
vorherigen Bücher zuspitzte. In diesem postuliert er, dass die Wurzel
aller Gräueltaten des NS als Resultat der Vernichtungslehre` der SU
zu verstehen und die Entstehung des NS als Antwort auf diese vermeintliche
Bedrohung zu sehen sei. Am 06.06.1986 veröffentlichte Nolte in der FAZ den
Artikel Die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die
geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte. Darin fragt er nochmals nach
den Ursprüngen des NS und seinen Verbrechen und relativiert diese als
Reaktion auf die asiatische Tat` des Bolschewismus. Darüber hinaus
sieht er das GULag und den Klassenmord` als ursprünglicher als KZ
und Rassenmord.
Andreas Hillgruber (geb. 1925, 1943-45 in der Wehrmacht) machte sich mit
kleineren Büchern und Aufsätzen einen Namen als Kenner der deutschen
Kriegs- und Außenpolitik rund um den 2. Weltkrieg. Hillgruber vertrat
nicht nur inhaltlich konservative Positionen, sondern sorgte auch innerhalb der
Wissenschaft für Aufregung, indem er immer wieder gegen die Linken,
gegen Tendenzhistoriker oder gegen die Sozialgeschichte
polemisierte. Kurz vor dem Erscheinen von Noltes erstem FAZ-Artikel
veröffentlichte Hillgruber zwei Aufsätze als Buch: Zweierlei
Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des
europäischen Judentums. In der Einleitung des Buches erkennt er den Mord
an den Juden als eine Katastrophe an, jedoch thematisiert er auch die Opfer der
Vertreibung und die Zerschlagung des Deutschen Reiches. Letztere sei nicht nur
eine Antwort auf den Krieg, sondern schon lange Ziel der Großmächte
gewesen. Auch Hillgruber zeichnete wie Nolte ein Bild vom brutalen Russen, vor
dem die Deutschen durch die Aufrechterhaltung der Ostfront geschützt
werden mussten (was aber die industrielle Massenvernichtung gleichzeitig
aufrechterhielt). Auf die inhaltliche Verflechtung der zwei Aufsätze
Judenvernichtung und Zerschlagung des Reichs wollte Hillgruber
nicht eingehen, weil er sich nicht auf Fragen der Moral einlassen wolle.
Jürgen Habermas (geb. 1929) ist Soziologe und Philosoph und war Assistent
bei Adorno. In dem bereits oben erwähnten Artikel aus der Zeit
analysiert er detailliert die einzelnen Argumente Noltes und Hillgrubers.
Beispielsweise kritisiert er Noltes Versuch, den 2. Weltkrieg als Reaktion auf
den Bolschewismus erscheinen zu lassen, als Relativierung des Holocaust, der
auf diese Weise nur noch als bedauerliches Nebenereignis auftritt. Viel
wichtiger ist Habermas jedoch der philosophische Gehalt der Beiträge von
Nolte, Hillgruber und Co: Wer auf die Wiederbelebung einer in
Nationalbewußtsein, naturwüchsig verankerten Identität hinaus
will, wer sich von funktionalen Imperativen der Berechenbarkeit, der
Konsensbeschaffung, der sozialen Integration durch Sinnstiftung leiten
läßt, der muß den aufklärenden Effekt der
Geschichtsschreibung scheuen und einen breitenwirksamen Pluralismus der
Geschichtsdeutungen ablehnen.(1) Und hierin erkennt Habermas die (bewusste oder
unbewusste) Motivation und die Forschungstendenzen der konservativen
Historiker: es ginge diesen um eine einheitliche Geschichtsschreibung, die den
NS soweit relativiert, dass eine Normale-Nation-Identität
möglich wird.
In den ersten Wochen nach Habermas' Artikel in der Zeit reagierten
einige konservative Historiker auf seine Analysen. Nolte sah seine
Privatsphäre verletzt und Hillgruber versuchte Habermas als ernsthaften
Wissenschaftler zu diskreditieren, wobei beide jedoch auf Habermas' Argumente
nicht eingingen. Zeitlich verzögert setzte eine Flut an
Veröffentlichungen gegen mehrere konservative Historiker, insbesondere
aber Nolte, ein. Sowohl in Zeitungen, als auch Fachzeitschriften
äußerten sich renommierte Historiker wie Eberhard Jäckel, Hans
und Wolfgang Mommsen oder auch Martin Broszat. Dabei wurden nicht nur fachliche
Thesen und Mängel kritisiert, sondern auch die politischen Absichten in
Frage gestellt.
Im Fokus der Kritik standen Noltes Thesen, die meist nur als Hypothesen ohne
empirische Untersuchungen und Befunde existierten. Der Versuch, dem Holocaust
die Singularität zu nehmen, wurde streng zurückgewiesen. Auch die
Trauer Hillgrubers um die Zerschlagung des Deutschen Reichs wurde harsch als
reaktionär kritisiert.
In der Debatte wurde aber auch das politische Anliegen nach einer Normal-Nation
stark kritisiert. Es wurde diagnostiziert, dass hinter dem Wunsch nach
vergleichender Relativierung der braunen Vergangenheit der Drang nach der
normalisierenden Historisierung einer durch singuläre Untaten
gekennzeichneten Epoche, stecke.(2) Zu Recht wurde erkannt, dass durch die
Interpretation der Geschichte sich nicht die deutsche Schuld mindern lasse und
auch mit einer relativierten Schuld` kann keine Sinnstiftung durch die
deutsche Geschichte erzielt werden. Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka
resümierte, dass, wenn eine zustimmungsfähige Vergangenheit nur mit
intellektuellen Bocksprüngen zu machen sei, man darauf verzichten sollte.(3)
Die Kritik an Noltes Thesen und Positionen weitete sich in eine
grundsätzliche Kritik an der Geschichtspolitik unter der Kohl-Regierung
aus. Die Auseinandersetzung mit dem NS in der Öffentlichkeit war
stärker denn je.(4)
Das politische und wissenschaftliche Klima Anfang der Achtziger Jahre
In der BRD war die Konstruktion einer positiven nationalen Identität
über die Geschichte durch die Grausamkeiten des Nationalsozialismus und
den 2. Weltkrieg erschwert. Die Leugnung oder Verdrängung der Zeit des
Nationalsozialismus war in den Achtzigern innen- und außenpolitisch aber
nicht mehr möglich.
In den Sechziger Jahren gelang es noch das nationale Wir-Gefühl über
das Wirtschaftswunder herzustellen und zu befriedigen. Eine Reflexion
über den wirtschaftlichen Aufschwung und besonders dessen Grundlage fand
nicht statt. Mit den Achtziger Jahren kam es zum Ende dieser
geschichtslosen Zeit.(5) Nicht nur durch eine Stagnation der Wirtschaft,
sondern auch durch veränderte politische Prämissen musste sich
gesellschaftlich mit der deutschen Geschichte befasst werden.
Bis in die 1980er Jahre war der Forschungsstand bezüglich des Holocaust
bei weitem nicht so umfassend wie heute. Die beträchtliche Erweiterung des
Feldes der Holocaustforschung ist als eines der positiven Ergebnisse des
Historikerstreits zu verbuchen.
Bis dahin versuchten deutsche Historiker den Nationalsozialismus in große
Interpretationszusammenhänge einzubetten. In allen Erklärungsmodellen
erhielt der Holocaust keine besondere, exklusive Bedeutung. Es wurde sich
anstatt dessen Themen wie dem Verlauf des Krieges oder der Machtergreifung
durch die Nazis gewidmet. Selbst in Gesamtdarstellungen über den NS wurden
die Verfolgung und Ermordung des europäischen Judentums nur am Rande
gestreift. Die Täter blieben abstrakt und die Schuld wurde Wirkungsweisen
oder Institutionen zugeschoben. Aber nicht nur die Täter blieben im
Verborgenen, sondern auch die Opfer und ihre individuellen Schicksale.(6)
Eine gängige Interpretation stellt beispielsweise den Nationalsozialismus
als einen Irrweg der deutschen Geschichte heraus. Diese hat zur Annahme, dass
die Ursachen für die Entstehung des NS nicht in der deutschen Geschichte
oder besonderen rassischen und antisemitischen Absichten lägen, sondern in
der Vermassung der Kultur und dem allgemeinen Werteverlust durch die Moderne,
die das deutsche Kollektiv entfremdete und somit den Weg zum
Nationalsozialismus bereitete. Eine andere Theorie verweist auf den
verführenden Führer und seine kleine Gruppe von Nazis, die
ausschließlich für die Verbrechen an den Juden und Jüdinnen
verantwortlich waren. Als Opfer erscheinen bei diesen Erklärungen
vordergründig die Deutschen.
In diese wissenschaftliche Umgebung reihte sich Ernst Nolte mit seinen Thesen
vor dem Historikerstreit ein und konnte zu einem angesehenen Historiker werden.
Das gesellschaftspolitische Klima Deutschlands war, wie angedeutet,
maßgeblich durch den Wunsch nach Normalität geprägt. Die dunkle
Geschichte des NS stand der vollen Entfaltung der Souveränität
Deutschlands im Wege. So wurde auch auf dieser Ebene versucht, durch
Relativierung und Historisierung der NS-Vergangenheit die deutsche Schuld
abzuschütteln.
Zwar erkannte die Regierung Helmut Kohls die NS-Vergangenheit an, dennoch war
sie um ihre Entdramatisierung(7) bemüht. Man wollte mit anderen
Staaten wieder auf Augenhöhe sein. Die Politik war auf Aussöhnung mit
den Alliierten ausgerichtet. 1984 gab Kohl dem französischen
Staatspräsidenten Mitterrand auf dem Schlachtfeld von Verdun die Hand,
blieb aber vom 40. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie noch
ausgeschlossen. Ein Jahr später legte er mit dem US-Präsidenten
Reagan einen Kranz auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg nieder, auf dem auch
Soldaten der SS lagen. 1984 sprach Kohl ausgerechnet in Israel von der
Gnade der späten Geburt, was wie eine Entlassung aller Deutschen,
die nach 1928 geboren wurden, aus der Verantwortung für die Verbrechen im
NS, wirkte. Auch innenpolitisch waren alle Zeichen auf Normalisierung gesetzt.
Per Regierungserklärung wurde 1983 die Errichtung des Deutschen
Historischen Museums beschlossen, das glücklicheren und
identifikationsfähigen Perioden deutscher Geschichte(8) Raum geben sollte.
Und 1985 wollte die CDU einem Gesetz gegen das schriftliche Leugnen der
NS-Verbrechen nur zustimmen, wenn gleichzeitig auch das Leugnen von
Vertreibungsverbrechen unter Strafe gestellt werde.
Die Verwirklichung der Moral aus der Geschichte
Die Interventionen einiger Historiker im Historikerstreit richteten sich nicht
nur gegen die Vorstöße Noltes und anderer Historiker, sondern auch
gegen dieses politische Klima im westlichen Teil Deutschlands.
Die offene und öffentliche Aufarbeitung des NS und die beträchtliche
Ausweitung der Holocaust-Forschung innerhalb der Geschichtswissenschaft ist ein
Teil-Erfolg. Habermas und einige nicht-konservative Historiker entwarfen in
diesem Zuge ein anderes Konzept, wie mit der NS-Vergangenheit umzugehen sei und
wie ein Selbstverständnis Deutschlands aussehen könne. Jürgen
Habermas z.B. plädierte für einen Verfassungspatriotismus, der
einerseits die Bindung an den Westen festige und zum anderen eine
pluralistische Gesellschaft herstellen sollte, die auch differente Meinungen
aushielte und nebeneinander stehen lassen könne ohne, wie Nolte und Co.,
ein einheitliches Geschichtsbild zu benötigen. Am Besten trifft Broszat
den Kern der zukünftigen Aneignung von NS-Geschichte als politische
Prämisse: Wer den Bürgern der Bundesrepublik den
selbstkritischen Umgang mit ihrer älteren und jüngeren Geschichte
wegschwatzen will, raubt ihnen eines der besten Elemente politischer Gesinnung,
.[...] Am verräterischsten ist dabei die fundamentale Verkennung,
als sei die durch die Not erworbene moralische Sensibilität gegenüber
der eigenen Geschichte ein kultureller und politischer Nachteil verglichen mit
anderen Nationen,
[...] In solchen Perversionen patriotischer
Geschichtspolitik droht der einzige Gewinn verspielt zu werden, der der
Erfahrung der Hitlerzeit zu danken ist.(9) Im Grunde postuliert er jene
Geschichtspolitik, die unter der Regierung Schröder Realität wurde
und dem Erfolg' des Historikerstreits seinen bitteren Nachgeschmack
verleiht, denn: mit der Anerkennung der deutschen Schuld konnte ein moralischer
Vorteil gegenüber Nationen gewonnen und dem NS etwas Positives abgerungen
werden.
So wurde bekanntermaßen 1998 nicht trotz, sondern wegen Auschwitz der
Kosovo-Krieg geführt. Im gleichen Moment, in dem die deutsche Schuld
anerkannt wurde, wurde deren Relativierung und Historisierung initiiert. Die
BRD hatte es geschafft wieder als gleichberechtigte Nation neben den anderen zu
stehen und haben heute sogar noch den moralischen Joker' aufgrund
der eigenen Geschichte genau zu sehen, wann auf der Welt Ungerechtigkeit
geschieht in der Hand.
Der Schlussstrich wurde somit nicht durch die Kohl-Regierung gezogen, sondern
durch die Agenda Schröders. Im Historikerstreit wurde der Versuch
konservativer Historiker einen Schlussstrich zu ziehen, verhindert, und
gleichzeitig wurde die heutige Schlussstrichziehung vorbereitet.(10)
Gesellschaftspolitisch wurde Anfang der 1980er Jahre versucht, das (Selbst)Bild
Deutschlands mit der Relativierung des NS zu gestalten. Gelungen ist es aber
erst, als die Verantwortung für die NS-Verbrechen in die Identität
Deutschlands integriert wurde, und auf diesem Wege die Relativierung Auschwitz'
real möglich wurde.
Mandy Mercedes