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I wie Ideologie |
Warum materialistische Gesellschaftskritik notwendig als Ideologiekritik auftreten mussKritik an der kapitalistischen Produktionsweise darf einerseits nicht nur eine an äußeren Verhältnissen sein, sich nicht nur an die Wirtschaft oder den Staat richten. Sie hat aufgrund der im Fortgang dieses kleinen Textes darzulegenden eigentümlichen Besonderheit dieser Gesellschaft, das Denken und Handeln der Menschen in ihr sowie die Form, in der sich diese Menschen befinden, selbst zum Gegenstand. Andererseits hat Gesellschaftskritik immer auch mit Denkweisen zu tun. Dass die Leute, an die sie ihren Aufruf zur Selbstbefreiung richtet, häufig rassistisch, antisemitisch, sexistisch oder nationalistisch orientiert sind, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Der Zusammenhang zwischen der kritisierten Gesellschaft und den in ihr bestehenden Denkweisen ist genau der Gegenstand der Ideologiekritik. Klassisch wurde in linken Diskussionen zwischen einer Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft selbst (der Ökonomie, der Politik) und den Denkweisen selbst unterschieden, die diese Gesellschaft hervorbringt. Gesellschaftskritik, als Ideologiekritik begriffen, ist bestrebt, diese Unterscheidung aufzubrechen, da dadurch herrschende Verhältnisse gestützt und gestärkt werden. Im Kontext der hier debattierten Ideologiekritik steht übrigens der berühmte Marxsche Kernsatz Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein, der gewissermaßen den Hintergrund materialistischer Gesellschaftskritik bildet. Weder ist dieser Satz überhistorisch zu verstehen, noch bedeutet er, dass sich alles Denken aus der Gesellschaft ableitet.1. Notwendig falsches Bewusstsein Ideologien sind notwendig falsches Bewusstsein. Diese Bestimmung gilt es aufzudröseln. Fangen wir von hinten an. Bei einer Ideologie handelt es sich um ein bestimmtes Bewusstsein. Eine Ideologie ist etwas Gedachtes, etwas, was sich im Kopf von Einzelnen abspielt. Ideologien müssen gedacht werden. Ideologie verlangt die Reflexionsleistung des einzelnen Menschen. Das heißt auch, dass Einzelne für sie verantwortlich sind. Ideologie vollzieht sich nicht blind, nicht naturwüchsig. Aber eine Ideologie ist auch etwas Falsches. Heißt: nicht jedes Bewusstsein ist eine Ideologie, da nicht alles Gedachte falsch ist. Nur falsches Bewusstsein ist ideologisch. Aber das reicht zur Bestimmung dessen, was Ideologie ist, nicht aus. Wenn jemand etwas denkt und das ist falsch, so ist das noch nicht zwangsläufig eine Ideologie. Von einer solchen kann erst die Rede sein, wenn das Gedachte nicht nur falsch sondern vielmehr notwendig falsch ist. Das ist nun die komplizierteste aber auch markanteste Bestimmung von Ideologie. Dass Ideologie falsches Denken ist, erscheint eingängig. Aber wieso notwendig? Einerseits sagt das, dass in dieser Gesellschaft notwendig so gedacht werden muss. Das steht aber im Kontrast zu den anderen Bestimmungen der Ideologie. Einerseits ist eine Ideologie ja etwas Bewusstes. Bewusstsein gründet aber darauf, dass, wenn jemand denkt, dabei auch was anderes als erwartet rauskommen könnte. Was soll also die Rede vom notwendigen Denken? Weiterhin: Wie kann etwas Notwendiges falsch sein? Oder etwas Falsches notwendig? Im Begriff der Notwendigkeit klingt schließlich immer auch an, dass etwas richtig ist. Notwendiges kann doch wohl nur richtig sein? Aber das Wesen der Ideologie besteht im Kern gerade darin, sowohl notwendig als auch falsch zu sein. Die Bestimmungen der Ideologie dürfen nicht ineinander aufgelöst werden. In gängigen Bestimmungen entfällt zumeist mindestens eine wesentliche Bestimmung von Ideologie. Oft wird nicht darauf reflektiert, dass es sich um die Denkleistung von Einzelnen handelt, die daher verantwortlich sind für das, was sie sagen, dass sie auch anders könnten, wenn sie wollten. Auf diese Weise werden etwa neonazistische Deutsche entschuldigt, z.B. aufgrund ihrer schweren Kindheit oder ihrer Arbeitslosigkeit, die sie dazu trieb, rassistisch zu denken und zu handeln. Unter Linken ist letzteres unüblich. Derartige Mechanismen greifen aber sofort, wenn es nicht um deutsche Staatsbürger geht: Antisemitische islamistische Palästinenser könnten angeblich aufgrund ihres harten Lebens im Gazastreifen gar nicht anders, als sich mit Sprengstoffgürteln in Einkaufspassagen oder Cafés in Tel Aviv in die Luft zu sprengen. In anderen Fällen wird die Falschheit der Ideologie weggelassen. Dann erscheint jedes Denken als Ideologie. Alles was Menschen gedanklich hervorbringen wird so als Ideologie bezeichnet. Damit entfällt die Wahrheit als entscheidendes Kriterium, die Unterscheidung zwischen wahr und falsch. Die Reflexion über Ideologie verkommt damit zur puren Beliebigkeit. Schließlich entfällt häufig das Kriterium der Notwendigkeit. In diesem Falle wird verkannt, dass das falsche Denken aus der Gesellschaft resultiert und dass es einen Wahrheitskern enthält. Die Problematik wird individualisiert, nur dem Einzelnen zugerechnet, so wie sie beim Wegfall des Kriteriums bewusst, völlig dem einzelnen zugesprochen wird. Wegfall der Notwendigkeit bedeutet aber auch, den wahren Kern der Ideologie zu übersehen. Das Kriterium der Notwendigkeit spricht dieser falschen Denkweise nämlich auch trotz bzw. gerade aufgrund ihrer Falschheit eine Wahrheit zu. Diese steht nicht im unvermittelten Gegensatz zu dieser Falschheit. Vielmehr zeigt sich in der Ideologie die Wahrheit im Gewande der Lüge (Alfred Schmidt). Ideologie muss mithin immer strikt als notwendig, falsch und bewusst verstanden werden. Die Aufgabe der Ideologiekritik besteht angesichts der Ideologie als notwendig falsches Bewusstsein darin, den wahren Kern aus der Ideologie herauszupräparieren. 2. ldentität als Urform der Ideologie Das Kernmerkmal der kapitalistischen Gesellschaft besteht darin, dass der gesellschaftliche Reichtum den Individuen entzogen ist. Er ist zersplittert, befindet sich in der Form des Privateigentums. Das drückt sich durch den Wert der einzelnen Produkte aus, darin, dass sie überhaupt Wert haben. Wert haben Produkte in einer Gesellschaft, von deren Reichtum alle durch alle ausgeschlossen sind. Der Wert vergleicht die einzelnen Produkte zu Waren. Als solche sind sie nur durch Beteiligung ihrer Produzenten am Tausch und dass heißt: nur gegen Geld zu haben. Dieses Prinzip, dieser Zusammenhang von Wert, Ware und Geld strukturiert die warentauschende Gesellschaft grundlegend. Dieser Prozess ist auch einer des Denkens. Die Vergleichung der Produkte zu Waren erfolgt schließlich, ohne das die einzelnen es wissen, in den Köpfen der Beteiligten. Hier ist der gesellschaftliche Urgrund von Ideologie anzusiedeln. Der Wert als vermittelndes Prinzip dieser Gesellschaft ist selbst etwas Ideelles, aber etwas real existierendes Ideelles, nicht etwa eine versponnene Idee einiger Irrer. Das Funktionieren dieser Gesellschaft erfordert einen ganz bestimmten Funktionsträger: Die Individuen müssen in eine bestimmte Form gebracht werden, in der sie die Funktionen dieser Gesellschaft ausführen. Diese Form ist das bürgerliche Subjekt, wobei diese Bezeichnung streng genommen eine Dopplung ist. Es gibt nur ein Subjekt und das ist bürgerlich. Subjekt zu sein setzt die Notwendigkeit ständiger Unterwerfung der inneren Natur voraus. Das Subjekt ist bestrebt, möglichst unabhängig von innerer wie äußerer Natur zu agieren. Es strebt danach, vollständig identisch mit sich selbst zu sein. Dieses Subjekt ist aber gerade völlig zerrissen in sich, also gerade nicht identisch. Ihm geht damit genau das ab, wonach es seinem innersten Wesen gemäß strebt bzw. unabhängig von seinem Willen streben muss. Es findet seine Identität nicht an sich selbst. Das Subjekt kann sie nicht selbst schöpfen. Wie die Produkte durch den Wert zu Waren real gleichgemacht werden, so werden die Individuen durch den Staat zu Subjekten verglichen. Während dieser reale Vergleich aber den Waren äußerlich bleibt, muss er von den Subjekten selbst vollzogen, nach innen gerichtet werden. Die eigene Triebwelt, die Struktur der Gefühle, Wünsche und das Denken müssen den Erfordernissen der kapitalistischen Gesellschaft und ihres Staates gemäß zugeschnitten werden. Der einzelne Mensch muss sich selbst in eine gesellschaftliche Form hineinpressen. Die antike Mythologie kannte dafür das Gleichnis vom Riesen Prokrustes, der umherziehende Wandersleute in seinem Bett über Nacht zurechtschnitt bzw. sie in die seinem Bett entsprechende Länge zerrte und sie dabei qualvoll ums Leben brachte. Auf diese Weise muss sich auch das Individuum zum Subjekt zurechtquetschen. Da ihm die Identität vom Staat zugesprochen wird, muss es sich diesem im Ernstfall bedingungslos ausliefern. Einzig der Staat entscheidet, ob der Einzelne leben darf oder nicht. Im Kriegsfalle oder beim Vollzug der Todesstrafe tritt das den Einzelnen in handgreiflicher Form entgegen. Weniger drastisch erscheint es etwa im Verbot des Selbstmordes, das darauf hinausläuft, dass dem Einzelnen verklickert wird, dass nur der Staat das Leben nehmen darf, weil man nicht Eigentümer des eigenen Körpers ist. Die innere Zerrissenheit versucht das Subjekt zu lösen, indem es seine Widersprüchlichkeit in verschiedener Weise nach außen richtet. Es verdrängt die Anteile, die es belasten, spricht sich damit von ihnen frei, indem es sie anderen Menschen anlastet. Es befindet sich aufgrund seiner notwendigen inneren Konflikte in einem ständigen Abwehrkampf gegen eigene Anteile, die projektiv an anderen Menschen verortet werden. In diesem Sinne sagt Adorno, dass die Identität, also das gewaltförmige Identischsetzen von Produkten zu Waren (= unter Absehung von aller Sinnlichkeit identisch gesetzte Produkte) und von Individuen zu Subjekten (=unter Absehung von aller Sinnlichkeit identisch gesetzte Individuen), der Urgrund der Ideologie ist. Das ist praktizierter Idealismus: die Herrschaft einer Idee über das Sinnliche, das der herrschenden Abstraktion gewaltsam unterworfen wird. Daher kann Gesellschaftskritik nur als materialistische auftreten. Sie pocht auf die Qualität und Autonomie des Einzelnen. Ohne Zweifel hat aber das Identischsetzen durch Wert und Staat auch eine nicht zu unterschätzende emanzipatorische Wucht. Es geht materialistischer Gesellschaftskritik daher nicht schlicht um die Abschaffung oder Überwindung des Abstrakten, also der Idee. Mit Durchsetzung der Warenförmigkeit entfaltete sich schließlich eine immense kapitalistische Produktivität, mit ihr Wissenschaft und technischer Fortschritt. Mit der Vergleichung der Individuen zu Subjekten verschwanden feudale Abhängigkeitsverhältnisse, setzte sich die Vorstellung vom Mensch an sich durch. Sie wurde durch freie und gleiche Rechtsverhältnisse ersetzt. Das Subjekt als handelndes und wollendes Wesen ist somit nicht einfach nur Produkt bzw. Schnittpunkt von Staat und Warentausch sondern gleichzeitig, auch jenes Moment, was gegen unmenschliche Verhältnisse Kritik mobilisieren, sich von jeder Ausbeutung und Herrschaft befreien und damit sich selbst perspektivisch überflüssig machen kann. An dieser Möglichkeit aber klebt das Blut derer, die zu Tausenden während bürgerlicher Revolutionen wie der französischen, und deren Nachfolger, wie der russischen Oktoberrevolution, dahingemetzelt wurde. Mit der mit diesen Revolutionen verbundenen gesellschaftlichen Umwälzung hin zur kapitalistischen bzw. Industriegesellschaft, wurde eine geschichtliche Dynamik in Gang gesetzt, die in Anlehnung an Adorno nur als negative Dialektik bezeichnet werden kann. Negativ heißt: An sich ist diese Dynamik destruktiv, sie mündet in die (Selbst)-Zerstörung von Mensch, Natur und Gesellschaft in dem durch die Krise herbeigeführten Zusammenbruch der gesellschaftlichen Reproduktion. Sie mündet im Überschnappen dieses entfesselten Prinzips an sich selbst, wie es in Auschwitz praktiziert wurde. Das Prinzip, dass später zu Auschwitz führte, war in der französischen Revolution mit ihren Guillotinen zwar bereits angelegt aber ist nicht bloß deren Zuspitzung oder gar nur Fortsetzung. Diese Revolution enthielt außer der in ihr systematisch angelegten Möglichkeit, zum irrationalen Massenmord zu treiben, auch noch die Möglichkeit der Befreiung der Menschheit von jedem Zwang. Diese Freiheit muss allerdings gegen die Flugbahn dieser Gesellschaft durchgesetzt werden. 3. Die Basisideologien der Warengesellschaft Folgend sollen einige zentrale Ideologien skizziert werden: der Nationalismus, der Sexismus, der Rassismus und schließlich der Antisemitismus. In Anlehnung an Stephan Grigat (Autor des Buches Fetisch und Freiheit) werden sie hier als Basisideologien der Warengesellschaft gefasst. Dass zielt darauf, dass sie zwingend in jeder kapitalistischen Gesellschaft vorhanden sein müssen, diese Form von Gesellschaft schlicht nicht ohne sie möglich wäre. Das zielt auch auf ihre Wirkmächtigkeit und Gefährlichkeit, weshalb sie zentraler Gegenstand von Ideologiekritik zu sein haben. An diesen Ideologien soll diskutiert werden, inwieweit sie die Identität des Subjekts zu ihrer Urform haben, inwieweit sie also die gewaltförmige Gleichsetzung der Individuen zu Subjekten kaschieren. Nationalismus Mitfühlen mit einer Apparatur: Die vereinzelten Einzelnen, also die bürgerlichen Subjekte, sind in dieser Gesellschaft auf sich selbst zurückgeworfen und bringen keinen gesellschaftlichen Zusammenhang zustande. Als völlig Verlassene, auf sich selbst Zurückgeworfene, reagieren sie mit panischer Angst und Getriebenheit. In dieser Situation flüchten sie sich in das Kollektiv der Nation. Diese Zugehörigkeit garantiert ihnen die Identität, die sie als Vereinzelte nicht herstellen können. Nationalismus heißt Einfühlen der Individuen in den Staat, letztlich Mitfühlen mit einer Apparatur (vgl. Gerhard Scheit, Suicide Attac). Vor diesem Hintergrund ist dringend zu warnen vor einer Unterscheidung zwischen einem angeblich guten Patriotismus und einem bösen Nationalismus. Jedes Bekenntnis zu einer Nation zielt auf die Unterwerfung des Individuums unter das Kollektiv der Nation, die Unterordnung unter den Staat. Der Hass auf andere Nationen ist da immer vom Prinzip her mit eingeschlossen aber: das Gefährliche am Nationalismus ist nicht der Hass auf die andere sondern die Liebe zur eigenen Nation. In der kapitalistischen Gesellschaft angelegt ist die Identifizierung der Individuen zu Subjekten durch den Staat. Gedanklich nachvollzogen wird dieser Prozess in der Ideologie des Nationalismus, ohne den dieser Prozess gleichzeitig aber auch überhaupt nicht möglich wäre. Im Nationalismus werden die Einzelnen, die als Individuen immer noch mehr sind als bloß Staatssubjekte und Nationsangehörige, durch und durch mit ihrem Begriff identisch gemacht. Nationalistisch gedacht ist ein Deutscher nichts als nur ein Deutscher; und so verhält er sich dann auch. Sexismus Ausschluss von Frauen aus der Menschheit: Sexismus soll hier gefasst werden als Abwertung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Das Subjekt in der bürgerlichen Gesellschaft begründete sich historisch als männliches. Nur Männer waren zunächst als Privat- wie Staatsbürger in der Form des Subjekts zugelassen. Menschenrechte galten zunächst daher nur für Männer. Als während der französischen Revolution die Frauenrechtlerin, Aufklärerin und Revolutionärin Olymp de Gauche die Menschenrechte auch für Frauen einforderte, diese damit zu Subjekten erheben wollte, wurde sie von den Bürgern, also von Männern, auf die Guillotine gezerrt und ermordet. Bürgerliche Subjektivität begründete sich zunächst durch Ausschluss der Frauen aus der Menschheit. Die Schaffung des bürgerlichen Menschen an sich, des Subjekts, bedingte die Herabwürdigung der Frau zum puren Naturwesen. Um als Subjekt zu bestehen, muss das Individuum seine inneren Widersprüche auf die Frau als seinen Widerpart richten. Als Subjekt stellt es sich selbst als autonom dar, es will von Natur, Abhängigkeit und Tod befreit sein. Dazu muss es von seinen sinnlichen Eigenschaften absehen, obwohl es selbst durch und durch sinnlich-konkretes Wesen ist. Es ist mit dem unlösbaren Paradox konfrontiert, Natur zu sein aber nicht sein zu dürfen. Das wird u. a. durch den Sexismus scheingelöst. Er spaltet die Menschheit in Naturwesen und Nicht-Natur-Wesen auf. Frauen galten seinen Vorstellungen gemäß als näher dran an der Natur bzw. gar als nur Natur. Dass jeder Mensch Natur ist, erscheint dem Sexismus nur an den Frauen. Sie haben Natur zu sein und gelten als minderwertig. Damit stärkt und stützt die sexistische Ideologie die Identität des bürgerlichen Subjekts und erweist somit die Identität als seine Urform. Seit dem frühen 20. Jahrhundert wurden nun Frauen nach und nach zur bürgerlichen Subjektivität zugelassen. Sie bekamen das Wahlrecht, durften unabhängig vom Mann arbeiten und sich ihren Lebenspartner selbst aussuchen. Das ist hart erkämpft und nach wie vor prekär. Außerdem konfrontiert der fortbestehende Sexismus Frauen mit dem Problem einer doppelten Vergesellschaftung. Einerseits haben Frauen inzwischen den harten Anforderungen der bürgerlichen Subjektivität zu genügen: sich am Leben erhalten, verantwortlich sein für sich selbst usw.; andererseits haben sie nach wie vor für die Konstitution dieser Subjektivität, also für die Erziehung zu sorgen. Hinzu kommt: auch eine Karrierefrau ist immer noch mit der Anforderung konfrontiert, irgendwie weiblich sein zu müssen und dies auch noch zu wollen. Der Sexismus geht einher mit der Zuschreibung bestimmter Tätigkeiten, denen der Reproduktion, bestimmter Eigenschaften, etwa Passivität, an Frauen. Er begründet ein patriarchales Zivilisationsmodell, in dem Frauen insgesamt mit Natur, Tod, Abhängigkeit und Geburt identifiziert werden. Von Staats wegen haben Frauen sich als Gebährmaschinen für neue Staatsbürger herzugeben. Der Staat ist bestrebt, die gesellschaftliche Reproduktion der Nation abzusichern. Vor diesem Hintergrund war etwa die feministische Kampagne gegen den Abtreibungsparagraphen 218, die unter dem Motto Mein Bauch gehört mir lief und sich gegen eine explizit sexistische Gesetzgebung wandte, emanzipatorisch gerichtet, da sie auf individuelle Verantwortlichkeit und gegen staatliche Zugriffe auf das Individuum zielte. Sie war aber selbst ideologisch insofern, da sie nicht darauf reflektierte, dass in einer bürgerlichen Gesellschaft niemandes Bauch, auch niemandes Kopf, Magen, Arm oder Beine dem jeweiligen Individuum gehören. Unter Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung gehört ihnen ihr Bauch selbstverständlich nicht, sondern eben dem Staat. Rassismus Zuschreibung von Natur und Trieb an Schwarze : Der Rassismus weist viele Parallelen zum Sexismus auf. Auch ihm gelten seine Opfer als naturnah bzw. als nur Natur. Der Neger gilt dem Rassisten als minderwertiges triebgesteuertes Geschöpf. In anderer Weise als im Sexismus spaltet hier das Subjekt seine innere Triebwelt an andere Menschen ab, um sich selbst als Überwinder der Natur imaginieren zu können. Das kann auch positiv formuliert werden. Die Opfer seines Rassismus erscheinen dem Rassisten als höherwertig, etwa weil sie Rhythmus im Blut hätten oder noch nicht so unnatürlich, noch nicht so entartet wären wie wir Europäer. Die besondere Gefährlichkeit des Rassismus zeigt sich darin, dass auch viele Strömungen des so genannten Antirassismus sich als in ihrem Kern oft als rassistisch erweisen. Das kommt dann zum Vorschein, wenn etwa eine gerechtfertigte prinzipielle Kritik am politischen Islam plötzlich von so genannten Antiras (meint im verdinglichten Szenesprech soviel wie: Antirassistin/ Antirassist) als rassistisch gebrandmarkt wird: Als ob Religionszugehörigkeit notwendig mit Rasse verbunden wäre. Dem Antirassismus geht es um die Bewahrung so genannter kultureller Besonderheiten, oft auch dann, wenn sich hinter diesen entsetzliche Grausamkeiten verbergen, die aus emanzipatorischer Perspektive betrachtet gar nicht schnell genug verschwinden können und so rasch wie möglich abgeschafft gehören (etwa die kulturell legitimierte Verstümmelung weiblicher Geschlechtsorgane). Wer aber wie oben skizziert argumentiert, ist Anhänger einer antirassistischen Weltanschauung im wahrsten Sinne dieses Wortes (also in dem Sinne, in dem die Nazis, die Philosophie abschaffen und durch eine Weltanschauung ersetzen wollten, vgl. Klemperer: LTI), jedoch kein Kritiker der rassistischen Ideologie. Sagt jemand, auch in islamischen Ländern müssen Frauenemanzipation und Individualismus Einzug halten, dann wird das als angebliches Überlegenheitsdünkel des so genannten weißen Mannes abgetan. Eine gründliche Kenntnis des Rassismus und seiner Funktion verhindert es, auf eine derartige Argumentation reinzufallen. Ein Kritiker des Rassismus begrüßt Frauenemanzipation und Individualisierung samt Verwestlichung, ein Antirassist verteidigt den Eigenwert von Kulturen. Statt Antirassismus kommt es auf eine Kritik des Rassismus an. Gegenstand dieser Kritik ist z.B., wenn Menschen der Zugang zum europäischen Reichtum durch Verweis auf Rasse oder Kultur verweigert wird. Der Kritik des Rassismus kommt es gerade nicht auf die Erhaltung kultureller Besonderheiten an. Antisemitismus Revolte der Natur: Die bisher genannten Ideologien sind funktional im kapitalistischen Zusammenhang. Anders der Antisemitismus, bei dem der destruktive gesellschaftliche Zusammenhang selbst in bestimmten Menschen, nämlich in den Juden, verortet wird. Der Antisemitismus agiert spiegelbildlich zum Rassismus. Der Kapitalismus selbst, insbesondere sein Charakter als Krise, seine zerstörerische Wucht gegen Mensch, Gesellschaft und Natur wird im Antisemitismus den Juden zugeschrieben. Antisemitismus bedeutet stets auch Antizionismus, Hass auf Israel, das als Jude unter den Staaten auftritt. Auch diesem Staat wird Destruktivität vorgeworfen. Im Gegensatz zum Rassismus ist der Antisemitismus keine Abwehr der Natur sondern spiegelbildlich eine Revolte der Natur. Das Subjekt bekämpft im Antisemitismus die Gewalt, die es sich selbst antun muss, um seine Natur zu überwinden. Das bürgerliche Subjekt führt einen Krieg gegen die Juden, um hier eine Formulierung von Robert Kurz aufzugreifen, egal ob im Hass auf einzelne Juden, auf Israel oder auf die USA, einen Kampf gegen die Destruktivität der eigenen Gesellschaftlichkeit. Es will sich die zerstörerischen Charaktere des eigenen gesellschaftlichen Zusammenhangs vom Halse halten. Daher kommt der Antisemitismus nie zu einem Ende, die Ursachen bestehen ja fort. Die systematisch angelegte Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise soll im Antisemitismus durch Ausgrenzung der Juden stillgestellt werden. Ihnen wird zugeschrieben, für Krisen verantwortlich zu sein, was impliziert, dass sie auch wüssten, wie man sie angeblich verhindern könnte. 4. Materialistische Gesellschaftskritik als Ideologiekritik Aus dem Entwickelten ergibt sich die Notwendigkeit einer Einheit von Gesellschaftskritik und Erkenntniskritik. Sie kann nur als Ideologiekritik formuliert werden. Hierin ist der notwendig streng materialistische Charakter der Gesellschaftskritik angelegt. Materialismus meint dabei nämlich gerade nicht, alles und jedes Mögliche aus der Wirtschaft abzuleiten. Materialismus bedeutet, die Gewalt die den Dingen durch ihre gewaltfömige Vergleichung zu Waren und die Gewalt, die den Individuen durch ihre gewaltförmige Vergleichung zu Subjekten angetan wird, nicht ideologisch zu kaschieren oder gar zuzuspitzen, sondern auf der Eigenqualität der Produkte wie Individuen zu beharren. Bezüglich der Individuen heißt dass, das sie nicht der Gemeinschaft, der Tradition, des Staates oder des Kollektivs wegen existieren, sondern dass es um ihre Freiheit geht. Bezüglich der Produkte bedeutet dass, das sie ihrer Bestimmung gemäß hergestellt und verwendet werden, nämlich zum menschlichen Gebrauch. Die klassische Trennung von Gesellschaftskritik und Ideologiekritik ist damit aufgehoben. Materialistisch zielt Gesellschaftskritik als Ideologiekritik auf das Ende der gewaltförmigen Vergleichung von Produkten zu Waren durch den Wert und von Individuen zu Subjekten durch den Staat, somit kommunistisch auf die Abschaffung des Werts und anarchistisch auf die Abschaffung des Staats. Damit wäre auch der Bestimmung des Bewusstseins durch das gesellschaftliche Sein das wohlverdiente Ende bereitet. Martin Dornis |
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