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Aktuelles Heft

INHALT #168

Titelbild
Editorial
Bilder im Heft
• das erste: An den Stadtrand abgeschoben
Chuck Ragan, Fake Problems, Digger Barnes
From Amen to Z
It’s all about the skit
RAEKWON
Station 17
electric island
Joker
Antitainment
On, Common Cause
Veranstaltungsanzeigen
Einladung an alle aktiven Gruppen im und ums Conne Island
• ABC: R wie Rassismustheorie
• review-corner buch: Das Problem heißt: Antiziganismus
• cyber-report: Nenne eine deutsche feministische Linguistin…
Kunst der Entfesselung
• doku: Still not lovin‘ Germany
• doku: Veranstaltungen
• sport: Ultras Red Bulls
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• das letzte: Sommerzeit – Reisezeit

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Das Problem heißt: Antiziganismus

BuchcoverMarkus End, Kathrin Herold, Yvonne Robel (Hrsg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Münster: Unrast Verlag, 2009.


Die Krux mit dem Anfang: Am besten ist es, man bietet dem Leser gleich zu Beginn irgendetwas, was Lust auf mehr macht, einen „Teaser“, wie es in Werberkreisen heißt. So ein Teaser könnte zum Beispiel subtil mit dem Versprechen von Aktualität und Relevanz des Vorgestellten locken. Na schön, versuchen wir es einmal so: Dieses Buch ist aktuell und relevant!

Warum also ist dieses Buch aktuell? Warum ist eine Beschäftigung mit dem Antiziganismus relevant? Und was ist das überhaupt, „Antiziganismus“?
Unter Antiziganismus (AZ) versteht man zunächst ähnlich wie unter dem Antisemitismus oder dem Rassismus eine Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. In diesem Falle richtet sie sich aber nicht gegen „die Juden“ oder „die Neger“, sondern gegen „die Zigeuner“(1), hat aber sowohl mit dem Rassismus als auch mit Antisemitismus Ähnlichkeiten, ohne in seiner Funktionsweise mit einem der beiden identisch zu sein. Der AZ ist wie die oben genannten Menschenfeindlichkeiten eine Ideologie. Leider erschöpft sich die Rolle der Ideologien nicht in ihrer „welterklärenden“ und orientierenden Funktion, sie wirken zugleich handlungsanleitend und setzen sich in bestimmte gesellschaftliche Praxen der Diskriminierung gegen ihre Opfer um. Dafür gab und gibt es auch im Falle des AZ nur allzu viele Beispiele. Sie reichen von der stereotypen Festschreibung der „Zigeuner“ auf ihr vermeintlich exotisches Wesen in Reiseprospekten oder auf „alternativen“ Kulturveranstaltungen, bis hin zu Pogromen, wie sie in Europa immer noch auf der Tagesordnung stehen. Die Autoren und Autorinnen des vorgestellten Sammelbandes bezeichnen den AZ daher schon im Titel des Buches als „allgegenwärtiges Ressentiment“ und nach der Lektüre der Aufsätze ihres Sammelbandes hat man den Eindruck, dass diese pessimistische Einschätzung gerechtfertigt ist.
So allgegenwärtig das Ressentiment, so vielfältig die gesellschaftlichen Bereiche, in denen man ihm begegnet und so unterschiedlich sind auch die Methoden der Autoren des Sammelbandes, sich des Phänomens anzunehmen. Das Buch vereint ganz unterschiedliche Beiträge: theoretische Reflexionen, Texte zur deutschen Erinnerungspolitik, empirische Mediendiskursanalysen und Berichte über den virulenten AZ in verschiedenen europäischen Ländern stehen nebeneinander und bieten einen bunten Strauß an interessanten Annäherungen zu diesem fatalerweise auch in der ideologiekritischen Linken noch immer „neuen“ und „abgelegenen“ Thema.

Antiziganismus, Arbeitsgesellschaft und Geschlechterverhältnis

Den Theorieteil eröffnet Roswitha Scholz mit ihrem Text „Antiziganismus und Ausnahmezustand.“, der im Wesentlichen das recycelt, was die Autorin in den letzten zwei Jahren schon der Zeitschrift EXIT!, in der Interventionen-Broschüre des Conne Island(2) und an diversen anderen Orten zu diesem Thema geschrieben hat. Große Teile ihres nichtsdestotrotz sehr lesenswerten Textes sind identisch mit den genannten früheren Versionen. Das ist etwas enttäuschend, da man gerne mehr von ihr zu diesem Thema lesen würde. Ihr Aufsatz bleibt der avancierteste Theorietext im Band, da sie die Entstehung und Wirkung des AZ mit der gewaltsamen Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise in Europa und der Spezifik der kapitalistischen Gesellschaftsformation stimmig in Verbindung zu bringen weiß. Für ihre Engführung des AZ mit der Entstehung der neuzeitlichen Arbeitsgesellschaft spricht, dass die „Zigeuner“ ursprünglich nicht als ethnische, sondern als soziale Gruppe gefasst wurden.(3) Der Begriff umfasste alle in der frühen Neuzeit „freigesetzten“, vagierenden Massen, die erst mit brutalster staatlicher Gewalt in die neue gesellschaftliche Ordnung gefoltert werden mussten und ein beständiges Sicherheitsrisiko darstellten, das auch nach der Konsolidierung der neuen Ordnung immer latent blieb. Die ambivalente Verschränkung von sozialen und ethnischen Klassifizierungsdimensionen in der Konstruktion der „Zigeuner“ blieb auch nach der weitgehenden Rassifizierung des Ressentiments in den letzten 200 Jahren erhalten. Die „Zigeuner“ stehen in Scholz' Theorie für das sowohl gefürchtete und gehasste, als auch beneidete und ersehnte Gegenbild zu den modernen Lohn- und Zwangsarbeitsverhältnissen. Das „Zigeunerleben“ steht für Glück ohne Arbeit, nomadische Ungebundenheit, unmittelbare Leidenschaft, volkstümliche Musik und Tanz und ursprüngliche Gemeinschaft.
Wichtig ist hier Scholz' Vergleich von AZ und Antisemitismus, in dem sie sowohl Parallelen, etwa die Behauptung von Heimatlosigkeit und Arbeitsscheue, als auch Unterschiede konstatiert. Der Hauptunterschied liegt vor allem darin, dass der AZ ein „romantischer Rassismus“ (34)(4) ist, der seine Opfer oftmals in sentimentaler Weise zu „edlen Wilden“ stilisiert, was beim Antisemitismus nicht der Fall ist: „der Jude“ ist ultramodern.
Beachtenswert ist Scholz' Beitrag aber vor allem auch deshalb, weil er beinahe der einzige ist, der zumindest den Versuch einer Erklärung des AZ unternimmt, während sich die anderen Beiträge auf einer beschreibenden Theorieebene oder im unerquicklichen Feld der antiziganistischen Empirie bewegen. Scholz bleibt jedoch trotz aller Plausibilität ihrer Ausführungen im Einzelnen eine konsistente Erklärung schuldig. Es werden unterschiedliche Theorien herangezogen und versichert, es bedürfe „nicht bloß rechtsphilosophischer und politökonomischer Analysen bzw. Untersuchungen (…), sondern ebenso sehr auch psychoanalytischer Überlegungen“ (33) zum Verständnis des AZ. Wie jedoch das Verhältnis von sozialstrukturellen und subjekttheoretischen Theorien letztlich beschaffen ist, bleibt unerläutert. Auch wird nicht klar, ob der Antiziganismus zumindest anfänglich einem realen gesellschaftlichen Konflikt mit seinen Opfern (den vagierenden „Asozialen“) entsprang, oder ob es sich von vornherein um eine reine „pathische Projektion“ im Sinne der Dialektik der Aufklärung handelt.(5)
Der zweite Aufsatz, „Doing Gender and Doing Gypsy“ von Rafaela Eulberg beschäftigt sich mit dem „Verhältnis der Konstruktion von Geschlecht und Ethnie“ (41). Dabei geht es der Autorin darum zu zeigen, „dass die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht auch für die Kritik des Antiziganismus notwendig ist“ (45). Ein erster Blick auf die Bilder von „Zigeunern“ offenbart sofort „Grenzverwischungen im Bereich der Geschlechterordnung“ (46), da vor allem „die Zigeunerin“ nonkonform auftritt und das patriarchale Ideal einer Verbannung der Frau aus dem öffentlichen Raum unterläuft. Indem sie schon im 18. Jahrhundert als rauchend und Hosen tragend beschrieben wurde, missachtete sie die damaligen Konventionen und stellte die Geschlechterordnung in Frage. An die Seite dieser Irritationen der Genderperformance tritt jedoch eine andere, dazu widersprüchliche Konstruktion der „Zigeunerin“ als dezidiert feminines Rasseweib. Eulberg zeigt zunächst die inhaltlichen Analogien in der Konstruktion des „Weiblichen“ und des „Zigeunerischen“ auf. Einige Stichpunkte sind hier die Verortung innerhalb der Felder Natur/Kultur, Trieb/Triebbeherrschung, Intuition/Ratio, Magie/Buchreligion etc. In einem zweiten Schritt findet Eulberg gute Gründe für ihre These, dass es sich bei „der Zigeunerin“ um eine „Potenzierung“ im doppelten Sinne handelt:
„Die ‚Zigeunerin' ist eine Potenzierung der Eigenschaften, die ‚Zigeunern' geschlechtsunabhängig zugeschrieben werden. Darüber hinaus ist sie aber auch die Überzeichnung des weiblichen Wesens. Die ‚Zigeunerin' ist noch mehr ‚Zigeuner' und noch mehr Frau.“ (48) Diese „zigeunerischen“ Frauenimagines stellen für das patriarchale Geschlechterverhältnis eine stete Gefahr dar, wie Eulberg etwa an der „zigeunerischen“ femme fatale Carmen aus Bizets gleichnamiger Oper aufzeigt. In ihrer ungezügelten sexuellen Leidenschaft ist sie dem bürgerlichen Mann Verlockung und unberechenbare Gefahr zugleich. Kann der Mann die pulsierende Sexualität der „Zigeunerin“ nicht unter seine Kontrolle bringen, so verfällt er ihr, was mit dem Ausschluss aus der bürgerlichen Ordnung bestraft wird. Seinen Machtanspruch über die freiheitsliebende „Zigeunerin“ stellt der hörige Mann in derlei „Zigeuner“-Erzählungen regelmäßig durch Gewalt wieder her: in der Oper bringt José Carmen am Ende um.

Die „Zigeuner“ in der „Wissenschaft“ und ein kleines Sakrileg

Im Anschluss daran stellt Jan Severin die „Elemente des Rassismus in den ‚Zigeuner'-Bildern der deutschsprachigen Ethnologie“ dar. Seine historische Skizze setzt ein mit dem Schaffen Heinrich Grellmanns, der im ausgehenden 18. Jahrhundert den Beginn des modernen (pseudo-)wissenschaftlichen Forschens über „Zigeuner“ markierte. Im Unterschied zum notorischen Aufklärungsbashing in antirassistischen Kontexten(6) gelingt es Severin zumindest auf die „Spannung im Projekt der Aufklärung“ (75) hinzuweisen. Diese kann als Konflikt zwischen einer Tendenz zur zunehmenden Biologisierung des Menschenbildes auf der Grundlage eines naturwissenschaftlichen Weltbildes einerseits und den universalistischen Proklamationen einer „grundsätzlichen Perfektibilität des Menschen“ (ebd.) andererseits verstanden werden. Severin zeichnet nun nach, wie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die bei Grellmann noch bedeutsamen soziohistorischen Kategorien verlieren und einer immer stärkeren Betonung „biologischer“ Rassekonzepte Platz machte. Diese Entwicklung mündete schließlich in die nicht mehr ethnographische, sondern rein rassehygienische „Zigeunerforschung“ im NS. Deren prominenteste Vertreter genossen in der postnazistischen BRD noch jahrzehntelang ein hervorragendes Renommee als „Zigeunerexperten“ (vgl. 11ff; 26ff; 84ff), nutzten die zahlreichen „Erkenntnisse“ aus dem NS weiter und arbeiteten als Politikberater unter anderem für verschiedene Ministerien, kirchliche Einrichtungen, das BKA und zahlreiche wissenschaftliche Publikationen.
Wie stark diese Rassenkonzepte in der deutschen Ethnologie noch heute fortwirken, zeigt Severin anhand der Arbeiten von Bernhard Streck, der derzeit die Leipziger Professur für Ethnologie hält. Streck bestätigt in seinen Arbeiten altbekannte Klischees, wenn er die „Zigeuner“ als ausbeuterische Paria-Gruppe schildert. Das klingt dann so: „Die Nichtzigeuner sind die Quellen des zigeunerischen Einkommens; es kann keine Sünde sein, an ihnen zu verdienen, sie auszunehmen, sie zu übervorteilen.“ (Streck zitiert nach Severin, 67) Streck, der seit 1998 regelmäßig an der Uni Leipzig Veranstaltungen zur „Tsiganologie“ anbietet und in seinen Arbeiten u.a. von „Blutmischungen“ oder „Rassenunterschieden“ fabuliert, verdiente sicher mehr Aufmerksamkeit lokaler Antira-Initiativen…
Unabhängig von den Entwicklungen sind die Kontinuitäten in den („wissenschaftlichen“) Zuschreibungen an „die Zigeuner“ über die Jahrhunderte hinweg erschreckend. Dabei ist es letztlich egal, mittels welcher definitionsrelevanter Merkmale „die Zigeuner“ als vermeintlich geschlossenes Kollektiv bestimmt werden, ob also ihre „Herkunft“, ihre „Rasse“, ihre „Kultur“ oder ihre „parasitäre Wirtschaftsweise“ ihr Wesen ausmachen. Interessant sind bei der Kontinuität der Zuschreibungen die Unterschiede in der Bewertung, wobei sich zwei Typen ausmachen lassen: Einerseits eine negative Bewertung der angeblichen „zigeunerischen“ Faulheit, Asozialität, Kriminalität usw. andererseits aber auch die Instrumentalisierung der „Zigeuner“ als positives Vehikel einer romantischen Kulturkritik, in der die „Zigeuner“ als beispielhafte „Widerstandskultur gegen die kritisierte moderne Disziplinargesellschaft“ (91) herhalten müssen. Derlei Widerlichkeiten wurden in den letzten Jahrzehnten vor allem in der zivilisationsmüden linksalternativen Szene goutiert.
Dass auch der Großmeister Theodor W. Adorno bisweilen nicht vor solchen Anwandlungen gefeit war, zeigt Markus End in seinem Beitrag „Adorno und die ‚Zigeuner'“. Zwar wirkt die Zusammenschau der Stellen aus der Adorno-Gesamtausgabe wie das Resultat einer Schlagwortsuche in der Digitalversion, doch ist dies kaum relevant, da es nicht Ends Anliegen ist, mit einer handvoll Zitaten das Lebenswerk Adornos zu erledigen. End geht es eben nicht nur darum zu zeigen, dass Adorno „Zigeuner“-Stereotype verwendet, was dieser zweifellos tut, sondern er fragt nach der Funktion dieser Stereotype als Metaphern innerhalb der Adorno'schen Gesellschaftstheorie. Adorno kontrastiert der „radikal vergesellschaftete[n] Gesellschaft“ und ihrer „verwaltende[n] Vernunft“(7) das „Zigeunerische“ als Metapher für „das Spontane, sinnlich Lockende, nicht sesshaft Eingeordnete, sondern schweifend Unmittelbare“(8). Zwar weist Adorno bisweilen auch auf den gesellschaftlichen Hass als Ursache für die Lebensumstände der „Zigeuner“ hin und er unterstellt „ihnen“ keinen besseren Gesellschaftsentwurf, doch bleibt sein „Zigeunerbild“ alles in allem eine Projektion „essentielle[r] Anti-Bürgerlichkeit“ (107). Hier überschneiden sich die Vorstellungswelten und Motive des Philoziganismus und der romantisch inspirierten Gesellschaftskritik Adornos. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass End gleichzeitig auf das große Potential verweist, dass die ideologiekritischen Überlegungen Adornos etwa zum Antisemitismus für eine Kritik und Erklärung des Antiziganismus bereithält.
Meiner Einschätzung nach stellen Ends Untersuchungen zwar nicht Alfred Schmidts Einschätzung Adornos als „Philosoph des realen Humanismus“ infrage, doch geben seine Hinweise sicher Anlass, die romantisch-antimodernen Einflüsse auf Adornos Denken einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

„Vergessene Opfer“ – Gedenkpolitik als Kampf um Anerkennung

Die beiden Mit-Herausgeberinnen Kathrin Herold („Bleiberechtskämpfe der Hamburger Roma an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme“) und Yvonne Robel („Konkurrenz und Uneinigkeit. Zur gedenkpolitischen Stereotypisierung der Roma“) decken mit ihren Arbeiten den gedenkpolitischen Teil des Buches ab. Ihre Texte sind zwar materialreich und gut recherchiert, lesen sich dabei aber ziemlich dröge. Wer sich für die Aktivitäten der Hamburger Gruppe RCU (Rom & Cinti Gruppe) Ende der Achtziger Jahre interessiert, kann hier auf 25 Seiten nachlesen und erfährt dabei, wie erfolgreiche antirassistische Öffentlichkeitsarbeit aussehen kann. Herold und Robel berichten von den Schwierigkeiten der „vergessenen Opfer“ (110) – wobei dieser Ausdruck den Sachverhalt noch verharmlost – überhaupt den Status von „Gedenkrelevanz“ und „Betrauerungswürdigkeit“ (127) zu erlangen. Robel verdeutlicht dies am Beispiel der Auseinandersetzungen um ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin. Dabei lassen sich neben einigen Besonderheiten dieser Debatte auch viele Aspekte wieder finden, die schon aus dem Kontext der Debatten um ein adäquates Gedenken an die Shoah bekannt sind: Verleugnung, Verschleppung, Selbstviktimisierung, Universalisierung und Relativierung heißen einige der Strategien, mit denen man in Deutschland bisher immer gut gefahren ist. Eine besonders perfide neue Strategie ist die Rede von einer „Opferkonkurrenz“ (115ff.). Mit ihr bringen deutsche Leitartikler ihre Verständnislosigkeit angesichts eines angeblichen Gerangels von Juden, Schwulen und „Zigeunern“ um die Fleischtöpfe des Gedenkens zum Ausdruck – wie pietätslos! Die Rede von der Opferkonkurrenz ist dabei ein bequemes Mittel, die mangelhafte Institutionalisierung des Gedenkens den vermeintlich miteinander konkurrierenden und intern zerstrittenen Opfergruppen in die Schuhe zu schieben. Neben diesen Formen des Umgangs mit der Vergangenheit bleibt für die Unerschrockenen immer noch die Möglichkeit auf den guten alten Nationalstolz zu pochen – „wir müssen noch erhobenen Hauptes durch die Stadt gehen können“(Klaus Landowsky, CDU) – und die besonders Gewitzten warnen vor einer drohenden „Inflationierung des Gedenkens“ bevor eine Aufarbeitung der Vergangenheit überhaupt begonnen hat.

Antiziganismus heute – vom Exotismus zum Pogrom

Abschließend möchte ich noch kurz auf einige Aufsätze eingehen, die sich mit der eingangs erwähnten Aktualität des antiziganistischen Ressentiments befassen. Dabei zeigt sich, dass die Spanne der heutigen Diskriminierung von eher „harmlosen“ Varianten eines Alltags-AZ bis hin zur mörderischen Pogromhetze reichen.
Wie das Bild des „Zigeuners“ mit den einschlägigen Zuschreibungen in medialen und kulturellen Erzeugnissen wieder und wieder produziert wird, zeigen Petra Maurer anhand der deutschen Kinder- und Jugendbuchliteratur, sowie Ines Busch am Beispiel einer Hochglanz-Fotoreportage der Zeitschrift National Geographic. Beiden Texten gelingt sehr überzeugend der Nachweis eines Fortlebens altbekannter Stereotype, auch wenn sie in den herangezogenen Beispielen zumeist in der unschuldigen Form eines exotisierenden Positiv-Rassismus daherkommen.
Busch fördert präzise die mitunter sehr subtilen fotografischen Inszenierungstechniken zutage, die bei der visuellen Konstruktion des „Zigeuners“ Anwendung finden. Dieses Sichtbarmachen der fotografischen Konstruktionsprinzipien liest sich spannend, denn gerade „Fotografien, besonders Reisefotografien, inszenieren deutlich stärker als Gemälde eine an der Erinnerung orientierte Nachbildung von Realität (…) [und] werden (…) im Allgemeinen als neutrale, objektive Zeugnisse von Wirklichkeit von Geschehenem verwendet und rezipiert.“ (162) Letztlich sagen aber die durch bestimmte Blickhachsen, Perspektiven, Personenanordnungen, Locations, Motive, Auswahlverfahren(9) etc. stilisierten Fotografien mehr über das Subjekt hinter der Linse und die (antizipierten) Wünsche der „nichtzigeunerischen“ Kundschaft aus, als über die scheinbar authentisch dokumentierten „Zigeuner“, deren Lebensrealität hinter einer Menge Ethnokitsch verschwindet. Diese Fotos sind daher „Zeugnisse eines kategorisierenden und hierarchisierenden Blicks, (…) kulturelle Artefakte.“ (165)
Dass der exotisierende Ausschluss der „Anderen“ immer auch umschlagen kann in Hetze und Verfolgung, bezeugen die Wellen der Gewalt, die als „Zigeuner“ stigmatisierte Menschen in vielen europäischen Staaten regelmäßig treffen. Aus osteuropäischen Ländern wie Ungarn, Rumänien(10) und der Slowakei kommen immer wieder Horrormeldungen über Morde und Ausschreitungen des antiziganistischen Mobs, Medienhetze, Polizei- und Militäreinsätze und Zwangssterilisierungen, die den Alltag der ohnehin sozial deklassierten Roma zur Hölle machen. Dies bedeutet aber nicht, dass Gewalt gegen Roma und Sinti in Westeuropa nicht existierte, wie Katrin Lange in ihrem Portrait der antiziganistischen Stimmungsmache in Italien zeigt. Die Konjunktur des AZ in Osteuropa steht eng mit dem Wiedererstarken des Nationalismus nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Ordnung 1989ff. in Verbindung.
Einen traurigen Höhepunkt dieser Entwicklungen stellten die von einem völkischen albanischen Mob unter den Augen der „Internationalen Gemeinschaft“ durchgeführten Massenvertreibungen von Roma aus dem Kosovo dar. Dirk Auer beschreibt, wie der Zerfall des multiethnischen Jugoslawiens, das besonders unter Tito von den meisten Roma als goldenes Zeitalter von Integration und Prosperität wahrgenommen wurde, zu einer vollkommenen sozialen Desintegration führte. Die Roma gerieten zwischen die Fronten der nationalistischen Auseinandersetzungen von Serben und Albanern und waren plötzlich fremd im eigenen Land. Etwa zwei Drittel der kosovarischen Roma, über 100 000 Menschen, wurden im Rahmen des ethnischen Homogenisierungsprojekts albanischer Nationalisten aus ihren Häusern vertrieben und leben nun zumeist in Flüchtlingslagern oder im Exil. Sie sind „die vergessenen Opfer eines Konfliktes mitten in Europa“ (258).
Als Fazit lässt sich sagen, dass „Antiziganistische Zustände“ eine lohnenswerte Lektüre ist. Zwar hat der Band manche theoretisch-systematische Mängel, was sicher auch (aber nicht nur) der Form der Aufsatzsammlung geschuldet ist, doch bietet er Lesern und Leserinnen, die sich mit dem Thema noch nicht auseinandergesetzt haben, einen informativen Einstieg, der die Komplexität des sträflich vernachlässigten Antiziganismus deutlich werden lässt. Hoffentlich hilft das Buch, den „gigantischen Blinden Fleck“ (Roswitha Scholz), den der Antiziganismus auch in Leipziger Debatten darstellt, ein wenig zum schrumpfen zu bringen.

Johannes Knauss

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Antiziganismus in Wort und Bild:

Gerhard Schöne ist ein ostdeutscher Kinderliedermacher, der für seine „immer einfühlsam[en], oft gesellschaftskritisch[en]“ Texte bekannt ist (Wikipedia). Was fällt so einem wohl ein, wenn er das hier dargestellte Gemälde „Schlafende Zigeunerin“ (1897) von Henri Rousseau vertont?

Das:
„Wer liegt im Staub und träumt da vor sich hin?/ Das ist Raj, die Zigeunerin,/ auf ihrer Wanderschaft./ Sie schläft im weißen Mondenlicht/ und sammelt neue Kraft.

Warum schläft sie denn nicht in einem Bett?/ Ihr Bett sind Steine, Gras und Moos,/ ihr Tisch sind Wald und Feld,/ ihr Haus der ganze Erdenball,/ ihr Dach das Himmelszelt.

Hat sie denn keine Angst da so allein?/ Zu stehlen gibt es bei ihr nichts/ als eine Melodie./ Und alle Tiere sind ihr gut/ drum fürchtet sie sich nie.

Was will der wilde Löwe hinter ihr?/ Er schleicht sich hungrig nah heran./ Im letzten Augenblick/ sieht er, ’s ist die Zigeunerin,/ und schon weicht er zurück.

Warum tun wilde Tiere ihr nichts an?/ Weil Raj auch ihre Sprache kennt./ Sie spricht mit Mond und Stern,/ mit Berg und Baum und jedem Tier,/ drum hat sie jeder gern.

Und warum wandert sie denn durch die Welt?/ Ihr Herz ist groß und ruhelos,/ drum bleibt sie nirgend lang./ Und wenn sie eines Tages stirbt,/ dann bleibt nur ihr Gesang.“


Aus: Gerhard Schöne: Kinder-Lieder-Galerie. Berlin, 1990. Zitiert nach Ines Busch in: a.a.O., S.158f.

Anmerkungen

(1) Die Anführungszeichen im Text sollen klar machen, dass ich hier die rassistischen, antisemitischen und antiziganistischen ideologischen Sprech- und Denkweisen zitiere und nicht über „empirische“ Roma, Juden usw. rede.

(2) http://interventionen.conne-island.de

(3) Auf diese Besonderheit des AZ machen auch andere Autoren und Autorinnen des Sammelbands aufmerksam.

(4) Alle Zitate aus dem rezensierten Buch belege ich mit der eingeklammerten Seitenzahl im Text.

(5) Vgl. Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 2003, S. 196ff.

(6) Zum Beispiel in Lou Sanders Text „Schwarz – Weiß – Rot – Gold“ aus der oben angeführten Interventionen-Broschüre aber auch bei der bereits genannten Roswitha Scholz. Das gleiche gibt's auch in antisexistischen Debatten. Für einen Eindruck kann man den Gender-Schwerpunkt der aktuellen Phase2-Ausgabe heranziehen, besonders die durch und durch reaktionären Bemerkungen von Katrin Köppert zum „Freiheitsglauben“, dem man in „weißen Diskursen“ wie dem Marxismus naiverweise immer noch nachhängt.

(7) AGS 8, S.133, nach Severin S. 104.

(8) AGS 15, S. 53, nach Severin S. 102.

(9) In der Produktion der Bildserien des National Geographic wird nichts dem Zufall überlassen: Die 20 Bilder, die es am Ende ins Heft schaffen, sind eine winzige Auswahl aus ca. 29.000 (!) Bildern, die pro Auftrag geschossen werden. Die Bilder repräsentieren daher eher „vorgesehene Sichtweisen auf die Welt“(162) als unverstellte, spontane Momentaufnahmen. Die Bilder kann man sich hier ansehen: http://ngm.nationalgeographic.com/ngm/0104/feature4/media2.html

(10) Die rumänische Situation wird im Beitrag von Anda Nicolae Vladu und Malte Kleinschmidt untersucht.

 

27.08.2009
Conne Island, Koburger Str. 3, 04277 Leipzig
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