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Der Wert und der Wert

Kritische Anmerkungen zu Martin Dornis‘ Artikel „Der Wert und der Tod“

      „Dem Tode gegenüber wohnen wir Menschen alle in einer Stadt ohne Mauern“ (Epikur)
Der Tod und der Wert also. Warum auch nicht. Jedes andere Substantiv hätte zwar ebenfalls seinen Dienst getan, aber jenes kurze „Tod“ passt natürlich auch. Der Tod und das Verständnis des Todes in Schriften von Intellektuellen des 20. Jahrhunderts – seine Ideologie mithin – seien – so belehrt uns Martin Dornis – nur zu verstehen, wenn man den Wert versteht, bzw. versteht, dass man ihn nicht versteht, was aber letztlich auch nur eine Art des Verstehens ist.
Was allerdings an jener Konjunktion „Der Wert und der Tod“ irreführend ist, ist die Gleichgewichtung, die in ihr Ausdruck zu finden Schädel, 7.8k scheint. Dem Inhalt des Artikels entsprechend müsste es eigentlich heißen: Der Wert als die Ursache des Todes. Ohne den Wert sei der Tod weder zu denken, noch existiere er überhaupt. Schließlich sei er „kein biologisches Faktum, sondern eine gesellschaftliche Institution der Herrschaft und Unterwerfung“.(1)
Puh, da haben wir ja noch einmal Glück gehabt. Fast schien es, als hätte sich der Gesellschaftskritiker mit etwas beschäftigen müssen, das keine „gesellschaftliche Institution der Herrschaft und Unterwerfung“ wäre, sondern schnödes biologisches Faktum.
Nun zeigt sich hier die zweite Inkonsequenz. Haben wir, als Gesellschaftskritiker, denn nicht gelernt, dass auch die „biologischen Fakten“, jene Ergebnisse naturwissenschaftlicher Praxis, ja generell alle „Fakten“, „Institutionen der Herrschaft und Unterwerfung“ sind? Wäre dann nicht der Tod als Ideologie schon entlarvt, wenn er ein pures biologisches Faktum wäre?

Was ist eine „gesellschaftliche Institution der Herrschaft und Unterwerfung“? Der Wert natürlich, oder besser gesagt, das gesellschaftliche Wertverhältnis, das automatische Subjekt. Und das bestimmt sowohl die schnöden „biologischen“ „Fakten“ wie auch den „Tod“. Und da der Tod zur Klasse jener Institutionen gehört, müssen wir uns auch nicht weiter mit ihm beschäftigen, schließlich sind „Herrschaft und Unterwerfung“ schlechte Dinge. Wer weiß das nicht – und das reicht auch hin. Beschäftigen wir uns also lieber, womit wir uns immer beschäftigen, nämlich mit dem Wert und mit der Ideologie. Wenn wir das verstanden haben, haben wir schließlich alles verstanden.

Die Konsequenz dieser Denkweise findet in Martin Dornis‘ Artikel ihren fröhlichen Ausdruck darin, dass er sich mit dem Tod als Phänomen gleich gar nicht beschäftigt. Er schreibt nichts darüber, wie heute in dieser Gesellschaft über den Tod gedacht wird und welches die Formen des Umgangs mit ihm sind. Das weiß er schließlich schon, da er den Wert kennt. Der Wert setzt die Überflüssigkeit des Menschen, da das Wertverhältnis kein menschliches Verhältnis ist. Ergo affirmiert das Wertverhältnis den Tod und setzt die Ideologie des Todes frei. Und wie zum Beweis erscheinen da auch schon Nationalsozialismus und Islamfaschismus auf der Bildfläche, die genau jene Überflüssigkeit des Menschen (die – erwähnte ich das schon? – durch das Wertverhältnis konstituiert wird) auf‘s Beste verifizieren. Denn der Wert ist der Tod, die Islamisten lieben den Tod und wollen den Tod und da ohne den Wert kein Tod, ohne Wert auch kein Islamismus oder Nationalsozialismus. So einfach ist das.

Nun kann man auf diese Art und Weise Alles und Nichts aus Jedem und Etwas ableiten, es bleibt von der logischen Struktur der Argumentation her immer wahr. Wenn der Wert alles ist, ist Alles der Wert und so auch der Tod. Vielleicht ist das richtig, vielleicht auch nicht, zeigen könnte man das nur am Material und dieses Material wäre nicht in der Deduktion irgendwelcher Eigenschaften aus dem Wertverhältnis zu suchen, sondern nur in einer Analyse der Verhältnisse des Sterbens selbst. Aber Martin Dornis‘ Text enthält nichts dergleichen. Daher wäre wohl die einzig richtige Überschrift: Der Wert und der Wert.

Aber, gemach, gemach, es gibt ja noch die Ideologie des Todes. Es gibt ja noch Heidegger, Arendt und Sartre. An erster Stelle steht hier natürlich Heidegger mit seinem „Sein zum Tode“, seiner „Freiheit zum Tode“ und wie die Formeln noch heißen mögen. Und da sich Intellektuelle seit je lieber mit anderen Intellektuellen herumschlagen als mit der Realität, gehen wir also zu Heidegger.
Vorher muss aber noch einmal betont werden: „Die Ideologie des Todes ist wesentlich eine Einfühlung in den Wert.“ Nur dass wir dies nicht vergessen. Heideggers Analyse des Todes zeigt – so Martin Dornis – dessen Antisemitismus. Er dürfe „als Begründer und Wegbereiter der deutschen Ideologie vom Tode, als Begründer der Thanatologie gelten“. Nun kann man natürlich über Heidegger alles Schlechte sagen, was sich überhaupt sagen lässt, schließlich war er Nazi und weil er Nazi war, ist ihm auch alles Böse zuzutrauen. Eine weitere Argumentation erübrigt sich damit eigentlich. Dennoch bringt Martin Dornis zwei Argumente bei, die jene – ja bereits evidente Wahrheit – stützen sollen. Argument Nr.1: Heidegger zähle den Tod zum Leben, er affirmiere also den Tod. Argument Nr. 2: Heidegger denke die Angst (vor dem Tode) sehr „heroisch“.
Das erste Argument funktioniert dann, wenn man den Wert zwischenschaltet. Betreiben wir also ein wenig Projektionstheorie: Der Wert ist der Tod, die Ideologie des Todes ist die Einfühlung in den Wert oder die Identifikation mit dem Aggressor. Denn eigentlich wolle niemand den Tod, sondern alle das Leben. Da aber das Leben nun einmal nicht zu haben sei, wird es – als Wunsch – abgespalten, auf die Juden projiziert und in diesen negiert. Also sind alle, die den Tod affirmieren, Antisemiten. Allerdings ergeben sich hier zwei Schwierigkeiten: Was heißt es, das Leben zu wollen? Ginge es nicht eher darum, das gute Leben zu wollen? Was ist das Leben überhaupt? Wäre das Leben nicht ebenso ideologiekritisch zu untersuchen wie der Tod? Kann das Leben schlicht dem Wert entgegengesetzt werden? Und: Wann gilt die Projektionstheorie? Worauf ist sie anzuwenden? Ist jede Projektion antisemitisch?
Martin Dornis‘ Problem ist, dass er auch hier wieder holzschnittartige Muster anlegt. Denn Heidegger affirmiert nicht den Tod gegen das Leben, er affirmiert den Tod als dem Leben zugehörig. Wenn die Islamisten, die das Attentat in Madrid begangen haben, das Motto ausgeben: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“, so heißt es bei Heidegger eher: Du kannst das Leben nicht lieben, solange Du nicht weißt, dass der Tod zum Leben dazugehört. Du lebst falsch, wenn Du den Tod verdrängst. Du sollst Deine Entscheidungen im Wissen darum treffen, dass Du sterblich bist. Dass er dies in einer elitären, heroischen, brachialen Sprache tut, ist geschenkt. Seine Analyse des Todes zeigt seinen Antisemitismus nicht.(2)

Bleibt schließlich noch der gegen Hannah Arendt, Jean-Paul Sartre und Heidegger formulierte Ontologievorwurf. Indem sie über den Tod an sich sprechen, stellten sie sich einem Problem, über das sie nicht sprechen dürften. Martin Dornis bleibt auch hier abstrakt: Statt zu kritisieren, was sie sagen, wird letztlich schlicht kritisiert, dass sie etwas sagen. „Sich zu fragen, ob nun der Tod das menschliche Dasein strukturiert oder ob nicht auch die Geburt oder ob nicht beide außerhalb liegen, das menschliche Dasein vielmehr durch Endlichkeit strukturiert ist – all das sind falsche Fragen, auf die es prinzipiell keine richtigen Antworten gibt.“ Dass es vielleicht keine richtigen Antworten auf solche Fragen gibt, impliziert nicht, dass es nicht richtig sein kann, sich diese Fragen zu stellen und sogar Antworten darauf zu geben. Schließlich gibt auch Martin Dornis seine Antworten auf die Frage nach dem Tod, auch wenn diese sich in dem Mantra erschöpfen: der Tod ist historisch, der Tod ist ein Herrschaftsverhältnis, der Tod ist der Wert. Letztlich wäre zu zeigen, dass es nur diese Antwort sein kann, die es mir erlaubt, ein gutes Leben zu führen.
Wie abstrakt Martin Dornis‘ Ontologiekritik ist, zeigt sich zuletzt im berühmten „biologischen Substrat“, das nun einmal anzunehmen sei – wir dürfen ja schließlich die Natur nicht vergessen. Offen bleibt dabei, was unter biologischem Substrat anderes verstanden werden soll, als etwas was sterblich ist. Das biologische Substrat wird bei Martin Dornis geradezu instrumentalisiert. Es ist gut genug, den Menschen als leidensfähiges Wesen zu begründen, dieses Leiden braucht man schließlich, um einen Hebel für die Gesellschaftskritik parat zu haben, dass es aber Phänomene gibt, die dem Menschen schlicht unverfügbar sind (wie eben sein Tod) kann man durch ein Frageverbot nicht aus der Welt schaffen. Es ist unverständlich, eine Position einzunehmen, die schlicht behauptet, wir müssen den Tod mit aller Macht bekämpfen – was immer das heißen soll – solange bis dato noch Jeder und Jede diesen Kampf verloren hat. Mit seiner eigenen Begrenztheit umzugehen lernen, heißt zu wissen, wo man abstrakte Negation betreibt und wo konkrete Kritik. Wem es tatsächlich um das Individuum geht, der sollte es nicht lehren, blind gegen Mauern zu rennen, die es nicht einreißen kann. Daran kann es nämlich auch leiden.

Michael Reich

Anmerkungen

(1) Dieses und folgende Zitate aus CEE IEH #152: Der Wert und der Tod

(2) Tatsächlich ist es schwierig in Heideggers philosophischen Texten explizit antisemitische Argumentationen ausfindig zu machen, zumal er dem Rassismus als pseudowissenschaftlicher Grundlage des Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstand. Eher finden sich antiamerikanische und antibolschewistische Aussagen. Dennoch sind mündliche judenfeindliche Bemerkungen belegt, auch wenn man sich stets fragen kann, was diese mit dem Werk Heideggers zu tun haben (oder eben nicht). Selbiges gilt für folgende Auszüge aus einem Gutachten über den (jüdischen) Neukantianer Richard Hönigwald, das gegen dessen Verbleib an der Universität München gerichtet war und sich recht eindeutig antisemitischer Stereotype bedient. „Hönigwald kommt aus der Schule des Neukantianismus, der eine Philosophie vertreten hat, die dem Liberalismus auf den Leib geschnitten ist. Das Wesen des Menschen wurde aufgelöst in ein freischwebendes Bewußtsein überhaupt [...]. Auf diesem Weg wurde unter scheinbar streng wissenschaftlicher philosophisc her Begründung der Blick abgelenkt vom Menschen in seiner geschichtlichen Verwurzelung und in seiner volkhaften Verwurzelung in Boden und Blut. [...] der Mensch galt nur noch als Diener einer indifferenten, allgemeinen Weltkultur. Es kommt aber hinzu, dass nun gerade Hönigwald die Gedanken des Neukantianismus mit einem besonders gefährlichen Scharfsinn und einer leerlaufenden Dialektik verficht [...]“ Martin Heidegger am 25.06.1933 zitiert nach W. Schmied-Kowarzik (Hg.): Erkennen, Monas, Sprache, Würzburg 1997, S. 171/172.

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last modified: 20.5.2008