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Cyber-Report, 1.7k

„Can you stop
the birds singing?“

Freemuse.org – Freedom of musical expression

      „Music doesn’t have to be patriotic, sensitive or even make sense. Music, at its most fundamental, is freedom. It just needs to be there“ Eric Nuzum(1)
Freemuse.org ist eine internationale und unabhängige non-profit Menschenrechtsorganisation, welche sich weltweit für das Recht von Musikern und Komponisten auf freie Meinungsäußerung einsetzt. Sie ging 1998 aus der ersten Konferenz zu Musik und Zensur in Kopenhagen hervor und unterhält bis heute dort ihr Büro. Finanziell abgesichert wird die Organisation seit 2004 und vorerst bis 2009 im Wesentlichen von der SIDA, der Swedish International Development Cooperation Agency, welche eine Unterabteilung des Schwedischen Außenministeriums ist.
Vergleichbar mit anderen Menschenrechtsgruppen, sieht Freemuse ihre Aufgabengebiete vorwiegend in der Dokumentation von Rechtsverletzungen und deren Auswirkungen auf das Leben der betroffenen Personen und des musikalischen Lebens im Allgemeinen; in der Öffentlichkeitsarbeit, d.h. der Zusammenarbeit mit etablierten Medien, anderen Menschenrechtsorganisationen bzw. in der Unterstützung der von Zensur und Verfolgung betroffenen Künstler und der Überwachung ihrer Verfahren. Vor allem für letzteres ist das Bemühen groß, ein engagiertes internationales Netzwerk aufzubauen, welches schnell und direkt bedrohten Musikern und Komponisten zur Seite stehen kann.
Obwohl sie weltweit agiert und viele Mitarbeiter wie Symphatisanten stetig dazu beitragen, die dokumentierten Fälle von Zensur öffentlich zu machen und Druck auszuüben, findet die Organisation leider noch nicht einmal Erwähnung in der deutschen Wikipedia und auch die englische Version kann nur mit einer Erwähnung innerhalb des Artikels „Censorship Of Music“ aufwarten. Das verwundert allein schon wegen der enormen Fülle an Informationen, welche Freemuse.org zu bieten hat. Abgesehen von den üblichen Hyperlinks, welche zu jedem Thema nicht nur die Quellen in anderen Zeitungen verlinken, sondern auch die internen verwandten Fälle, kann man sich in der Freemusepedia über weltweite Fälle von Musikzensur in den letzten 2400 Jahren informieren(2). Weiterhin sind alle Freemuse-Beiträge nach Land/Region, Künstler und Thema geordnet (und ja, Heavy Metal hat einen eigenen Eintrag bei „Thema“). Eine Liste der von Freemuse in Auftrag gegebenen Studien ist als Literaturliste diesem Text angehangen. Alle können kostenlos auf der Website der Organisation als PDF heruntergeladen werden.
Abgesehen vom journalistischen Dokumentieren, werden zum Einen zahlreiche Konferenzen und Workshops von Freemuse organisiert – z.B. die weltweite Konferenz zu Musik und Zensur – zum Anderen zahlreiche Kampagnen durchgeführt oder mitgetragen. 2008 wurde außerdem das erste Mal der Freemuse Award verliehen(3).

„Music & Islam – What’s the big fuss?“

Beim Durchlesen der Seite fällt zunächst der extrem hohe Anteil von Artikeln zur desaströsen Lage von Musiker im Nahen und Mittleren Osten, auf. Die Anfeindungen gegenüber Frauen, die singen oder musizieren, gegenüber regimekritischen Musikern und Komponisten oder die Verfolgung von Menschen, welche schlicht und einfach westliche Musikstile adaptieren, sind so zahlreich, dass hier nur kurz einige Beispiele angerissen werden sollen. Die schlimmsten Zustände waren wohl die im von den Taliban beherrschten Afghanistan. Der unten verlinkte Bericht „Can You Stop The Bird Singing?“ behandelt die Situation vorm Einmarsch der US-Truppen im Herbst 2001, in der jeglicher Besitz von Musikinstrumenten, ja sogar das Hören von Musik unter Strafe stand. Diese Repression ist bis heute im afghanischen Alltag zu spüren, was momentan auf der Startseite von Freemuse durch zahlreiche Interviews dokumentiert wird. In dieselbe Kerbe schlägt auch der Bericht über den Film „The Rock Star and The Mullahs“, in dem Salman Ahmad der Frage nach geht, wie ein Musikverbot im Islam gerechtfertigt werden kann, bzw. ob es irgendwelche Berechtigungen dazu im Koran oder der Überlieferung gibt.
Interessant ist auch ein längerer Artikel(4) von Jonas Otterbeck zur generellen Rolle von Musik in der arabischen Welt, welche doch recht widersprüchlich ist. Nicht nur, dass sich die islamischen Gelehrten in völlig verfeindeten Lagern gegenüberstehen, von denen die fundamentalistischsten Musik an sich als ein Werk des Teufels ansehen über „moderate“ Muftis, welche Musik akzeptabel finden, solange sie tugendhaft ist und nicht „aufrührerische Nachrichten“ vermittelt, bis hin zu im Prinzip säkularen Statements, welche jegliche Art von Musik, so v.a. die islamkritische und offensive, als Herausforderung und Chance für die islamische Theologie sehen. Diese Position ist allerdings – laut Otterbeck – in der völligen Minderheit und wird öffentlich kaum geäußert(5).
Besonders wenn es um die konkreten Gefahren für Musiker geht, liegen jedoch zwischen den einzelnen Ländern Welten. Otterbeck zieht zunächst eine Grenze zwischen Ländern mit „starkem Staat“, d.h. mit einer relativ präsenten Exekutivmacht, aktiven Institutionen zur Zensierung der Medien, im Endeffekt einer gut kontrollierten öffentlichen Sphäre und Ländern, in denen eher Rackets das öffentliche Leben beherrschen. Bei der ersten Gruppe gibt es ein starkes Gefälle von Ländern, welche öffentliche Medien beinahe völlig kontrollieren – wie der Iran oder Saudi-Arabien – hin zu Ländern, in denen staatliche Zensur eine zwar starke, aber nicht dominierende Rolle (wie in Ägypten) oder eine eher marginale spielt (wie im Libanon, der vorrangig keine gesetzliche Zensur für national hergestellte Kulturgüter hat)(6). In Gebieten mit weniger starken staatlichen Institutionen, wie den palästinensischen Autonomiegebieten oder dem Irak, haben Musiker vorwiegend die direkten Übergriffe der Bevölkerung zu befürchten. So werden in Palästina schon mal Konzerte mit Maschinengewehren aufgelöst, weil die Musiker – obwohl in ihren Texten strikt djihadistisch – den amerikanisch-satanischen Stil des Hip-Hop benutzen, weil das Publikum nicht in Frauen und Männer separiert wurde oder weil sich die Künstlerin weigert, ausschließlich politische Lieder zu singen und auf Liebeslieder zu verzichten. Noch schlimmer ist die Lage in dieser Hinscht im südlichen und zentralen Irak: zwischen 2003 und 2006 wurden laut UN-Berichten 75 Musiker und Sänger wegen ihres Handwerks umgebracht, nahezu 80% der professionellen Musiker haben das Land bereits verlassen.
Eine Sonderrolle nehmen hier noch die antiimperialistisch und sozialrevolutionär aufgeladenen Terrororganisationen wie die Hamas oder die Hisbollah ein, da sie zwar selbstverständlich Musik abhängig von ihren Inhalten verbannen und mit verantwortlich sind für zahlreiche der oben beschriebenen Vorfälle, jedoch auch Tapes und CDs mit moderner Musik zu Propagandazwecken benutzen.

Europa und Nordamerika

Für mich unerwartet skurril waren auch die Fälle von Zensur im Europa und Nordamerika der letzten Jahre. In Westdeutschland und der BRD seit 1990 sind das eher weniger jene Stücke mit staatskritischem Inhalt als jene, die einen christlich-konservativen Wertekanon angreifen. Abgesehen von den bei der Leserschaft des CEE IEH wohl altbekannten Indizierungen von Liedern der „Ärzte“ oder den Anschuldigungen gegenüber Marylin Manson, was Selbstmordattentate angeht, sind bspw. die ersten drei Alben von Slayer und Cannibal Corpse immer noch wegen zu bildlicher Darstellung von Gewalt und satanischen Inhalten in Deutschland vom Verkauf und der Bewerbung ausgeschlossen. Nicht ohne Anerkennung liest man dazu auch folgendes: „Cannibal Corpse has made a decent living out of shocking the living hell out of the masses. Arguably the most popular death metal band in the short history of the genre, Cannibal Corpse has enjoyed a very steady career, spawning ten albums over 16 years and, most impressively, selling over a million copies worldwide with zero (and we mean: zero) radio airplay“(7).
Auch die schwierige Debatte um die Einschränkung von Bürgerrechten nach dem 11. September 2001 zur Bekämpfung von Terroristen hat selbstverständlich ihre Entsprechung im Umgang mit Musikern. Als wirklich komisches Beispiel soll hier noch kurz eine über 150 Songs umfassende Liste angeführt werden, welche am 13. September von Clear Channel, dem Besitzer der meisten Radiostationen in den USA, an seine Sender verschickt wurde. Um das Publikum nicht zu verärgern, wurde die recht drastische Empfehlung gegeben, jene Lieder wegen „fragwürdigen Inhalten“ nicht mehr zu senden. Natürlich enthielt diese Liste z.B. alle Lieder von „Rage Against the Machine“ oder anderen in der Vergangenheit kritischen Musikern wie John Lennon oder Bob Dylan, aber wirklich comedytauglich ist das Verbot von Liedern wie „Aeroplane“ (Red Hot Chilli Peppers), „Crash Into Me“ (Dave Matthews Band), „I’m On Fire“ (Bruce Springsteen)(8) und vielen anderen Liedern, die irgendwie etwas mit Flugzeugen, getroffen werden oder Weltveränderung zu tun haben.
Hinzu kommt, dass Zensur von Kulturgütern – speziell von Texten, CD-Covern oder Musikvideos – im sog. „Westen“ oft nicht primär von Regierungen forciert werden muss, da in der Regel bereits die Plattenfirmen, Fernseh- und Radiosender ihren Künstlern vorschreiben, was Bagger, 38.3k dem Publikum zuzumuten sei und was nicht. Die Gesetze des Marktes erweisen sich hier als verlässlicherer Zensor als die des Jugendschutzes.

White Noise

Natürlich stellt sich Freemuse auch der Frage, wie mit Musik zu verfahren sei, welche Hass und Gewalt, Intoleranz, Rassismus oder Homophobie predigt? Dazu kurz ein Auszug aus einem Interview mit Dr. Martin Cloonan(9), welcher den Vorsitz im Freemuse Exekutivkomitee innehat:

„While it is an anti-censorship organisation, Freemuse does recognise that there may be occasions on which free speech can legitimately be restricted. In general we judge on a case by case basis and are guided by international conventions such as the United Nations International Covenant on Civil and Political Rights. Such documents themselves tend to recognise that there are occasions where speech may legitimately be restricted. For Freemuse to be anti-censorship is not to say ,anything goes’.“

Wenn auch nicht als Zensor, so setz sich Freemuse hier doch zum Einen für die Einschränkung und zum Anderen die verstärkte öffentlich Beschäftigung mit rassistischer oder homophober Musik ein. Neben zahlreichen Artikeln zur „White Noise Music“ – Stichwort Ian Stuart Donaldson und die„Blood and Honour“ Organisationen – werden bspw. auch die Rolle der Homophobie im jamaikanischen Reggea, und die damit einhergehenden Proteste gegen Konzerte von „Elephant Man“ oder „Beenie Man“ in Europa thematisiert(10).

Fazit

Freemuse.org ist auf jeden Fall den ein oder anderen Internetbesuch wert. Die schon beschriebene Fülle der Informationen lässt die hier vorgestellte Auswahl als recht kurz und willkürlich ausgewählt erscheinen, was sie im Grunde genommen auch nur sein kann. Vor allem Artikel zu Asien oder Südamerika haben in diesen Artikel keinen Weg gefunden und seien dem interessierten Weiterleser ans Herz gelegt.
Dass Freemuse.org sich für den Schutz von angefeindeten Musikern und Komponisten einsetzt, weil diese in den Augen von Regimes nicht nur durch den Transport politischer Botschaften, sondern auch durch die oft mit Musik verbundenen Subkulturen und Einstellungen eine Gefahr darstellen, ist dabei in jeder Hinsicht gut zu heißen.
Und irgendetwas scheint an der Bedeutung der Musik im non-verbalen Dialog zwischen üblicherweise verfeindeten Gruppen schon dran zu sein. Zumindestens kann man sich dem Eindruck nicht verwehren, wenn man nach dem Interview mit der libanesischen Grindcore-Death-Metal-Band „Oath to Vanquish“(11) deren Website besucht und gleich auf der Startseite der israelische Musikjournalist Alon Miasnikov mit folgenden Worten zitiert wird:

„One of the best Extreme-Metal releases I’ve listened to this year! As an Israeli music journalist listening to these Lebanese grind band, I have to say, we need to have peace, even just to have these guys come over for a show in Tel Aviv!“

sysiphos

Literatur

„Music will not be silenced“ – report on 3rd Freemuse World Conference on Music & Censorship, August 2007 www.freemuse.org/sw21038.asp

„Hidden Truths“ – Freedom of musical expression in Belarus, January 2007 www.freemuse.org/sw21039.asp

„All that is banned is desired“ – Freedom of musical expression in the Middle East, June 2006 www.freemuse.org/sw13988.asp

„Singing in the Echo Chamber“ – Freemuse report on censorship in post 9/11 USA, February 2006 www.freemuse.org/sw12173.asp

„Which way Nigeria?“ Freemuse report on music censorship in Nigeria, April 2003 www.freemuse.org/sw2108.asp

„Playing with Fire“ – Freemuse report on music censorship in Zimbabwe, October 2001 www.freemuse.org/sw1252.asp

„A Little Bit Special“ – Freemuse report on music censorship in Romania, October 2001 www.freemuse.org/sw1174.asp

„Can you Stop the Birds Singing?“ – Freemuse report on censorship of music in Afghanistan, May 2001 www.freemuse.org/sw1106.asp

Anmerkungen

(1) Aus „Crash into me, baby: America’s implicit music censorship since 11 September“ unter: www.freemuse.org/sw7005.asp

(2) Diese Zahl wirkt allerdings nur pompös. Tatsächlich findet man außerhalb von Europa erst ab dem 20. Jahrhundert Einträge und auch die europäischen belaufen sich bis ins 19. Jahrhundert auf nur sechs Stück, wovon der erste anspricht, dass 375 v.u.Z. von Platon Musikmodi beschrieben wurden, welche in einem idealen Staat nichts verloren hätten. Nun gut, das ganze ist „Under Construction“.

(3) Er ging an den in Mali im Exil lebenden vorischen Reggeakünstler Tiken Jah Fakoly, welcher nicht nur die politischen Eliten Afrikas kritisiert, sondern auch – was nicht unbedingt üblich ist – afrikanische Tabuthemen anspricht und so bspw. Frauenbeschneidung oder die Rolle islamischer Geistlicher kritisiert. Für seine Lieder bekam er mehrfach Morddrohungen, viele seiner musikalischen Mitstreiter wurden bereits umgebracht.

(4) Battling over the Public Sphere: Islamic reactions to the music of today (www.freemuse.org/sw22367.asp)

(5) Er selbst führt dafür im arabischen Raum nur Sheikh Ibrahim Ramadan al-Mardini an. Einen libanesischen Gelehrten, der 2001 das Buch at-tibyan fi ahkam il-musiqi wa-l-alhan (Verträge zur Regulation von Musik und Melodien) veröffentlichte.

(6) Natürlich lässt sich das nicht verallgemeinern, da es ja gerade im Libanon einen himmelweiten Unterschied zwischen großen Städten wie Beirut und bspw. den von der Hisbollah dominierten Gebieten im Süden des Landes gibt.

(7) www.freemuse.org/sw20516.asp

(8) die gesamte Liste ist zu finden als Eintrag in der englischen Wikipedia unter: List of songs deemed inappropriate by Clear Channel following the September 11, 2001 attacks

(9) www.freemuse.org/sw6118.asp

(10) siehe dazu auch „Babylon inna Zion“ im CEE IEH #140

(11) Sie haben übrigens mit den selben Vorwürfen zu kämpfen, wie andere Metal-Bands auf der ganzen Welt. Verführung der Jugend, Drogenmissbrauch, Schuld an Selbstmorden und – natürlich – Satanismus.

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last modified: 26.3.2008