Das Problem heißt: Antiziganismus
Markus End, Kathrin Herold, Yvonne Robel (Hrsg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Münster: Unrast Verlag, 2009.
Die Krux mit dem Anfang: Am besten ist es, man bietet dem Leser gleich zu
Beginn irgendetwas, was Lust auf mehr macht, einen Teaser, wie es in
Werberkreisen heißt. So ein Teaser könnte zum Beispiel subtil mit
dem Versprechen von Aktualität und Relevanz des Vorgestellten locken. Na
schön, versuchen wir es einmal so: Dieses Buch ist aktuell und relevant!
Warum also ist dieses Buch aktuell? Warum ist eine Beschäftigung
mit dem Antiziganismus relevant? Und was ist das überhaupt,
Antiziganismus?
Unter Antiziganismus (AZ) versteht man zunächst ähnlich wie unter dem
Antisemitismus oder dem Rassismus eine Form der gruppenbezogenen
Menschenfeindlichkeit. In diesem Falle richtet sie sich aber nicht gegen
die Juden oder die Neger, sondern gegen die Zigeuner(1), hat
aber sowohl mit dem Rassismus als auch mit Antisemitismus Ähnlichkeiten,
ohne in seiner Funktionsweise mit einem der beiden identisch zu sein. Der AZ
ist wie die oben genannten Menschenfeindlichkeiten eine Ideologie. Leider
erschöpft sich die Rolle der Ideologien nicht in ihrer
welterklärenden und orientierenden Funktion, sie wirken zugleich
handlungsanleitend und setzen sich in bestimmte gesellschaftliche Praxen der
Diskriminierung gegen ihre Opfer um. Dafür gab und gibt es auch im Falle
des AZ nur allzu viele Beispiele. Sie reichen von der stereotypen
Festschreibung der Zigeuner auf ihr vermeintlich exotisches Wesen in
Reiseprospekten oder auf alternativen Kulturveranstaltungen, bis hin zu
Pogromen, wie sie in Europa immer noch auf der Tagesordnung stehen. Die Autoren
und Autorinnen des vorgestellten Sammelbandes bezeichnen den AZ daher schon im
Titel des Buches als allgegenwärtiges Ressentiment und nach der
Lektüre der Aufsätze ihres Sammelbandes hat man den Eindruck, dass
diese pessimistische Einschätzung gerechtfertigt ist.
So allgegenwärtig das Ressentiment, so vielfältig die
gesellschaftlichen Bereiche, in denen man ihm begegnet und so unterschiedlich
sind auch die Methoden der Autoren des Sammelbandes, sich des Phänomens
anzunehmen. Das Buch vereint ganz unterschiedliche Beiträge: theoretische
Reflexionen, Texte zur deutschen Erinnerungspolitik, empirische
Mediendiskursanalysen und Berichte über den virulenten AZ in verschiedenen
europäischen Ländern stehen nebeneinander und bieten einen bunten
Strauß an interessanten Annäherungen zu diesem fatalerweise auch in
der ideologiekritischen Linken noch immer neuen und abgelegenen
Thema.
Antiziganismus, Arbeitsgesellschaft und Geschlechterverhältnis
Den Theorieteil eröffnet
Roswitha Scholz mit ihrem Text
Antiziganismus und Ausnahmezustand., der im Wesentlichen das
recycelt, was die Autorin in den letzten zwei Jahren schon der Zeitschrift
EXIT!, in der
Interventionen-Broschüre des Conne Island
(2) und
an diversen anderen Orten zu diesem Thema geschrieben hat. Große Teile
ihres nichtsdestotrotz sehr lesenswerten Textes sind identisch mit den
genannten früheren Versionen. Das ist etwas enttäuschend, da man
gerne mehr von ihr zu diesem Thema lesen würde. Ihr Aufsatz bleibt der
avancierteste Theorietext im Band, da sie die Entstehung und Wirkung des AZ mit
der gewaltsamen Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise in Europa
und der Spezifik der kapitalistischen Gesellschaftsformation stimmig in
Verbindung zu bringen weiß. Für ihre Engführung des AZ mit der
Entstehung der neuzeitlichen Arbeitsgesellschaft spricht, dass die
Zigeuner ursprünglich nicht als ethnische, sondern als soziale
Gruppe gefasst wurden.
(3) Der Begriff umfasste alle in der frühen Neuzeit
freigesetzten, vagierenden Massen, die erst mit brutalster staatlicher
Gewalt in die neue gesellschaftliche Ordnung gefoltert werden mussten und ein
beständiges Sicherheitsrisiko darstellten, das auch nach der
Konsolidierung der neuen Ordnung immer latent blieb. Die ambivalente
Verschränkung von sozialen und ethnischen Klassifizierungsdimensionen in
der Konstruktion der Zigeuner blieb auch nach der weitgehenden
Rassifizierung des Ressentiments in den letzten 200 Jahren erhalten. Die
Zigeuner stehen in Scholz' Theorie für das sowohl gefürchtete
und gehasste, als auch beneidete und ersehnte Gegenbild zu den modernen Lohn-
und Zwangsarbeitsverhältnissen. Das Zigeunerleben steht für
Glück ohne Arbeit, nomadische Ungebundenheit, unmittelbare Leidenschaft,
volkstümliche Musik und Tanz und ursprüngliche Gemeinschaft.
Wichtig ist hier Scholz' Vergleich von AZ und Antisemitismus, in dem sie sowohl
Parallelen, etwa die Behauptung von Heimatlosigkeit und Arbeitsscheue, als auch
Unterschiede konstatiert. Der Hauptunterschied liegt vor allem darin, dass der
AZ ein romantischer Rassismus (34)
(4) ist, der seine Opfer oftmals in
sentimentaler Weise zu edlen Wilden stilisiert, was beim Antisemitismus
nicht der Fall ist: der Jude ist ultramodern.
Beachtenswert ist Scholz' Beitrag aber vor allem auch deshalb, weil er beinahe
der einzige ist, der zumindest den Versuch einer
Erklärung des AZ
unternimmt, während sich die anderen Beiträge auf einer
beschreibenden Theorieebene oder im unerquicklichen Feld der antiziganistischen
Empirie bewegen. Scholz bleibt jedoch trotz aller Plausibilität ihrer
Ausführungen im Einzelnen eine
konsistente Erklärung schuldig.
Es werden unterschiedliche Theorien herangezogen und versichert, es
bedürfe nicht bloß rechtsphilosophischer und
politökonomischer Analysen bzw. Untersuchungen (
), sondern ebenso
sehr auch psychoanalytischer Überlegungen (33) zum Verständnis des
AZ. Wie jedoch das Verhältnis von sozialstrukturellen und
subjekttheoretischen Theorien letztlich beschaffen ist, bleibt
unerläutert. Auch wird nicht klar, ob der Antiziganismus zumindest
anfänglich einem
realen gesellschaftlichen Konflikt mit seinen
Opfern (den vagierenden Asozialen) entsprang, oder ob es sich von
vornherein um eine reine pathische Projektion im Sinne der Dialektik der
Aufklärung handelt.
(5)
Der zweite Aufsatz,
Doing Gender and Doing Gypsy von
Rafaela
Eulberg beschäftigt sich mit dem Verhältnis der
Konstruktion von Geschlecht und Ethnie (41). Dabei geht es der Autorin darum
zu zeigen, dass die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht auch für
die Kritik des Antiziganismus notwendig ist (45). Ein erster Blick auf die
Bilder von Zigeunern offenbart sofort Grenzverwischungen im
Bereich der Geschlechterordnung (46), da vor allem die Zigeunerin
nonkonform auftritt und das patriarchale Ideal einer Verbannung der Frau aus
dem öffentlichen Raum unterläuft. Indem sie schon im 18. Jahrhundert
als rauchend und Hosen tragend beschrieben wurde, missachtete sie die damaligen
Konventionen und stellte die Geschlechterordnung in Frage. An die Seite dieser
Irritationen der Genderperformance tritt jedoch eine andere, dazu
widersprüchliche Konstruktion der Zigeunerin als dezidiert
feminines Rasseweib. Eulberg zeigt zunächst die inhaltlichen Analogien in
der Konstruktion des Weiblichen und des Zigeunerischen auf.
Einige Stichpunkte sind hier die Verortung innerhalb der Felder Natur/Kultur,
Trieb/Triebbeherrschung, Intuition/Ratio, Magie/Buchreligion etc. In einem
zweiten Schritt findet Eulberg gute Gründe für ihre These, dass es
sich bei der Zigeunerin um eine Potenzierung im doppelten Sinne
handelt:
Die Zigeunerin' ist eine Potenzierung der Eigenschaften, die
Zigeunern' geschlechtsunabhängig zugeschrieben werden. Darüber
hinaus ist sie aber auch die Überzeichnung des
weiblichen Wesens.
Die Zigeunerin' ist
noch mehr Zigeuner' und
noch mehr
Frau. (48) Diese zigeunerischen Frauenimagines stellen für das
patriarchale Geschlechterverhältnis eine stete Gefahr dar, wie Eulberg
etwa an der zigeunerischen femme fatale
Carmen aus Bizets
gleichnamiger Oper aufzeigt. In ihrer ungezügelten sexuellen Leidenschaft
ist sie dem bürgerlichen Mann Verlockung und unberechenbare Gefahr
zugleich. Kann der Mann die pulsierende Sexualität der Zigeunerin
nicht unter seine Kontrolle bringen, so verfällt er ihr, was mit dem
Ausschluss aus der bürgerlichen Ordnung bestraft wird. Seinen
Machtanspruch über die freiheitsliebende Zigeunerin stellt der
hörige Mann in derlei Zigeuner-Erzählungen
regelmäßig durch Gewalt wieder her: in der Oper bringt José
Carmen am Ende um.
Die Zigeuner in der Wissenschaft und ein kleines
Sakrileg
Im Anschluss daran stellt
Jan Severin die
Elemente des
Rassismus in den Zigeuner'-Bildern der deutschsprachigen Ethnologie
dar. Seine historische Skizze setzt ein mit dem Schaffen Heinrich Grellmanns,
der im ausgehenden 18. Jahrhundert den Beginn des modernen
(pseudo-)wissenschaftlichen Forschens über Zigeuner markierte. Im
Unterschied zum notorischen Aufklärungsbashing in antirassistischen
Kontexten
(6) gelingt es Severin zumindest auf die Spannung im Projekt der
Aufklärung (75) hinzuweisen. Diese kann als Konflikt zwischen einer
Tendenz zur zunehmenden Biologisierung des Menschenbildes auf der Grundlage
eines naturwissenschaftlichen Weltbildes
einerseits und den
universalistischen Proklamationen einer grundsätzlichen
Perfektibilität des Menschen (ebd.)
andererseits verstanden
werden. Severin zeichnet nun nach, wie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die
bei Grellmann noch bedeutsamen soziohistorischen Kategorien verlieren und einer
immer stärkeren Betonung biologischer Rassekonzepte Platz machte.
Diese Entwicklung mündete schließlich in die nicht mehr
ethnographische, sondern rein rassehygienische Zigeunerforschung im NS.
Deren prominenteste Vertreter genossen in der postnazistischen BRD noch
jahrzehntelang ein hervorragendes Renommee als Zigeunerexperten (vgl.
11ff; 26ff; 84ff), nutzten die zahlreichen Erkenntnisse aus dem NS
weiter und arbeiteten als Politikberater unter anderem für verschiedene
Ministerien, kirchliche Einrichtungen, das BKA und zahlreiche wissenschaftliche
Publikationen.
Wie stark diese Rassenkonzepte in der deutschen Ethnologie noch heute
fortwirken, zeigt Severin anhand der Arbeiten von Bernhard Streck, der derzeit
die Leipziger Professur für Ethnologie hält. Streck bestätigt in
seinen Arbeiten altbekannte Klischees, wenn er die Zigeuner als
ausbeuterische Paria-Gruppe schildert. Das klingt dann so: Die
Nichtzigeuner sind die Quellen des zigeunerischen Einkommens; es kann keine
Sünde sein, an ihnen zu verdienen, sie auszunehmen, sie zu
übervorteilen. (Streck zitiert nach Severin, 67) Streck, der seit 1998
regelmäßig an der Uni Leipzig Veranstaltungen zur
Tsiganologie anbietet und in seinen Arbeiten u.a. von
Blutmischungen oder Rassenunterschieden fabuliert, verdiente
sicher mehr Aufmerksamkeit lokaler Antira-Initiativen
Unabhängig von den Entwicklungen sind die Kontinuitäten in den
(wissenschaftlichen) Zuschreibungen an die Zigeuner über die
Jahrhunderte hinweg erschreckend. Dabei ist es letztlich egal, mittels welcher
definitionsrelevanter Merkmale die Zigeuner als vermeintlich
geschlossenes Kollektiv bestimmt werden, ob also ihre Herkunft, ihre
Rasse, ihre Kultur oder ihre parasitäre
Wirtschaftsweise ihr Wesen ausmachen. Interessant sind bei der
Kontinuität der Zuschreibungen die Unterschiede in der Bewertung, wobei
sich zwei Typen ausmachen lassen: Einerseits eine negative Bewertung der
angeblichen zigeunerischen Faulheit, Asozialität, Kriminalität
usw. andererseits aber auch die Instrumentalisierung der Zigeuner als
positives Vehikel einer romantischen Kulturkritik, in der die Zigeuner
als beispielhafte Widerstandskultur gegen die kritisierte moderne
Disziplinargesellschaft (91) herhalten müssen. Derlei Widerlichkeiten
wurden in den letzten Jahrzehnten vor allem in der zivilisationsmüden
linksalternativen Szene goutiert.
Dass auch der Großmeister Theodor W. Adorno bisweilen nicht vor solchen
Anwandlungen gefeit war, zeigt
Markus End in seinem Beitrag
Adorno und die Zigeuner'. Zwar wirkt die Zusammenschau der
Stellen aus der Adorno-Gesamtausgabe wie das Resultat einer Schlagwortsuche in
der Digitalversion, doch ist dies kaum relevant, da es nicht Ends Anliegen ist,
mit einer handvoll Zitaten das Lebenswerk Adornos zu erledigen. End geht es
eben nicht nur darum zu zeigen, dass Adorno Zigeuner-Stereotype
verwendet, was dieser zweifellos tut, sondern er fragt nach der Funktion dieser
Stereotype als Metaphern innerhalb der Adorno'schen Gesellschaftstheorie.
Adorno kontrastiert der radikal vergesellschaftete[n] Gesellschaft und
ihrer verwaltende[n] Vernunft
(7) das Zigeunerische als Metapher
für das Spontane, sinnlich Lockende, nicht sesshaft Eingeordnete,
sondern schweifend Unmittelbare
(8). Zwar weist Adorno bisweilen auch auf den
gesellschaftlichen Hass als Ursache für die Lebensumstände der
Zigeuner hin und er unterstellt ihnen keinen besseren
Gesellschaftsentwurf, doch bleibt sein Zigeunerbild alles in allem eine
Projektion essentielle[r] Anti-Bürgerlichkeit (107). Hier
überschneiden sich die Vorstellungswelten und Motive des Philoziganismus
und der romantisch inspirierten Gesellschaftskritik Adornos. Nicht
unerwähnt bleiben soll, dass End gleichzeitig auf das große
Potential verweist, dass die ideologiekritischen Überlegungen Adornos etwa
zum Antisemitismus für eine Kritik und Erklärung des Antiziganismus
bereithält.
Meiner Einschätzung nach stellen Ends Untersuchungen zwar nicht Alfred
Schmidts Einschätzung Adornos als Philosoph des realen Humanismus
infrage, doch geben seine Hinweise sicher Anlass, die romantisch-antimodernen
Einflüsse auf Adornos Denken einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Vergessene Opfer Gedenkpolitik als Kampf um Anerkennung
Die beiden Mit-Herausgeberinnen
Kathrin Herold
(Bleiberechtskämpfe der Hamburger Roma an der KZ-Gedenkstätte
Neuengamme) und
Yvonne Robel (Konkurrenz und Uneinigkeit. Zur
gedenkpolitischen Stereotypisierung der Roma) decken mit ihren Arbeiten
den gedenkpolitischen Teil des Buches ab. Ihre Texte sind zwar materialreich
und gut recherchiert, lesen sich dabei aber ziemlich dröge. Wer sich
für die Aktivitäten der Hamburger Gruppe RCU (Rom & Cinti Gruppe)
Ende der Achtziger Jahre interessiert, kann hier auf 25 Seiten nachlesen und
erfährt dabei, wie erfolgreiche antirassistische
Öffentlichkeitsarbeit aussehen kann. Herold und Robel berichten von den
Schwierigkeiten der vergessenen Opfer (110) wobei dieser Ausdruck
den Sachverhalt noch verharmlost überhaupt den Status von
Gedenkrelevanz und Betrauerungswürdigkeit (127) zu erlangen.
Robel verdeutlicht dies am Beispiel der Auseinandersetzungen um ein Denkmal
für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin. Dabei lassen sich neben
einigen Besonderheiten dieser Debatte auch viele Aspekte wieder finden, die
schon aus dem Kontext der Debatten um ein adäquates Gedenken an die Shoah
bekannt sind: Verleugnung, Verschleppung, Selbstviktimisierung,
Universalisierung und Relativierung heißen einige der Strategien, mit
denen man in Deutschland bisher immer gut gefahren ist. Eine besonders perfide
neue Strategie ist die Rede von einer Opferkonkurrenz (115ff.). Mit ihr
bringen deutsche Leitartikler ihre Verständnislosigkeit angesichts eines
angeblichen Gerangels von Juden, Schwulen und Zigeunern um die
Fleischtöpfe des Gedenkens zum Ausdruck wie pietätslos! Die
Rede von der Opferkonkurrenz ist dabei ein bequemes Mittel, die mangelhafte
Institutionalisierung des Gedenkens den vermeintlich miteinander
konkurrierenden und intern zerstrittenen Opfergruppen in die Schuhe zu
schieben. Neben diesen Formen des Umgangs mit der Vergangenheit bleibt für
die Unerschrockenen immer noch die Möglichkeit auf den guten alten
Nationalstolz zu pochen wir müssen noch erhobenen Hauptes
durch die Stadt gehen können(Klaus Landowsky, CDU) und die
besonders Gewitzten warnen vor einer drohenden Inflationierung des
Gedenkens
bevor eine Aufarbeitung der Vergangenheit überhaupt
begonnen hat.
Antiziganismus heute vom Exotismus zum Pogrom
Abschließend möchte ich noch kurz auf einige Aufsätze
eingehen, die sich mit der eingangs erwähnten Aktualität des
antiziganistischen Ressentiments befassen. Dabei zeigt sich, dass die Spanne
der heutigen Diskriminierung von eher harmlosen Varianten eines
Alltags-AZ bis hin zur mörderischen Pogromhetze reichen.
Wie das Bild des Zigeuners mit den einschlägigen Zuschreibungen in
medialen und kulturellen Erzeugnissen wieder und wieder produziert wird, zeigen
Petra Maurer anhand der deutschen Kinder- und Jugendbuchliteratur, sowie
Ines Busch am Beispiel einer Hochglanz-Fotoreportage der Zeitschrift
National Geographic. Beiden Texten gelingt sehr überzeugend der
Nachweis eines Fortlebens altbekannter Stereotype, auch wenn sie in den
herangezogenen Beispielen zumeist in der unschuldigen Form eines exotisierenden
Positiv-Rassismus daherkommen.
Busch fördert präzise die mitunter sehr subtilen fotografischen
Inszenierungstechniken zutage, die bei der visuellen Konstruktion des
Zigeuners Anwendung finden. Dieses Sichtbarmachen der fotografischen
Konstruktionsprinzipien liest sich spannend, denn gerade Fotografien,
besonders Reisefotografien, inszenieren deutlich stärker als Gemälde
eine an der Erinnerung orientierte Nachbildung von
Realität
(
) [und] werden (
) im Allgemeinen als neutrale, objektive Zeugnisse
von Wirklichkeit von Geschehenem verwendet und rezipiert. (162) Letztlich
sagen aber die durch bestimmte Blickhachsen, Perspektiven, Personenanordnungen,
Locations, Motive, Auswahlverfahren
(9) etc.
stilisierten Fotografien mehr
über das Subjekt hinter der Linse und die (antizipierten) Wünsche der
nichtzigeunerischen Kundschaft aus, als über die scheinbar
authentisch dokumentierten Zigeuner, deren Lebensrealität hinter
einer Menge Ethnokitsch verschwindet. Diese Fotos sind daher Zeugnisse
eines kategorisierenden und hierarchisierenden Blicks, (
) kulturelle
Artefakte. (165)
Dass der exotisierende Ausschluss der Anderen immer auch umschlagen kann
in Hetze und Verfolgung, bezeugen die Wellen der Gewalt, die als
Zigeuner stigmatisierte Menschen in vielen europäischen Staaten
regelmäßig treffen. Aus osteuropäischen Ländern wie
Ungarn, Rumänien
(10) und der Slowakei kommen immer wieder Horrormeldungen
über Morde und Ausschreitungen des antiziganistischen Mobs, Medienhetze,
Polizei- und Militäreinsätze und Zwangssterilisierungen, die den
Alltag der ohnehin sozial deklassierten Roma zur Hölle machen. Dies
bedeutet aber nicht, dass Gewalt gegen Roma und Sinti in Westeuropa nicht
existierte, wie
Katrin Lange in ihrem Portrait der antiziganistischen
Stimmungsmache in Italien zeigt. Die Konjunktur des AZ in Osteuropa steht eng
mit dem Wiedererstarken des Nationalismus nach dem Zusammenbruch der
sozialistischen Ordnung 1989ff. in Verbindung.
Einen traurigen Höhepunkt dieser Entwicklungen stellten die von einem
völkischen albanischen Mob unter den Augen der Internationalen
Gemeinschaft durchgeführten Massenvertreibungen von Roma aus dem Kosovo
dar.
Dirk Auer beschreibt, wie der Zerfall des multiethnischen
Jugoslawiens, das besonders unter Tito von den meisten Roma als goldenes
Zeitalter von Integration und Prosperität wahrgenommen wurde, zu einer
vollkommenen sozialen Desintegration führte. Die Roma gerieten zwischen
die Fronten der nationalistischen Auseinandersetzungen von Serben und Albanern
und waren plötzlich fremd im eigenen Land. Etwa zwei Drittel der
kosovarischen Roma, über 100 000 Menschen, wurden im Rahmen des ethnischen
Homogenisierungsprojekts albanischer Nationalisten aus ihren Häusern
vertrieben und leben nun zumeist in Flüchtlingslagern oder im Exil. Sie
sind die vergessenen Opfer eines Konfliktes mitten in Europa (258).
Als Fazit lässt sich sagen, dass Antiziganistische Zustände
eine lohnenswerte Lektüre ist. Zwar hat der Band manche
theoretisch-systematische Mängel, was sicher auch (aber nicht nur) der
Form der Aufsatzsammlung geschuldet ist, doch bietet er Lesern und Leserinnen,
die sich mit dem Thema noch nicht auseinandergesetzt haben, einen informativen
Einstieg, der die Komplexität des sträflich vernachlässigten
Antiziganismus deutlich werden lässt. Hoffentlich hilft das Buch, den
gigantischen Blinden Fleck (Roswitha Scholz), den der Antiziganismus
auch in Leipziger Debatten darstellt, ein wenig zum schrumpfen zu bringen.
Johannes Knauss
Antiziganismus in Wort und Bild:
Gerhard Schöne ist ein ostdeutscher Kinderliedermacher, der für seine „immer einfühlsam[en], oft gesellschaftskritisch[en]“ Texte bekannt ist (Wikipedia). Was fällt so einem wohl ein, wenn er das hier dargestellte Gemälde „Schlafende Zigeunerin“ (1897) von Henri Rousseau vertont?
Das:
„Wer liegt im Staub und träumt da vor sich hin?/ Das ist Raj, die Zigeunerin,/ auf ihrer Wanderschaft./ Sie schläft im weißen Mondenlicht/ und sammelt neue Kraft.
Warum schläft sie denn nicht in einem Bett?/ Ihr Bett sind Steine, Gras und Moos,/ ihr Tisch sind Wald und Feld,/ ihr Haus der ganze Erdenball,/ ihr Dach das Himmelszelt.
Hat sie denn keine Angst da so allein?/ Zu stehlen gibt es bei ihr nichts/ als eine Melodie./ Und alle Tiere sind ihr gut/ drum fürchtet sie sich nie.
Was will der wilde Löwe hinter ihr?/ Er schleicht sich hungrig nah heran./ Im letzten Augenblick/ sieht er, ’s ist die Zigeunerin,/ und schon weicht er zurück.
Warum tun wilde Tiere ihr nichts an?/ Weil Raj auch ihre Sprache kennt./ Sie spricht mit Mond und Stern,/ mit Berg und Baum und jedem Tier,/ drum hat sie jeder gern.
Und warum wandert sie denn durch die Welt?/ Ihr Herz ist groß und ruhelos,/ drum bleibt sie nirgend lang./ Und wenn sie eines Tages stirbt,/ dann bleibt nur ihr Gesang.“
Aus: Gerhard Schöne: Kinder-Lieder-Galerie. Berlin, 1990. Zitiert nach Ines Busch in: a.a.O., S.158f.
Anmerkungen
(1) Die Anführungszeichen im Text sollen klar machen, dass ich hier
die rassistischen, antisemitischen und antiziganistischen ideologischen Sprech-
und Denkweisen zitiere und nicht über empirische Roma, Juden usw.
rede.
(2) http://interventionen.conne-island.de
(3) Auf diese Besonderheit des AZ machen auch andere Autoren und Autorinnen des
Sammelbands aufmerksam.
(4) Alle Zitate aus dem rezensierten Buch belege ich mit der eingeklammerten
Seitenzahl im Text.
(5) Vgl. Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung.
Frankfurt a.M. 2003, S. 196ff.
(6) Zum Beispiel in
Lou Sanders Text
Schwarz Weiß
Rot Gold aus der oben angeführten
Interventionen-Broschüre aber auch bei der bereits genannten
Roswitha Scholz. Das gleiche gibt's auch in antisexistischen Debatten. Für
einen Eindruck kann man den Gender-Schwerpunkt der aktuellen
Phase2-Ausgabe heranziehen, besonders die durch und durch
reaktionären Bemerkungen von Katrin Köppert zum
Freiheitsglauben, dem man in weißen Diskursen wie dem
Marxismus naiverweise immer noch nachhängt.
(7) AGS 8, S.133, nach Severin S. 104.
(8) AGS 15, S. 53, nach Severin S. 102.
(9) In der Produktion der Bildserien des
National Geographic wird nichts dem Zufall überlassen: Die 20 Bilder, die es am Ende ins Heft schaffen, sind eine winzige Auswahl aus ca. 29.000 (!) Bildern, die pro Auftrag geschossen werden. Die Bilder repräsentieren daher eher vorgesehene Sichtweisen auf die Welt(162) als unverstellte, spontane Momentaufnahmen. Die
Bilder kann man sich hier ansehen:
http://ngm.nationalgeographic.com/ngm/0104/feature4/media2.html
(10) Die rumänische Situation wird im Beitrag von
Anda Nicolae Vladu und
Malte Kleinschmidt untersucht.