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Menschliches, Allzumenschliches

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Jonathan Littell „Die Wohlgesinnten“
Februar 2008, Berlin Verlag, 1392 Seiten

I Vorüberlegungen

Es ist ein langer und steiniger Weg, bis man die 1354 Seiten (zuzüglich eines umfangreichen Glossars) des Bestsellers Die Wohlgesinnten des französischen Autors Jonathan Littell hinter sich gebracht hat. Vielleicht hat man bereits vergessen, was einen dazu bewogen hat, seine Zeit mit der Lektüre eines – so sagt der Volksmund – „Nazi-Romans“ zuzubringen. Vielleicht lag es am Namen Littell, der über mehrere Wochen aus dem deutschen Feuilleton nicht wegzudenken war. Vielleicht waren es die Lobeshymnen Elke Heidenreichs und Claus Peymanns und die anschließende Frage, was das wohl bedeute, dass man nach dem Lesen dieses Buches ein „Anderer“ und „heller“ sei. Vermutlich ist man irgendwann neugierig geworden kämpfte sich also durch zähe, teilweise spannend bis belanglos kurzweilige, oft jedoch grotesk überdrehte 1354 (in Worten: Tausenddreihundertvierundfünfzig) Seiten. Möglicherweise kam der letzte Anstoß zur Lektüre durch jene Beiträge im deutschen Rezensenten, die so herrlich lamentierten und sich „ihren“ Nationalsozialismus keinesfalls vom (auch noch jüdischen) Franzmann klauen lassen wollten.(1)
Wie er auch daher kam, dieser Jonathan Littell. Mit 39 Jahren hat er einen Weltbestseller geschrieben, obwohl er kokettierend einräumt, eigentlich gar kein Schriftsteller sein zu wollen. Dann weigerte er sich, den hochdotierten Prix Goncourt anzunehmen und hat am Ende – in seinem Buch und bei Lesungen auf denen, den Rezensenten entging es nicht, das Rauchverbot geflissentlich ignoriert wurde – den Deutschen noch sinngemäß entgegengeworfen, dass in jedem irgendwie ein Nazi steckt. Im Roman, wenn wir für einen Moment bei dieser irreführenden Kategorie bleiben, beginnt das schon beim wohlplazierten ersten Satz: „Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.“ Ein penetrantes „Du“ versucht von Anfang an, die Distanz zwischen dem Nationalsozialisten Dr. Max Aue und den Lesern aufzuheben. Schlussendlich spricht er: „Hört mal, wenn ich es euch doch sage: Ich bin wie ihr.“(2)Dass die Leser hier nicht nur zu Komplizen, sondern zu Gleichen gemacht werden, hat allgemein irritiert und legt das Fundament für Littells theoretisches wie literarisches Unterfangen.
Doch das ist bereits Interpretation und vielleicht muss zuvor noch einmal einen Schritt zurückgegangen werden, um das Phänomen Die Wohlgesinnten angemessen zu verstehen. Littell hat in gut fünf Jahren Recherche und Niederschrift ein Buch geschrieben, das zunächst als historisch-fiktionaler Roman daherkommt, der bei seinem Erscheinen in Frankreich und Deutschland sofort heftige Diskussionen auslöste. Protagonist ist der in den Rechtswissenschaften promovierte, homosexuelle SS Mann Max Aue. Aus der Ich-Perspektive erzählt er die Zeit von 1941 bis 1945, die von der Ukraine nach Stalingrad, dann nach Berlin in das Umfeld von Eichmann und Himmler führt, und schließlich auch nach Auschwitz. Unterbrochen wird Aues Aufstieg in der Nazi-Hierarchie durch deliröse, traumhafte und surreale Sequenzen die zurückführen zu Aues inzestuöser Beziehung mit seiner Schwester, schließlich zum Mord Aues an seiner Mutter und seinem Schwiegervater.
Der historische Rahmen ist minutiös recherchiert. Real existierende Personen, Orte und militärische Zusammenhänge sind der Humus, auf dem Littell die Fiktion aufbaut. Immer wieder werden Zitate in den Text eingeflochten, die zwar als solche durch Kursivierung kenntlich gemacht sind, quellenmäßig aber nicht immer ausgewiesen sind. Der historische Standort, von dem aus Max Aue sich an die Leser wendet, ist eine nicht näher spezifizierte Nachkriegszeit. Er wirkt wie eine verbreiterte, fast schon ewige Gegenwart. Immerhin erkennt die kundige Leserin so ziemlich jede akademisch oder gesellschaftliche Debatte über den Nationalsozialismus der letzten 60 Jahre. So ambivalent und unbestimmt die Erzählposition angelegt ist, so deutlich ist doch, dass es eine französische Erfahrung ist, die Max Aue als Nachkriegsfigur präformiert. Dafür sprechen weniger die strategisch eingezogenen Beziehungen Max Aues zu Frankreich – seine Mutter ist Französin, Aue selbst ist frankophon, stellenweise auch frankophil –, sondern Anspielungen auf französische Nachkriegsdebatten, bspw. auf den Algerienkrieg. (28)
Es gibt tatsächlich nicht viele Romane in Frankreich, die sich auf den Nationalsozialismus als historisches Setting eingelassen haben, was einiges am Medienrummel erklären könnte.(3) Und auch in Deutschland war die mehrheitlich negative Kritik verbunden mit der Frage, ob man das „dürfe“ und was letztendlich aus dem Roman „folge.“ Wer jedoch so fragt, der hat bereits bemerkt, dass es Littell um mehr geht, als Darstellung und Beschreibung, sei sie nun schöngeistig oder nicht. Dieses „mehr“, folgt man den Interviews Jonathan Littells, ist eigentlich eine relativ klar umrissene Problemstellung, die versucht wird, durch Interpretation und fiktionale Anordnung von historischem Material in den Griff zu kriegen: „Ich wollte nur auf eine einfache Frage antworten, die sich mir stellte. (...) Was ist die Natur von Staatsverbrechen?“(4) Nach der Lektüre des Marginalienbandes lässt sich das noch präzisieren: Littell geht es um nicht weniger als die Natur des Bösen in der Moderne.(5) Das hat nicht zuletzt, so wird zumindest nahegelegt, auch einen biographischen Hintergrund. So wurde immer wieder betont, dass Littell 1993 in Sarajevo, später Bosnien und Tschetschenien humanitäre Arbeit geleistet hat. Schon die Widmung des Buches – „Für die Toten“ – zeigt, dass es Littell also um etwas Universelles geht. Wenig überraschend in diesem Zusammenhang auch die später noch näher zu betrachtende totalitarismustheoretische Schlagseite.
Doch wichtig an diesem Zusammenhang ist eben folgendes: Es geht Littell nicht um den Nationalsozialismus als Barbarei sui generis. Und dennoch scheint das Material eigene Zentrifugalkräfte zu entfalten, die Littell dazu drängen, Fragen aufzuwerfen, die sich eben nur der Singularität des Judenvernichtung verdanken. Es werden innerhalb des Buches nicht nur intentionalistische – also auf Hitler fokussierte – und funktionalistische Erklärungsversuche des Dritten Reiches gegenüber gestellt, sondern auch die großen Fragen der Holocaust-Forschung: Warum die Juden? Warum die Deutschen? Doch der Gesamtstruktur ist das äußerlich, was sich daran zeigt, wie Littell jene Fragen im Roman beantwortet. Ihm geht es um den nicht näher spezifizierten, jedoch in der kulturell gebildeten Mittelklasse angelegten „Menschen“ des 20. Jahrhunderts und dessen Umschlag ins Barbarische. Dafür ist der Nationalsozialismus ein Besonderes, dessen literarische Analyse die Tür öffnen soll zu einem Verständnis des Allgemeinen. Maßstab für ein solches Unterfangen ist, ob jener historisch bestimmte Zusammenhang nach der Einfügung in die allgemeine Geschichte der Gewalt des 20. Jahrhunderts noch als solcher zu erkennen ist oder ob er zum widerstandslosen Material eines intellektuellen Unterfangens geworden ist.
Wenn es stimmt, dass das Buch im Wesentlichen „theoretisch“ ist, dann könnte sich der starke Bezug auf die Totalitarismustheorie in diesem Zusammenhang als Stolperstein erweisen. Zwar stimmt, dass es Jonathan Littell um die Deutschen geht. Doch es stimmt auch, dass Littell sagt: „Die Deutschen sind wir, jeder ist ein Deutscher.“(6) Dieser verallgemeinernde Sog existiert bereits in den Fragen, die Littell an das reiche historische Material stellt und in den Akzenten, die er in der Darstellung setzt. Ein zentraler Aspekt dieser Vorannahmen besteht darin, dass für Littell Moderne vor allem Bürokratie ist. So fasziniert ihn denn an Claude Lanzmanns Shoa vornehmlich die Darstellung der logistischen Probleme bei der Umsetzung der Judenvernichtung.(7) Plastisch wird das im Buch an der verwirrenden Menge von bürokratischen und institutionellen Zusammenhängen, Zuständigkeiten und Streitereien um selbige. Bedeutsam ist es, weil es die Frage nach der „Rationalität“ eines ideologisch motivierten Krieges, dessen negativer Höhepunkt in der Vernichtung der europäischen Juden bestand, auf den Plan ruft.(8)

II Die Anatomie des Romans: Zwischen Literatur und Theorie

Dass man ständig – vorausgesetzt man hat ein wenig Einblick in die Forschung bezüglich des historischen Gegenstandes – Parallelen zu intellektuellen Debatten ziehen kann verweist auf ein anderes Merkmal des Buches, welches wiederum Aufklärung geben kann, womit man es hier eigentlich zu tun hat. Die Wohlgesinnten wirkt über weite Strecken extrem durchkonstruiert, minutiös angeordnet, auf eine gewisse Art und Weise vollkommen vergeistigt. Es scheint, als schreibe Littell weniger als Schriftsteller oder Romancier, sondern als sei es vielmehr ein Roman, geschrieben von einem Intellektuellen für Intellektuelle. Man hat das Gefühl, alle Debatten, die in den letzten 60 Jahren im Feuilleton oder in der Akademie um die Fragen nach Schuld und Schuldfähigkeit, Aufarbeitung der Vergangenheit, dem Unterschied zwischen Sowjetherrschaft und Nationalsozialismus und schlussendlich auch nach der Singularität der Shoa und ihrer Darstellung, in den Roman eingeflossen sind. Und dies so sehr, dass sie ihren Gegenstand stellenweise zu überformen scheinen. Zunächst spricht das für den extrem hohen Anspruch Littells, auf der Höhe der historischen Forschung Literatur zu schreiben. Von Christopher Browning und Daniel J. Goldhagen stammen die Ausführungen über die Polizeibataillone, das gesamte erste Kapitel demontiert minutiös die Mythen von der braven Wehrmacht und dem Befehlsnotstand und in Max Aue und seinen Treffen mit Adolf Eichmann springt einem die Debatte um die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) förmlich ins Gesicht. Wer seinen Protagonisten über einen Wald sprechen lässt, den man nun nur noch als geeigneten Ort für Erschießungen sehen kann, der weiß von Brechts Gedicht, dem Gespräch über Bäume und Adornos Aphorismus. (529) Und wer seitenlange Monologe über den Zusammenhang zwischen deutscher Pflichterfüllung und der Kantischen Kritik der praktischen Vernunft einzieht, der kennt vermutlich John Deweys Theorie über die geistigen Ursprünge des Nationalsozialismus.
Dass sich die Inhaltsebene – möchte man einmal diese mechanische Trennung einziehen – auf einem derart komplexen Level bewegt, führt zu gewissen Spannungen mit dem, was man die Formebene des Romans nennen könnte. Eine Textstelle die dem interessierten und informierten Leser(9) vor intellektueller Resonanz nur so strotzt korrespondiert in keiner Weise mit mäßig einfallsreichen eher deskriptiven Stellen des Romans. Manchmal verlieren sich die Beschreibungen derart im Detail oder schweifen so ins Weite, dass die/der LeserIn überfrachtet und überladen zurückbleibt und man am Ende eben nur weiß, dass Max Aue irgendwann einmal vor einem Gebirge in der Ukraine gestanden hat. Auch die Verbrechen werden detailliert beschrieben, allerdings mit der Detailtreue und der Sachlichkeit eines Pathologen oder seines bürokratischen Äquivalents, dem Sachverständigen. Dabei verstetigt sich die betont explizite Darstellung manchmal soweit, dass der Leseeindruck bei der Beschreibung eines ukrainischen Bergdorfes nicht anders ist, als der bei einer der zahlreichen „Sonderaktionen.“ Wäre es ein Ziel des Romans gewesen, in der LeserIn etwas von der Abstumpfung des Frontsoldaten zu reproduzieren – die den exzessiven Gewaltausbruch begleitete, wenn nicht sogar überstieg –, es könnte als erreicht gelten. Natürlich kann ein solches Buch keine erbauliche Literatur liefern. Das feuilletonistische Lamenti über den Ekel bei der Lektüre handelt sich deswegen schnell die Frage ein, was man denn erwartet habe. Dabei waren es gar nicht vorrangig die Beschreibungen von Krieg, Massaker und Vernichtung, die aufstießen. Vielmehr irritierten die ellenlang ausgewalzten Traum- und Erinnerungssequenzen bezüglich des Trieblebens von Max Aue. Die Irritation ist dabei keine Frage des Geschmacks, sondern sie stellt die Frage nach der Funktion im literarischen Gesamtgefüge und die ungleich schwerwiegender nach dem Verhältnis von Inhalt und Form.

III Das totalitäre Subjekt

Um die graphisch so eindrücklichen Beschreibung der Mordaktionen einerseits, und der Triebstruktur des Protagonisten anderseits richtig einschätzen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, wie Max Aue eigentlich angelegt ist. Weder ist er eine klassische literarische Figur, noch ein „Charakter“ im allgemeinen Sinne. Dr. Max Aue ist eine Konstellation aus subjekttheoretischen Momenten, angeordnet mit dem Ziel, möglichst viele Facetten totalitärer Herrschaft verdeutlichen zu können. Die Kritik der Rezensenten, einen Nazi wie Max Aue könne es gar nicht gegeben haben, zielt deswegen ins Leere. Max Aue soll nicht „realistisch“ sein, sondern sollte vor allem als Element einer subjekttheoretischen Spekulation gelesen werden, verpackt in das Medium der Literatur.
Wie bereits erwähnt beginnt das Buch damit, dass sich der Protagonist auf die Ebene der Leser begibt. Und das nicht spezifisch, sondern ganz global, wie die anmaßend empfundene Anrede „Menschenbrüder“ zeigt. Aue – und damit wohl auch Littell – will die angebliche Distanz zwischen dem als friedlich und zivilisiert empfundenen Normalzustand und dem Extrem aufheben. Aus diesem Grund ist Aue auch von vornherein als kultivierter, musikliebender Intellektueller angelegt und nicht als rückgratloser Mitläufer oder fanatischer Prolet. Der Protagonist setzt sich selbst immer wieder zu seinen LeserInnen in Beziehung. Immer wieder setzt er zu Erklärungen und Rechtfertigungen an, die auf ein „An meiner Stelle hättet ihr genauso gehandelt“ hinauslaufen. Seine Handlungsmaximen versucht er durchweg als nachvollziehbar, unverblendet, in einer gewissen Weise als durch und durch politisch-rational darzustellen. War Aue am Anfang noch unfähig, sich im harten Business der karrieristischen Nationalsozialisten zurechtzufinden – Musterbeispiel dafür ist Aues Freund Thomas – wächst er nach und nach in eine Rolle hinein, die gefestigt durch eine klare politische Position, der Glaube an die Notwendigkeit der nationalsozialistischen Revolution, seinen Platz im großen Ganzen gefunden hat.
Doch der Weg ist keineswegs gerade. Alle Ambivalenzen des Protagonisten, alle Umwege und Unwägbarkeiten haben mit der funktionalen Mehrdimensionalität Max Aues zu tun. So fällt es ihm schwer, die unkontrollierte, ungezügelte Gewalt des Kriegs im Osten zu ertragen. Sein intellektuelles Bedürfnis nach geordneten Verhältnissen, nach Zwecken und Mitteln und nach einer möglichst wissenschaftlichen Wahrheit kommt ihm immer wieder in die Quere. Es schlägt sich vor allem körperlich nieder und wie die Massaker, stellt Littell dies äußerst plastisch dar. Ein Teil der Abneigung, auf die Littell in den Rezensionen stieß, hatte vor allem mit der expliziten Darstellung alles Körperlichen im Roman zu tun. Doch die Scheiße, das Blut und die Sexualität der Gewalt sind mehr als nur Elemente in einer Darstellung, die verstören und anekeln soll. Sie sind das biologische Scharnier zu dem Subjekt, das Littell beschreiben möchte, und für das Max Aue als hermeneutisches Instrument herhält. Den Nazi Max Aue als homosexuell und inzestuös darzustellen, ist nicht gerade originell. Doch zum einen ist die Kategorie der Originalität in diesem Zusammenhang fehl am Platz, und zum anderen geht es dem Autor um etwas ganz anderes. Nicht zufällig gibt Littell als einen seiner Einflüsse Klaus Theweleits Männerphantasien an.(10) Aue übergibt sich oder bekommt Durchfall, wenn ihn die Schuldgefühle überkommen. Ihm „kommt“ im wahrsten Sinne des Wortes „die Natur“ (Georg Büchner), wenn die professionelle Distanz zwischen dem Sachverwalter des Grauens und seiner Arbeit aufgehoben wird. Dazwischen finden sich Traumsequenzen mit Erinnerungen an die einzige Liebe seines Lebens, seine Zwillingsschwester, die bezeichnender Weise den Namen Una trägt. Immer dann, wenn Aue träumt, wird es hässlich und man merkt, dass Littell, der in Yale Literatur und French Theory studiert hat, wohl auch einen Blick in die Bücher Sigmund Freuds, George Batailles oder Marquis de Sades geworfen hat.(11) Das alles scheint sich nur allzu ungebrochen und stellenweise zu platt in den Roman zu verpflanzen. Protagonist Max Aue wurde nicht gestillt, beneidete darum seine Schwester, die diese Zuneigung zuteil wurde und die Schwester als Ich-Ideal übersetzt sich schließlich bruchlos in Aues Homosexualität. (518)
Nun ist die Frage, warum Littell seinen Täter – und es geht ihm ausdrücklich um die Täter und Henker(12) – homosexuell sein lässt. Eine mögliche Antwort wäre, dass der Autor – eben ganz analog Klaus Theweleit – die Sexualisierung des Krieges oder die Erklärung von Gewalt aus der Triebstruktur interessiert. Abgesehen von der Frage, warum für letzteres die Homosexualität herhalten muss, ist beides wenig wahrscheinlich. Sexualität ist in Die Wohlgesinnten vielmehr Residuum einer verlorenen Unschuld, nur dass diese bereits an ihren Anfängen pathogene und gewalttätige Züge trug. D.h. Sexualität – genauso wie übrigens Natur – erscheint im Roman zwar als „krank“ und „pervers“ und soll offensichtlich den Zuschauer schocken und irritieren, fungiert aber als Erinnerung an etwas, das dem Grauen indem Aue sich befindet konträr entgegensteht. So erklärt das auch Littell: Max Aue ist als „Extrem“ konzipiert, um das Normale stärker hervortreten zu lassen. Die Figur, so scheint es, ist pures Kontrastmittel, wie eine Chemikalie, die andere farblich hervortreten lässt.(13) Vor allem aber sollen sich alle möglichen Facetten der Barbarei an die Figur heften lassen.
Wenn man also den suggerierten Zusammenhang zwischen einem totalitären Subjekt und der Sexualität als zumindest fragwürdig ausgewiesen hat, bleibt die Frage was das Totalitäre am Subjekt ausmacht und was die Darstellung Max Aues transparenter macht. Pflichtbewusst soll er daherkommen, ganz wie Eichmann, der in seiner Aufgabe der Vernichtung eben eine Aufgabe unter anderen sah: „Was ich getan habe, geschah in klarer Erkenntnis der Sachlage, in der festen Überzeugung, es sei meine Pflicht, es sei unumgänglich, mochte es auch noch so unangenehm und betrüblich sein.“ (30) Doch er ist kein Karrierist, für den idealtypisch sein Freund Thomas steht, der zwar ideologisch überzeugt ist, für den der Nationalsozialismus jedoch so gut wie jedes andere System ist. Etwas gesellschaftlich Bestimmtes scheint es nicht zu sein, wenn Littell Aue sagen lässt: „Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr.“ (35) Und auch der Zusammenhang zwischen Triebstruktur und Gewalt, der im Anschluss an Theweleit als offene Frage in der Luft hängt, weist nur bedingt auch soziale oder politische Dimensionen auf. Anderseits dominiert im Buch die Leitfrage nach dem Verhältnis von Barbarei und Rationalität, die sich hauptsächlich in den jeweils spezifischen Interessen der einzelnen Behörden und Ämter äußert. Doch der Zusammenhang bleibt schwammig, verharrt in Konstellationen. Littell präsentiert ein Durcheinander von Menschen, die sich auf ganz verschiedene Art und Weise mit Gewalt arrangiert haben. Bei den einen setzt sich ungebrochener Sadismus durch, andere exekutieren die Ideologie kühl und eingehegt durch einen Begriff von Rationalität. Als Panorama nationalsozialistischer Praxis ist das zunächst durchaus anschaulich. Allein, der Erkenntnisgewinn dieses Bildes ist zu bezweifeln. Denn als Synthese des allgemeinen Gewaltpotentials kommt, zumal in der Phase des Krieges, die Die Wohlgesinnten behandelt, eigentlich nur der Antisemitismus in Frage, den Littell in seiner Wichtigkeit aber eher gering veranschlagt. Mindestens ebenso schwer wiegt die Frage nach Schuld und Verantwortung der totalitären Subjekte, eine Frage zudem, die sich weit über den Kontext des Nationalsozialismus hinaus erstreckt.

IV Die Barbarei als Schicksal

Jonathan Littell wollte ein Buch über die Täter schreiben und seine Faszination für selbige hat er kaum versteckt. Nun wäre es einen eigenen Text wert, die Faszination der Nachgeborenen an den Tätern kritisch zu durchleuchten. Fraglich ist aber zunächst, was Littell durch die Täterperspektive gewinnt. Es ermöglicht ihm zum einen, die Frage nach Schuld und Verantwortlichkeit in einem relativ offenen Modus zu erörtern, denn schließlich ist die Sprecherposition in dieser Angelegenheit keineswegs unbedeutsam: ob ein omnipotenter Erzähler oder ein Täter über Schuld und Sühne spricht macht eben einen Unterschied. Nur ist Max Aue – und das ist das Problem an der funktional Mehrdimensionalität des Protagonisten – zumindest in der Reflexion selbst in gewisser Weise omnipotent charakterisiert. Der promovierte und kultivierte Max Aue weiß, dass er ein Täter ist und das Täterschaft nicht beim Betätigen des Abzugs beginnt. Doch die Sphäre der Reflexion ist eine Sache, denn in der Praxis sieht die Frage von Schuld und Verantwortlichkeit um einiges ambivalenter aus. Keineswegs verzichtet Aue auf Rechtfertigungsfiguren, wie Jürgen Altwegg in einer Rezension noch vor Erscheinen der deutschen Übersetzung behauptete.(14) Vielmehr betont Max Aue immer wieder die Konkordanz seiner Handlungen mit einer nicht weiter bestimmten Richtschnur des Handelns, der jeder andere auch gefolgt wäre. Doch jene Rationalität trägt die Züge eines übermächtigen Allgemeinen in denen das Zutun des Einzelnen zwar notwendig ist, von Autonomie aber keine Rede sein kann. Damit korrespondiert, dass die Kritik – und Littell selbst – immer wieder den intertextuellen Bezug auf Aischylos‘ Orestie betonte.(15) Nun ist der Zusammenhang zwischen individuellem Handeln und Schicksal, das zwar erkannt aber nicht verhindert sondern nur vollzogen werden kann, zunächst ganz formal das klassische Sujet der griechischen Tragödie. Doch auch die Inhaltsebene der drei in der Orestie zusammengefassten Tragödien findet ihren Weg in den Roman. Bereits der Titel der dritten Tragödie, die Eumeniden, lässt sich mit Die Wohlgesinnten übersetzen. Außerdem geht es in der Orestie um nichts weniger als um die Überführung des individuellen Racherechts in die moderne Rechtsprechung durch ein repräsentatives Kollektiv. Das lässt sich nicht nur auf Max Aues inner-familiären Rachefeldzug beziehen, sondern auch auf den Nationalsozialismus als globalen Unrechtszusammenhang, als der er im Angesicht der Niederlage ja durchaus verstanden wurde. Im Bezug auf Ersteres wird das Recht durch die beiden Polizeibeamten repräsentiert, die Max Aue verfolgen, nachdem dieser seine Mutter und ihren Geliebten umgebracht hat. In der Orestie entsprechen ihnen die Erinnyen, die Rachegöttinnen, die Orest nach dem – natürlich schicksalhaft vorgegebenen – Elternmord verfolgen. Und auf allgemeiner Ebene sind es immer wieder die Alliierten bzw. die Sowjetunion den gegenüber sich Aue immer wieder rechtfertigen und verorten muss. So ist auch der letzte Satz des Buches zu verstehen, als Max Aue auf der Flucht vor den Siegermächten feststellt: „Die Wohlgesinnten hatten meine Spur wieder aufgenommen.“ (1359)
Doch es bleibt der Eindruck, dass gerade die tragische Dimension des Romans die Konzentration auf die Täterperspektive und die Frage nach Schuld und Verantwortung untergräbt. Max Aue ist von Reflexion und Kulturalität derart überfrachtet, dass er zu einem mehr oder weniger passiven Spielball der schicksalhaften Ereignisse wird.(16) Dies würde auch mit dem Fokus Littells auf Strukturen, bürokratische Zusammenhänge und institutionelle Zuständigkeiten korrespondieren. Kein Zufall dann, dass Littell Max Aue ausführen lässt, dass der Antisemitismus und die durch ihn induzierte „Vernichtung um der Vernichtung willen“ (Emil L. Fackenheim) keineswegs ins Zentrum der Singularität des Nationalsozialismus trifft. (935) Zwar debattiert Aue immer wieder die Frage nach der Rationalität der Vernichtung, d.h. inwiefern die Konzentration aller Mittel auf die Judenvernichtung nicht in gewisser Weise kontraproduktiv ist. Doch dies führt lediglich dazu, dass Aue aus pflichtbewusstem Ordnungssinn „besser“ dasteht als fanatische Antisemiten einerseits und bürokratische Sachverwalter der Vernichtung anderseits. Aue bleibt ganz einem Denken von Zwecken und Mitteln verhaftet und wird nicht zufällig mit der Aufgabe betreut, die Arbeitsproduktivität in den Lagern zu steigern. Von diesem Standpunkt kritisiert er auch die reichlich „unprofessionellen“ Massaker in der Ukraine. Nur kommt es bei allem dem auf eine irgendwie geartete Produktivität, abgesehen vom ideologischen Mehrwert, eben gerade nicht an, weswegen er sich immer stärker und schlitzohriger durchsetzen muss, um seine Pläne zu erfüllen.

V Schlussbetrachtung

Nun wäre gerade die Frage nach dem Telos der Kriegspolitik der Einstiegspunkt dafür gewesen, die Spezifik des Holocaust herauszustellen, doch das verhindert das totalitarismustheoretische Bezugssystem, das den Roman dominiert. Zudem betont Jonathan Littell immer wieder, dass es ihm eigentlich um etwas anderes geht, als eine Analyse des Nationalsozialismus. Dem widerspricht jedoch die Inhaltsebene des Buches, denn über weite Strecken lässt Littell Max Aue genau jene Vergleiche zwischen Bolschewismus und Faschismus anstellen, mit denen die Totalitarismustheorie akademisch und politisch Karriere machte. Gleichgültig also, das Littell vorgibt, mit dem Roman etwas anderes zu beanspruchen. Das Gespräch, das Max Aue in Stalingrad mit einem Kommunisten führt – wie Littell betont eine Pastiche von Wassili Grossmanns Roman Leben und Schicksal – endet dann auch mit der Conclusio, dass sich der Nationalsozialismus kaum vom Sozialismus in einem Land unterscheidet. Leerstelle bleibt in diesem Framework der Antisemitismus. Zwar spielt er überall eine Rolle, sei es in seiner fanatisch-proletenhaften Version oder als gelehrte Position der gebildeten Oberschicht. Dessen Zentralität für den Nationalsozialismus streitet Aue – und Littell im Interview(17) – als Motiv aber konsequent ab.
Was bleibt am Ende der 1354 Seiten? Zunächst der Eindruck, dass hier jemand durchaus etwas Großes unternommen hat. Zugleich aber eine gewisse Irritation, zum einen über das Resultat, zum anderen über die Angemessenheit der Form in Anbetracht ihres Inhalts. Jonathan Littell sagte in einem Interview, dass die Schwierigkeit bei der Rezeption des Buches vor allem damit zusammenhinge, dass die LeserInnen mit einem Thema konfrontiert sind, dass sie nur schwer der „reinen Literatur“ zuordnen können.(18) Für Littell ist es die Frage, ob sein Buch „funktioniere.“ Das Problem des Verhältnisses zwischen historischer und literarischer Wahrheit nimmt er durchaus wahr. Die Frage allerdings, ob es auf der Ebene des Buches eine Reflexion über das Problem der Darstellbarkeit gibt oder – weniger prätentiös – was es bedeutet, jenes historische Material in einem ästhetisch-intellektuellen Versuch zu benutzen, bleibt offen. Littell hat mehrmals betont, das Problem hätte auch in einer anderen Zeit, in einem anderen Setting verhandelt werden können. Dann muss er sich fragen lassen: Warum der Nationalsozialismus und die Judenvernichtung? Dem Sog an Fragen, die das historische Material aufwirft, hat Littell durchaus nachgegeben. Nur hat er sie in einem Rahmen behandelt, der sich von seinem Material zu entfernen scheint. Doch wäre das historische Setting dem intellektuellen Ansinnen vollständig äußerlich, dann wäre vollkommen unverständlich, warum der Rahmen so minutiös recherchiert und dargestellt wurde. Das „es“ aus dem ersten Satz des Buches – „...lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist“ – ist eben kein bloß auf eine literarische Welt hindeutendes „es.“ Dass Littell trotzdem die Mühe auf sich nimmt, Fiktion und historische Zusammenhänge so komplex zu arrangieren deutet darauf hin, dass er einen Brückenschlag zwischen historischer und literarischer Wahrheit versucht. Nur wäre dann zu fragen, was das eigentlich heißt: „literarische Wahrheit“. Ungewiss ist, ob es sie überhaupt gibt. Es mag auch zu viel verlangt sein, die Antwort auf diese Frage vom Roman selbst noch unmittelbar zu erhalten. Auch Celans „Todesfuge“ beantwortet für sich gesehen noch gar nichts. Doch die große Frage nach dem angemessenen Verhältnis von historischem Inhalt und literarischer Form, das Problem der Darstellbarkeit der Shoa, schwebt bis zum Ende über der Lektüre des Buches. Ungelöst.

Walter Schrotfels

Anmerkungen

(1) Hier trifft die Kritik von Klaus Theweleit (Cf. Die Tageszeitung, 28.02.2008, online einzusehen unter www.taz.de/nc/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=tz&dig=2008%2F02%2F282Fa0170&src=GI&cHash=e12424991c).

(2) Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten, Berlin 2008. S. 39 [Weitere Seitenangaben im Text]

(3) Eines der ersten Dokumente, welches auf einer fiktionalen Ebene auf die Konzentrationslager hinweist – ignoriert von der zeitgenössischen Kritik – sind die Kurzgeschichten des Resistancekämpfers Jean Marcel Bruller, der unter dem Pseudonym Vercors schrieb. (Vercors, Waffen der Nacht, Berlin 1949)

(4) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.11.2007, Nr. 256. S. 37.

(5) Zumindest wenn man das Böse eher als mythische denn als religiös-konnotierte Kategorie liest. Religiöser Untertöne enthält sich Littell weitgehend.

(6) Cf. Jürgen Alltweg, „Leute, jeder ist ein Deutscher“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.09.2006, Nr. 211, S. 40.

(7) Cf. Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten – Marginalien, S. 28f.

(8) Wo Littell diese Frage umtreibt, wirkt der Roman wie ein Kommentar zur in den 90er Jahren geführten Debatte zwischen Susanne Heim und Götz Aly auf der einen Seite, und Historikern wie Ulrich Herbert, Norbert Frei und Dan Diner auf der anderen. (Cf. Wolfgang Schneider (Hrsg.), ‚Vernichtungspolitik ‘ – Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg 1991.)

(9) Dieser Idealtyp kann natürlich keineswegs für die gesamte LeserInnenschaft des Romans verallgemeinert werden, auch wenn die Mehrzahl der Rezensionen sich als solche inszenieren. Auch wenn die von Historiographie gesättigte Inhaltsebene nicht jeder LeserIn aufgehen mag, so ist sie doch für die Anatomie des Romans als entscheidend herauszustellen.

(10) Noch deutlicher wird das in dem kürzlich in Frankreich erschienenen Essay Littells über Leon Degrelle, einen belgischen Faschisten, der als eins der realhistorischen Vorbilder für Max Aue gilt. Theweleit steuerte zu dem Essay ein Nachwort bei. (Cf. Jonathan Littell, Le Sec et l‘Humide, Paris 2008)

(11) Letzteren, wie auch Maurice Blanchot, hat Jonathan Littell aus dem Französischen ins Englische übersetzt.

(12) F.A.Z., 03.11.2007, Nr. 256, Seite 37.

(13) Im Interview mit Pierre Nora bestätigt Littell, dass er die Figur in all ihrer Exzentrik „brauche, um die anderen klar hervortreten zu lassen.“ (Jonathan Littell, Marginalien, S. 53.)

(14) Loc. cit. Dem stehen Aussagen wie diese gegenüber wie „Ich bin aus dem Krieg wie ausgeleert zurückgekehrt, nur Bitterkeit und Scham waren geblieben, wie Sand der zwischen den Zähnen knirscht.“ (22)

(15) Cf. Florence Mercier-Leca „Die Wohlgesinnten und die griechische Tragödie“, in Marginalien, S.72-99.

(16) Florence Mercier-Licas Fazit „Ist der passive Nazi Aue deswegen weniger schuldig? Die Interpretation ist offen. Das Grauen ist da. Punkt.“ ist in diesem Zusammenhang reichlich vorsichtig. (Marginalien, S.81)

(17) Cf. Marginalien, S. 38.

(18) Loc. cit., S. 33.

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last modified: 8.7.2008