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review corner Buch, 1.8k

Revolutionsgeschichte, ein-
schneidend staatlich eingebettet

Buchcover, 7.0k

Henning Böke: Maoismus. China und die Linke – Bilanz und Perspektive. Stuttgart 2007 (in der Reihe „theorie.org“ des Schmetterling-Verlags)(1)

Das Buch ist im Infoladen im Conne Island zur Ausleihe erhältlich.

Zumindest im deutschsprachigen Raum ist dieses unerwartet „unzeitgemäße“ und zugleich mitten in den aktuellen China-Hype hineinplatzende Büchlein mit kaum mehr als 200 Seiten ein einmalig gelungenes Kompendium des gesamten Maoismus-Syndroms. Schon damit setzt es Maßstäbe, indem es dem Gedächtnis des erst kürzlich (fast völlig unbemerkt von der linken Öffentlichkeit) gestorbenen Charles Bettelheim gewidmet ist (1913-2006). Er kann als einer der bedeutendsten wissenschaftlich-communistischen(2) Erforscher der konkreten Übergangsversuche aus der kapitalistischen Weltmarktgesellschaft in eine sozialistische Ökonomie im 20. Jahrhundert gelten.

Maoism Reloaded

Angesichts des zähen Eurozentrismus gegenüber dieser von Historikern als „die lange Revolution“ bezeichneten gigantischen Umwälzung (seit Mitte des 19. Jahrhunderts) in China, nämlich der bürgerlichen und proletarischen Revolution eines Fünftels der Menschheit, leistet Henning Böke in seinem Bändchen eine komprimiert-informative Zusammenschau der revolutionären Geschichte nicht nur der chinesischen sondern zugleich der westlichen Linken, also der „ML-Bewegung“, ja darüber hinaus eine Skizze „des Marxismus-Leninismus“ und seines Zerfalls um 1960, seines maoistischen Ausglühens um 1970-90 und seines heute vollendeten Niedergangs im Weltmaßstab. Diese verdrängte Geschichte greift tief in die Genesis der „Neuen Linken“ in der BRD hinein – als „aleatorische Begegnung“, wie Böke es mit einem Ausdruck von Louis Althusser bezeichnet (HB196: „ein zufälliges Zusammentreffen ungleichzeitiger Entwicklungsstränge“) - und macht damit endlich klar, wie gegenwärtig und unabgegolten die essentials ihrer damaligen maoistischen Lösungsversuche geblieben sind: den Übergang zu communistischer Produktion und Verteilung konkret zu denken, die Organisationsfrage zu stellen und auf Basis von Klassenanalyse, d.h. der Bestimmung der sich ständig verändernden Zusammensetzung und Mentalitäten der produktiven Gesamtarbeiterin und lohnabhängigen Bevölkerungsmassen kollektiv zu experimentieren. Vor allem ist das nur vermittels permanenter Anstrengungen möglich, die Dualität von Theorie und Praxis in eine massenhaft „anwendbare“ Form zu bringen – damals noch naiv parteikommunistisch als „Kampf zweier Linien“ innerhalb nationalstaatlich gefasster Avantgarde-Organisationen ausgefochten: „demokratisch-zentralistisch“ und zugleich als „Massenlinie“ in Betriebe, Institutionen und Gewerkschaften „hineingetragen“. Diese Vermittlungsanstrengung blieb seinerzeit unter dem Kriterium communistischer Selbstbemächtigung der Proletarisierten trotz ungeheurer Opfer auch in China vergeblich und ist heute schon aufgrund der Neukonstitution der globalen gesellschaftlichen Gesamtarbeiter_innenklasse völlig neu zu erfinden. H.Böke zieht nun nicht nur die gesamte theoretische Bandbreite um dieses Problem in das Bändchen ein, und dies auch noch weit über China und die westliche Linke hinaus (Überblick zur ML-Bewegungsgeschichte von Skandinavien über USA und Indien bis Nepal), er stellt sich diesem globalen Übergangsproblem auch selbst im „Epilog“, wo er „eine Bilanz des Maoismus“ erst „vorläufig“ ziehen will. Die Pointe von Bökes Lösungsweg: „mit dem besseren Erbteil von Marx und Mao über Marx und Mao hinauszugelangen, verraten wir erst zum Schluss.
In diesem Kontext ist zunächst noch auf einen ganz besonderen, raren Vorzug von Bökes Gesamtdarstellung der welthistorischen Wechselwirkungen des Maoismus hinzuweisen: vor dem Hintergrund einer Skizze der Post-Mao-Ära ( Durchsetzung der „Sozialistischen Marktwirtschaft“) werden wir detailliert in die Genesis und Gegenwart von Chinas „neuer Linken“ eingeführt (HB172-185). „Mao suchte einen analytischen Zugang zu komplexen Verhältnissen, in denen der idealtypische Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat in einer kapitalistischen Industriegesellschaft noch nicht ausgebildet war, während in den entwickelten kapitalistischen Ländern eine Komplexität von Widersprüchen entstanden war, die mit jener idealtypischen Beschreibung nicht mehr zureichend zu erfassen waren. Die Neue Linke [im Westen] entwickelte eine Kapitalismuskritik als Kritik der bürgerlichen Moderne und bezog hierfür Anregungen von Mao. Die nach 1990 entstandene Neue Linke der Volksrepublik China fand, konfrontiert mit den Folgen der kapitalistischen Modernisierung, die in China inzwischen in vollem Gange war, über eine Rezeption des Denkens der westlichen Neuen Linken zurück zu Fragestellungen von Mao.“ (HB196)
Auch die Literaturliste ist besonders in dieser Hinsicht hervorragend (westliche und chinesische Neue Linke, neueste Bilanzierung der Mao-Ära in China und der Welt vor allem anhand wissenschaftlicher Zeitschriftenbeiträge, zahlreiche Links zu Forschungserträgen), fällt jedoch in anderer Hinsicht gravierend ab. Damit kommen wir zur Kritik an Bökes Gesamtdarstellung.
Wenn zu bemängeln ist, dass eine sozial-revolutionär prägnante Zeittafel fehlt (in der Hoffnung, dass eine solche auf der Verlags-Webseite theorie.org bald erscheint, womöglich als Resultat kollektiver Kooperation von Leser_innen und Autor des Einführungsbandes), so fällt auch als Grundmangel der Literaturangaben auf, dass ein ganzer, bestimmter Trakt der materialistischen Maoismus-Analyse strikt ausgeblendet bleibt: de facto die gesamte linkskommunistische und auch sonstige marxistisch herausfordernde Kritik (es geht uns keineswegs um „Vollständigkeit“).(3)
So sehr der informative Gebrauchswert des neuen theorie.org-Bändchens zu lobpreisen ist, so grausam-gründlich müssen wir also die theoretische Substanz befragen, inwieweit sie dem Bedürfnis der sozialen Emanzipation Genüge tut. Es ist unmöglich, hier eine systematische Kritik seiner Sicht- und Darstellungsweise – die auch Bökes in analytisch/historischer Engführung durchkomponierte, spannende Erzählkonstruktion antasten müsste – zu leisten, doch auch für einen kleinen impressionistischen Katalog von Einwänden und Gegenthesen fehlt hier der Raum. Eine kohärente Kritik, die nur kollektiv seinem verdienstvollen Versuch gerecht werden könnte, soll hier lediglich mit wenigen gravierenden Einwänden angeregt werden. Hierzu sollte das entsprechende Wochenendseminar, wie es die Autor_innen der Reihe theorie.org zu ihren Einführungsbändchen auf Einladung des Schmetterling-Verlags zu geben pflegen, eine erste direkte Gelegenheit bieten.

„Orientalische Despotie“ gestern, heute und morgen? Oder: A letter from Marx to Mao

Zunächst ist kaum zu fassen, dass Böke die stalinistisch-maoistische Geschichtsschablone von der angeblichen „chinesischen Feudalgesellschaft“ weiterschleppt – „die es nie gegeben hat“ (Lukács 1970), was sogar schon innerhalb der Komintern der 1920er Jahre dissidente materialistische Chinaforscher wie vor allem Lajos Magyar (um 1940 vom Stalinismus umgebracht) nachgewiesen haben . Marx jedenfalls ging weder von irgendeiner Geschichts-„Philosophie“ (wie noch Hegel, der von Marx genau in dieser mystischen Hülle zertrümmert wurde) aus und dementsprechend explizit auch nicht von einer Periodisierung in eine Abfolge von Gesellschaftsformationen, die ein westeuropäisches „Modell“ theoretisch den anderen Weltregionen verbindlich oktroyiert(4),sondern arbeitete gerade auch für China „die asiatische Produktionsweise“ als Basiskategorie für eine Kritik der politischen Ökonomie derartiger Reproduktionsstrukturen heraus(5).
Die besten „Marxisten“ haben diese Analyse – meist als DissidentInnen des Stalinismus – fortgeführt; ausgerechnet der Parteikommunismus in China selbst, ja sogar der „undogmatische“ Mao in seinen (später allerdings noch einmal skrupulös stalinistisch auf Linie gebrachten) Schriften setzt die Schablone vom „Feudalismus“ als Durchgangsstadium sämtlicher Gesellschaften aber blind voraus, was die Weichenstellung für alle weitere Analyse der Klassen in der chinesischen Gesellschaft folgerichtig fatal beeinträchtigt hat. Wie widerstrebend auch Böke an dieser maoistischen Doktrin eines „chinesischen Feudalismus“ hängt und ihr folgen will, verrät seine Formulierung von einem „eigenartigen Feudalismus“ in China (HB58, deutlicher noch S.37 sowie 43unten); nolens volens zeigt er selbst, wie zäh das Erbe der asiatischen Produktionsweise gerade die communistisch-„genossenschaftlichen“ Elemente des maoistischen Transformationskonzepts bedingt und inspiriert hat: „Die ländliche Industrialisierung, verbunden mit dem Augenmaß der dezentralisierten kleinen Struktur, hat Erfolge ermöglicht, die den chinesischen Entwicklungsweg auszeichnen. Noch heute sind die wirtschaftlich erfolgreichsten Dörfer in China meist solche, die zu Maos Zeiten solide kollektive Infrastrukturen aufgebaut haben und im Zuge der Reformen nach Maos Tod ihre Kollektivwirtschaften nicht einfach aufgelöst sondern sie in moderne genossenschaftliche Formen transformiert haben. Gewiss stieß die Kollektivwirtschaft auf Grenzen: viele Dörfer und ganze Regionen blieben in Ketten der Rückständigkeit gefangen.“ usw. (HB61) Gerade diesen „Doppelcharakter“ von kollektiver Stärke auf lokalem und stagnativer Schwäche auf gesamtgesellschaftlichem Maßstab hatte Marx schon in seinen legendären „Brief(entwürf)en an Vera Sassulitch“ herausgearbeitet und nicht erst dort(6); Marx hatte diese Eigentümlichkeit der asiatischen Produktionsweise schließlich sogar als Ausgangsterrain für eine communistische Transformation aus einer derart rückständigen weil trotz ihres kulturellen Reichtums stagnativen, vorkapitalistischen Gesellschaft heraus perspektiviert – allerdings unter der Bedingung einer proletarisch-communistischen Revolution zugleich im kapitalistisch entwickelten Westen. Es scheint gerade die geniale Intuition Maos gewesen zu sein, die Revolution-in-Permanenz auf diese kollektive Gesellschaftlichkeit der Dorfkommune(n) zu gründen: „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen!“ – bei Rechnungtragen der (von Marx ja gerade in Frage gestellten) „Notwendigkeit“ des zentralstaatlich-kapitalistischen Hebels einer nachholenden industriellen Akkumulation. Dergestalt war die Mao-Position stets eine „zentristische“ auch in der stalinistisch präformierten KP, gleichsam als hätte er die ganze Zeit die zwei möglichen Wege aus der asiatischen Produktionsweise heraus im Sinne des Marxschen Entwurfes vor Augen gehabt – den forciert nachholenden „durch das Kaudinische Joch“ des westlichen Kapitalismus oder einen von der asiatischen Bauern-Kommune ausgehenden Versuch kollektivierender technologischer Modernisierung – obwohl Mao diese Marxtexte schwerlich kannte. Stellenweise lesen sich Marx’ Sassulitch-Entwürfe wie ein Leitfaden für Maos Doktrin vom „Kampf zweier Linien: gegen die Machthaber in der Partei, die den kapitalistischen Weg gehen“ und für Maos Setzen auf die „Linie“ der Kommune in Land und Stadt. Nur dass der maoistische Weg zugleich der Versuch einer gewaltsamen Verklammerung der „Kommune und des „Kaudinischen Jochs“ staatskapitalistischer Modernisierung war, was konsequent zu Schüben des Voluntarismus auf Kosten der Kommune und zum Scheitern des Modernisierungsprojektes als maoistischem führte. H.Böke schildert diese Ambivalenz des maoistischen Weges sehr plastisch, er bringt sie aber theoretisch, als Transformationsproblem einer bestimmten, besonderen Produktionsformationen, nicht auf den Punkt(7). Dass die vorkapitalistische Gesellschaft in „China“ - außer den industriellen Exklaven – auch noch gar keine Klassengesellschaft im modernen Sinne (Polarität der zwei großen Hauptklassen oder „Lager“ entlang Lohnarbeit und Kapital) war, sondern klassenanalytisch gesehen eine Art Flickenteppich, dessen Buntscheckigkeit geradezu nach einer „marxistisch-leninistischen“ Schablone zwecks „idealtypisch“ verklammernder Staatsideologie schrie(8) und dass der republikanische Nationalstaat eine territorial übergreifende Gesellschaftlichkeitsinstanz des traditionellen „Reiches“ zum Zwecke eines bürgerlich-proletarischen nation building überhaupt erst militärisch erschaffen musste – diesen sozial-politischen Inhalt der Chinesischen Revolution bis zur Gründung der Volksrepublik schildert Böke zwar aus maoistischer Perspektive, doch arbeitet er die Grundzüge nicht scharf heraus: vor allem, dass sie eine durch und durch kriegerische Organisationsform einer seit 150 Jahren zutiefst militarisierten Gesellschaft ist. Unterbelichtet bleibt bei ihm: die KPCh wurde ab 1920 direkt als Zwilling oder „Pilotfisch“ einer bürgerlich-revolutionären Militärpartei (der Staat-Volk-Partei GuoMinDang) durch die Komintern kreiert; und erst nach der gewaltsamen Absprengung von diesem Vehikel (die Massaker von Jiang Kaishek 1927) wurde sie zum selbständig operierenden „Fisch im Wasser“ der Bauernmassen, aber eben als eigenständige „Rote Macht“/Armee, und das legendäre „Modell“ des Maoismus nach dem „Langen Marsch“ in den 1930ern, YenAn als Basisterritorium des antifaschistischen Widerstandskrieges gegen Japan in China, war eine kriegskommunistische Militärkolonie. Die Kardinalfrage des Maoismus „Wer sind unsere Freunde, wer sind unsere Feinde?“ ist immer eine kriegspragmatische, militärstrategische und –taktische; das prägt, beengt und verflacht das theoretische Format des MaoZedong-Genius mehr, als Henning Böke (den mehr als alles andere die Affinität des KP-Professors Althusser zu Maos Praxis- und Widerspruchs-Dialektik fasziniert) wahrhaben will.

Über Hauptwidersprüche und Nebenverbrechen

Mao verflacht nämlich die Dialektik, die ursprünglich als „rationeller Kern“ oder wissenschaftlicher Inhalt der Hegelschen Dialektik von Marx übernommen und als komplizierte Methode allseitig zu öffnender „Reflexionsbestimmungen“ (vgl. Lukács, Zur Ontologie… Bd.1: 535ff, 555ff) revolutioniert worden ist, und bringt diese Methode ins Schema einer Lehre „Über den Widerspruch“ ( die vom SU-Philosophen Deborin entlehnt ist – was Böke aber nicht in seiner „Althusserisierung Maos“ unterbringen kann): So schuf er die leicht verständliche, aber zugleich immer mystisch bleibende Schablone für einen Pragmatismus stets einander nachgeordneter, aber blitzschnell (und stalinistisch-willkürlich) fürs praktische handling tauglicher „Haupt- und Nebenwidersprüche“, dem ein simpler aber flexibler „Eins teilt sich in Zwei“-Dualismus zugrunde liegt. Diese maoistische Widerspruchslehre faszinierte von der dialektischen Arbeit des Begriffs überanstrengte oder überforderte sowie an der effektiven Praxis zügigen „Parteiaufbaus“ und kampagnenpolitischer „Massenmobilisierung“ interessierte westliche Linke stets am MaoZedong-Denken; nicht nur Henning Böke, dem der ausgesprochene historische Determinismus-Optimismus Maos peinlich ist, weil er ihn lieber dem vermeintlich halben „Hegelianer“ Marx anlasten möchte, vor allem was die angeblich „naive“ materialistisch-historische Auffassung von der progressiven Rolle der Produktivkräfteentwicklung betrifft. Dass die Widerspruchslehre und –praxis des staatskommunistischen Mao Zedong mit dem Pragmatismus seines bourgeoiskommunistischen Widerparts Deng Xiaoping mehr gemeinsam hatte als die beiden feindlichen Weggenossen und ihre „Linien“ trennte, nämlich die roh-kommunistische Parteistaats-Doktrin vom schnellstmöglichen Aufbau einer „starken, modernisierten sozialistischen chinesischen Nation“, die eingestandenermaßen nur aus der Überausbeutung und Selbstausbeutung der Lohnarbeiter_innen und in der Hauptmasse der Bäuer_innen herauszupressen ist – dieses kleine schmutzige Geheimnis des maoistischen „Akkumulationsmodells“ kann von Linken, denen an der Geschichtsaufarbeitung des sozialen Emanzipationskampfes in China etwas liegt, entweder ohne Wenn und Aber zu den unzweifelhaft errungenen „Erfolgen“, „Siegen“ und „Errungenschaften“ des chinesischen „Kommunismus“ oder wahlweise seiner „sozialistischen Marktwirtschaft“, ihren unabweisbar vorgerechneten Wohltaten für „die Massen“ schlicht hinzugefügt werden, um der Totalität der „Wahrheit in den Tatsachen“ willen, so wie es die heutigen chinesischen Künstler_innen oder einige Staatssoziolog_innen vielfach so gut tun (dürfen und sollen), denen man zu diesem ventilierenden Beruf eine vorübergehende Narrenfreiheit und Alibifunktion zugesteht. Man kann das bourgeoiskommunistische Skelett-im-Schrank des chinesischen Staatskapitalismus aber auch verschweigen, oder ein wenig übergehen, überspielen, relativieren und rationalisieren, diese Hekatomben für „den sozialen Fortschritt“ geopferter Chines_innen, so ähnlich wie es der maoistische Topmanager in dem Dokufilm „Losers and Winners“ (BRD 2007) lächelnd verkündet: „Der Vorsitzende Mao hat auch gesagt: Wenn man Großes erreichen will, da bleiben eben immer welche auf der Strecke!“ Wir überlassen den Leser_innen das Gesamturteil, wie Henning Böke sich in diesem klassischen Zwiespalt einer westlichen Linken zu den „notwendigen“ Hekatomben „des Sozialismus“ verhält, in der Tradition einer ausgesprochen verständnisvollen, sozusagen milden Linken, die sich in der Regel stets im stereotypen Reflex apologetisch zur Geschichte der staatssozialistischen Sieger geäußert hat, so wie sie sich auch heute apologetisch zur „sozialistischen Marktwirtschaft“ der Sieger über die Maoist_innen äußert. Denn immerhin ist es ja „der Sozialismus“, dessen Kritik man doch am liebsten den Schwarzbuchstatistikern „des Kommunismus“ überlässt.(9)
Böke konstatiert vorab ganz richtig „im Westen heute die Tendenz, die kommunistische Herrschaft generell als Terrorregime zu denunzieren.“ Gegenüber der selbst auferlegten Gehirnwäsche mode-maoistischer Apologetik in der westlichen Linken waren in den Sixties die Situationist_innen allerdings wahrheitsliebender in der Realitätsprüfung: das konzentrierte Spektakel vom „Sozialismus“ lügt Warenproduktion, Kapital und Lohnarbeit sowie die bürokratische Diktatur seiner herrschenden Ausbeuterklasse in ihr Gegenteil um, und „die sich allenthalben ausbreitende Bürokratie hat für das Bewusstsein die unsichtbare Klasse zu sein, so dass das ganze gesellschaftliche Leben verrückt wird. Die gesellschaftliche Organisation der absoluten Lüge folgt aus diesem grundlegenden Widerspruch.“ (Die Gesellschaft des Spektakels“, These 106). Die schmerzlich zu lesenden Schwarten à la „Das war der Kommunismus“-Dokumentationsabfertigung folgen dieser Lüge nur und schreiben sie „in den Tatsachen“ fort. Sie bürden den linken Apologien mit dem Dementi dieser Tatsachen zugleich genüsslich die Verdreifachung derselben Lüge auf. So kann die spektakuläre Arbeitsteilung zwischen den gängigen „Antitotalitarismen“ auf der einen und den Varianten staatssozialistischer Apologetik auf der anderen Seite des totalitären kapitalistischen Weltsystems prima weiter funktionieren (vgl. z.B. HBs Ablenkungsrhetorik S.202).
Jedenfalls sind – wenn ich tatsächlich korrekt gelesen habe (dann müsste das zumindest auf Seite 28 behandelt werden) – die ungeheuren Massaker von 1927 an den revolutionären Proletarier_innen und Kommunist_innen durch die Staat-Volk-Partei (unter Jiang Kaishek, in dessen Allianz die KPCh durch die verheerende Stalinsche Kominternpolitik hineingezwungen und festgehalten wurde bis zu ihrem Untergang und dem maoistischen Rebirthing auf dem Land und auf dem „Langen Marsch“) dem an der Wiege des Maoismus vorbeigehenden Böke kaum ein Sterbenswörtchen wert, geschweige denn dass dieser entscheidende, verhängnisvolle Bruch der ganzen communistischen Revolution in China als die historische Bedingung für den Aufstieg des Maoismus (nämlich des Bauernkommunismus unter dem Regime einer bürgerlich-nationalstaatlich modernisierenden Militärpartei im Namen einer „proletarischen Hegemonie“-Repräsentation) für eine nachholende kapitalistische, „neudemokratische“ Revolutionsetappe klar und nüchtern herausgearbeitet würde. Nicht nur wird stattdessen von einem „besonderen Feudalismus“ phantasiert, den es angeblich erst einmal zu überwinden galt, sondern leider werden auch noch Maos eigene Bestimmungen der „Neuen Demokratie“ durcheinander gebracht: Henning Böke konfundiert gleich anfangs die chinesische „Großbourgeoisie“ mit der Kompradorenbourgeoisie, wodurch das entschiedene maoistische Setzen auf die antiimperialistische nationale Einheitsfront mit der Klasse der „nationalen Bourgeoisie“ verdunkelt wird (HB24; korrigiert erst auf S.197). Durchaus benennt Böke den Klassen-Eklektizismus, der die historisch-materialistische Klassenanalyse bei Mao ersetzt [HB 38]). Erst wo Böke sich endlich auf die sozialhistorischen Befunde Rainer Hoffmanns stützt, arbeitet er die wirklichen Klassentriebkräfte der „Kulturrevolution“ gegen Mitte der 1960er gut heraus. Hier springt er schließlich auch einmal ein wenig über seinen eigenen Schatten, indem er diese treibenden Kräfte der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ als „die Unterprivilegierten des Staatssozialismus“ bezeichnet.

Staatssozialismus oder –kommunismus, der immer ein Bourgeoissozialismus oder -kommunismus im diffusen Sinne bleibt(10), kann von der Vorstellung der Staatsmacht als dem Subjekt, als der Repräsentation der „Emanzipation“ nicht herunter: „die Rücknahme der Staatsgewalt durch die Gesellschaft als ihre eigene lebendige Macht, an Stelle der Gewalt, die sich die Gesellschaft unterordnet und sie unterdrückt; (…) die politische Form ihrer sozialen Emanzipation an Stelle der künstlichen Gewalt, (die sich ihre Unterdrücker aneigneten) (ihre eigene Gewalt, den Unterdrückern entgegengesetzt und gegen sie organisiert)“ so Marx bei der Kennzeichnung des Commune-Modells(11), eine Selbstbemächtigung der assoziierten Produzierenden, die mit der Selbstaufhebung der unterdrückten Gesellschaftsklasse und der Klassengesellschaft zusammenfällt, ist ihm ein unbegreiflicher Wahnsinn und ein „anarchistischer“ Gräuel.
Umgekehrt kann hier auch nur mit einem Marx-Zitat aus der Commune-Verteidigung von 1871(12), die u.E. die ganze Problematik der maoistischen Revolution erfasst werden: Die Commune als Modell der sozialen Selbstaufhebung des Proletariats „schafft das rationelle Zwischenstadium, in welchem dieser Klassenkampf seine verschiedenen Phasen auf rationellste und humanste Weise durchlaufen kann. (…) Die Arbeiterklasse weiß, dass sie durch verschiedene Phasen des Klassenkampfes hindurch muss. Sie weiß, dass die Ersetzung der ökonomischen Bedingungen der Sklaverei der Arbeit durch die Bedingungen der freien und assoziierten Arbeit nur das progressive Werk der Zeit sein kann (jene ökonomische Umgestaltung) (…) Aber die Arbeiterklasse weiß zugleich, dass durch die communale Form der politischen Organisation sofort große Fortschritte erzielt werden können und dass die Zeit gekommen ist, jene Bewegung für sich selbst und für die Menschheit zu beginnen“
Die wirklichen emanzipativen Leistungen ebenso wie zugleich Verfehlungen, ja Verbrechen, des „Zwei Linien“-Revolutionskonzepts MaoZedongs dürften in seiner Ahnung dieser Transformationsmöglichkeit begründet sein. Die Proklamation der „Pariser Commune der Sechziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts“ durch Mao Zedong persönlich war das um 1966/67 von der Shanghaier Linken („Viererbande“) ausgegebene, von den revolutionär-communistischen Elementen aber sofort massenhaft aufgegriffene und in die Durchsetzung von lokalen Commune-Machtstrukturen umgesetzte lösende Wort gegen den konsolidierten Staatskapitalismus der stalinistischen Ära; als politisches Konzept war es der sozialrevolutionäre Motor der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ (GPKR); diese Perspektive war und bleibt das communistisch-proletarische Moment am Maoismus, das direkt von den „Modernisierungsverlierern“ in dem nach der Gründung der VR China rasant neu geschaffenen jungen Proletariat (Kontrakt- und Wanderarbeiter_innen zwischen Land und Stadt, wachsende jugendliche Massen aufs Land deportierter gebildeter Schulabgänger_innen und „akademisches Proletariat“ wie freigesetzte hoch bewusste revolutionäre Veteranen aus der roten Armee, last but not least aber die untersten Schichten der industriellen Betriebshierarchie) seine objektiven und subjektiven Träger_innen fand und das ihn auch als weltweit überspringendes Faszinosum erklären kann. Aber dieses Communistoide im Maoismus konnte historisch noch nicht zum „übergreifenden Moment“ (Marx) werden, weil es von Anbeginn des Mao-Stalinismus (d.h. spätestens schon ab 1927) eine (Selbst-)Lüge war: nicht als „das Werk der Arbeiterklasse selber“ und der Landarmut, der Frauen, der Jugendlichen und anderen „Modernisierungsverlierer“ des Akkumulationsregimes, sondern einzig und letztinstanzlich als parteistaatliche Repräsentation durfte „revolutionäre Rebellion gerechtfertigt“ (Maos „kultur“-revolutionäre Devise) sein. Damit blieb auch die heroischste maoistische „Himmelstürmerei“ spektakulär, d.h. ein verkehrtes, entfremdendes ideologisches Bild, bloße konzentrierte revolutionär-rebellische Opern-Staffage im Dienste eines rohen Staatskommunismus und seiner bourgeoiskommunistischen „ErsatzHerrschendenKlasse für die Durchsetzung der Warenproduktion & Lohnarbeit“ (so die situationistische Formel für die leninistisch-stalinistische Formation). In den bürgerkriegsartigen Klassenkämpfen der GPKR wurde von „oben“ und von „unten“ der proklamierte „Commune“-Charakter der maoistischen Revolution dementiert. Die angeblich proletarisch-sozialistische Revolution erwies sich „oben“, auf der Ebene des „maoistischen Zentrums“ (R.Hoffmann) und der schon bis 1969 durchgesetzten pan-maoistischen(13) „kulturrevolutionären“ Militärdiktatur der „Revolutionskomitees“, als eine „feuerrot lackierte“ bürgerliche, und die wirklich weiter treibenden, selbständigen communistischen Elemente in der Basis der chinesischen Gesellschaft – solche Massenbewegungen, wie sie ihren vielfältigen und hochartikuliert-bewussten Ausdruck fanden beispielsweise in der „Proletarischen Allianz von Hunan“ und der (Zweiten) Commune von Shanghai, Kanton u.a. - wurden vom kulturrevolutionären Parteiregime und seiner bürokratisch-kapitalistischen Basis als „dem Schein nach ultralinke, dem Wesen nach rechte“ bürgerliche Konterrevolution diffamiert und durch die konsolidierte Militärdiktatur der „Revolutionskomitees“ und der Geheimpolizei, immer auch im Namen und Auftrag „des Großen Steuermanns“ und seiner „Shanghaier Mafia“, blutig abgewürgt(14).
Obwohl Henning Böke unmissverständlich im Nachhinein für die – wie er durchgängig suggeriert – historisch-deterministisch gewissermaßen realpolitisch nun einmal notwendige maoistische Diktatur der mehrwert-akkumulierenden Bürokratie-Bourgeoisie Partei ergreift und deren Regime lediglich mit „zivilgesellschaftlichen Vermittlungs-Institutionen“ (HB140, 143f, 200f, und direkt mit dem KP-Ideologen Althusser gegen Marx gewandt: 194!) ausgestattet, komplettiert-modernisiert sehen moechte, ganz im Sinne des reformistischen Dogmas von „staatlichem Handeln, das nach wie vor unverzichtbar ist“ (HB143f), und obwohl er einen Eiertanz vollführt, um der entscheidenden, im Marxschen Sinne zutiefst berechtigten Fragestellung des Maoismus: der „Weiterführung des Klassenkampfes unter der Diktatur des Proletariats“ hartnäckig aus dem Wege zu gehen, kann er sogar schon in seiner auf diesem engen Raum vorzüglichen ereignis- und sozialgeschichtlichen Skizze der Klassenkämpfe in und unter der konzentriert-spektakulären „Kulturrevolution“ (1966-69) unfreiwillig zeigen, dass gerade in den gewaltigen Klassenkämpfen um die Commune (von Peking, von Shanghai, von Kanton) die wirkliche Bewegung, die den bestehenden staatskapitalistischen Zustand aufheben sollte, schon damals in China wieder für kurze Zeit ihr Haupt erhob. „Gewiss“, diesem auf die ideologischen Staatsapparate als Subjekt „sozialistischer“ Transformation fixierten Autor kommt es auf jene turbulenten sozialen Unterströmungen und Durchbrüche nicht an, ihm kommt es schon gar nicht darauf an, die Kardinalfrage der sozialen Emanzipation seit der Commune 1871, nämlich „die Zerschlagung der ganzen modernen Staatsmaschine“ (sic Marx), die auf Abschaffung des Staats schon im ersten Ansatz der Revolution zielende politische Machtform generalisierter Selbstverwaltung überhaupt zu thematisieren; Böke vermeidet es im Gegenteil, die Aufhebung aller staatlich-institutionellen Vermittlungen der modernen Gesellschaftlichkeit als conditio sine qua non und konkretestes Problem des weltweiten Übergangs zu communistischer Produktion und Verteilung zu berühren, aber andere und uns stößt er damit gerade auf dieses große Tabu für den Communismus der Gegenwart.

Das Mandat des proletarischen Himmels ist zuende. (internationale situationniste 1967) Das Mandat der kapitalistischen Hölle ist trotzdem die Zukunft des Sozialismus. (Unbekannter Postmaoist 2007)

Und die Pointe der ganzen Entwicklung, mit der Henning Böke „mit dem besseren Erbteil von Marx und Mao über Marx und Mao hinauszugelangen“ denkt? „Anfang der 1990er Jahre“, so schwärmt er im Kapitel „Der blinde Fleck der Staatstheorie“ (der für ihn der Mangel in der Marxschen Theorie selber ist) „waren es die ehemaligen Maoisten des Zapatistischen Befreiungsheeres in Mexiko, die einen radikalen Paradigmenwechsel herbeiführten, indem sie nicht die ‚Eroberung der Staatsmacht’, sondern den Aufbau einer sich selbst transformierenden Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt stellten. In den gegenwärtig relevanten Projekten in Lateinamerika geht es um die Frage, wie das Verhältnis von staatlichem Handeln, das nach wie vor unverzichtbar ist, und eigenständigen sozialen Bewegungen neu zu definieren ist.“ (S.144) Hat Böke auf diese Weise glücklich Maos Kernsatz, dass alle politische Macht aus Gewehrläufen kommt, „hollowayisiert“ im Sinne einer illusionären „Anti-Macht“(15), muss er nur noch die postmaoistische „zivilgesellschaftlich“ verrechtlichende „Demokratisierung“ der chinesischen Staatsparteistaats-Bourgeoisie reformistisch beschwören: „Auch wenn die Partei Maos Revolution heute vorwiegend als Gründungsakt einer starken chinesischen Nation interpretiert, kann sie doch, wenn sie nicht politischen Selbstmord begehen will, ihr sozialistisches Erbe nicht ganz zu den Akten legen. Es lässt sich noch nicht absehen, in welchem Maße die Demokratisierung eine zivilgesellschaftliche Artikulation der sozialen Frage auch außerhalb des Parteidiskurses ermöglichen wird. Im günstigsten Fall [!!] ergäbe sich die Perspektive eines Demokratiemodells, das nicht bloß die Repräsentation atomisierter individueller Marktsubjekte zum Inhalt hat, sondern eine Dimension von Kollektivität, Solidarität und sozialer Verantwortung beibehält.“ (S.171) Nach diesem sozialdemokratischen Gesäusel und Gewinsel wundert es uns dann auch nicht mehr, dass die Neue Linke, auf die Henning Böke als Korrektiv zu dem herrschenden Gewaltregime setzt, aus einem elendiglichen Sammelsurium von proudhonistischen und kommunitaristischen Wirrköpfen zwischen akademisch-poststrukturalistischem global campus und „liberalen“ oder „antineoliberalen“ Aposteln irgendeines chinesischen Wertewandels besteht: „Alles, was manche Puristen den Hauptströmungen der Globalisierungskritik pauschal vorwerfen, ist in der chinesischen Linken anzutreffen: ‚Reformismus’, ‚Moralismus’ und ‚Nationalismus’.“(HB182) Die neuen Proletarisierungsschübe und Klassenkonflikte – so zeigt aber Böke – im China der Gegenwart setzen die ungelösten Fragen der communistischen Revolution dort erneut auf die Tagesordnung. „Die neue Linke“ – so hofft er mit allen radikalen Regulationsreformisten und NGO-Vernetzern der heutigen Staatenwelt – „begegnet dem mit der Erörterung der Chancen eines eigenständigen demokratischen und sozialistischen Entwicklungswegs, der die Errungenschaften der westlichen Moderne in den Kontext der Traditionen Chinas einbettet, zu denen auch seine Revolutionsgeschichte gehört.“ (HB182) In diesen Kontext möchte Böke nun abschließend den Maoismus als eine Art domestizierten „‚populistischen’ Radikalismus“ (HB196) einordnen. Nun wird klar, warum er in seiner ganzen Darstellung jede prägnantere, realistische Benennung der sozialen Energien im brodelnden Hexenkessel der VR China tunlichst vermeidet und im Lobgesang auf das große „dialektische“ Geschick des maoistischen Ausbalancierens und herrschaftspragmatischen handling aller möglichen Widersprüche auflöst. Was er selber geschildert hat: „dass auf den unter Mao geschaffenen Grundlagen kapitalistische Produktionsverhältnisse entstanden, kann bezweifelt werden. Trotzdem ist China heute nicht irgendein kapitalistisches Land.“ (HB201).

Trotzdem.

Auch im konkreten Aufweis des blinden Flecks wissenschaftlich-communistischer und aktueller praktischer Kritik: der Staatskritik, ist also – nur anders als Henning Böke uns weismachen will - seine kleine Geschichte der Revolution und Konterrevolution in China „über Marx und Mao hinaus“ instruktiv. Die wirkliche Bewegung hat sich noch nie dauerhaft ins Prokrustesbett eines staatslinken Populismus „einbetten“ lassen.

Biene Baumeister Zwi Negator

Anmerkungen

(1) Zitate aus diesem Buch im folgenden gekennzeichnet mit: (HB + Seitenzahl)

(2) Zur Schreibweise: Als „communistisch, Communismus“ (mit c geschrieben) kennzeichnen wir die von Marx materialistisch-historisch definierte „wirkliche Bewegung, welche den bestehenden Zustand auhhebt“ samt ihrer theoretischen, wissenschaftlichen, praktischen, organisatorischen und diffusen wie spontanen Ausdrucksformen ab der Commune (Paris 1871). Mit k geschrieben dagegen nur die traditionellen und überkommenen, besonders die partei- und staatskommunistischen Protagonisten (vor allem KP-Regimes), welche in der Kritik der politischen Ökonomie ab Marx als „roher Kommunismus“, „Bourgeoiskommunismus“, Staatssozialismus sowie utopischer, Gerechtigkeits-, Gefühlssozialismus u.ä. figurieren. Die Übergänge können natürlich nicht immer trennscharf markiert werden und die Akzentsetzungen müssen angesichts mancher konkreten Gestalt strittig bleiben. Weder die bahnbrechenden historischen Analysen der ersten Phase der proletarischen Revolution in China (1920-27) von Victor Serge und Harold Isaacs, noch die quellenmäßig aufschlussreichen first-hand-accounts nichtmaoistischer Parteikommunisten (wie des Komintern-Militärberaters und Teilnehmers vor und während dem „Langen Marsch“, Otto Braun) oder die ernüchternden Kritiken am „konzentrierten Spektakel“ der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“, wie die von René Viénet und Simon Leys, tauchen auf, selbst die theoretisch äußerst ernstzunehmenden „Thesen über die chinesische Revolution“ von Cajo Brendel und die bis heute einzigartige historisch-materialistische Skizze von Charles Reeve „Der Papiertiger. Über die Entwicklung des Kapitalismus in China“ mit dem hervorragenden maoismuskritischen Vorwort von Fritjof Meyer zur deutschen Übersetzung 1975, also am Ende der maoistischen Ära, resümiert in der maoistischen Neuen Verfassung vom Januar jenes Jahres, werden unterschlagen, als hätte es eine materialistisch e, politökonomie-kritische und auch libertär-communistische Maoismus-Analyse, jenseits der manichäischen Welt von Promaoisten und Chinawatchers, nie gegeben; so fehlt auch jeder Hinweis auf die raren deutschsprachigen Klassenanalysen chinesischer Revolutionäre wie die mao-stalinistische von Mao’s Sekretär Chen Boda um 1945 (Klassenanalyse und Partei in China. Frankfurt 1971) einerseits, die dissidente Untersuchung „Zur Politischen Ökonomie der VR China“ von Yu Cheung-Lieh (Der Doppelcharakter des Sozialismus. Teil 1: Die Revolution auf dem Land. Teil 2: Die Revolution in der Stadt. Berlin 1975) andererseits. Für die postmaoistische Ära vermissen wir jeglichen Hinweis auf die Perspektive from the bottom up, wie etwa die Bestandsaufnahme von Charles Reeve und Xi Xuanwu: „Die Hölle auf Erden. Bürokratie, Zwangsarbeit und Business in China“ (erschienen 2001 bei Nautilus) sowie auf die sporadische bis kontinuierliche Berichterstattung über die Kontinuität der Klassenkämpfe in China durch wildcat e.a. (jetzt unbedingt die einzigartige aktuelle Zusammenschau in der wildcat#80-Beilage Dezember 2007 „Unruhen in China“ sich reintun: dieses hervorragende Dossier, mit Zeittafel, Karte und kommentierten Literaturhinweisen, kann vorläufig – abgesehen natürlich von der notorischen Antiglob-Nähe und Theoriefeindlichkeit der wildcats, freundInnen-der-klassenlosen-gesellschaft e.a. – geradezu als das aktuelle Korrektiv zu Bökes Darstellung der chinesischen Linken empfohlen werden) und analoge chinesische Websites aus dem sozialrevolutionären Untergrund. Worauf geht diese offensichtliche Eindimensionalität von Bökes Darstellung zurück?

(3) Immerhin die hervorragenden Untersuchungen von Rainer Hoffmann aus der zweiten Hälfte der 1970er zur „Sozialgeschichte der chinesischen Kulturrevolution“ verwertet er.

(4) MEW 19: 384, 396, 401

(5) siehe schon Marx’ „Leitfaden“, in MEW 13: S.9: „in groben Umrissen“!

(6) MEW 19:242ff,384-406; siehe auch schon MEW 25: 346; sowie die Artikel über China, z.B. in MEW 13: 543f über „die bewunderungswürdige Ökonomie dieses Systems“ und die es auszeichnende „Einheit von Landwirtschaft und handwerklicher Industrie“.

(7) In den Literaturhinweisen klafft denn auch zu diesem Grundproblem der chinesischen Revolution eine gähnende Lücke. Zur asiatischen Produktionsweise als Einführung hinsichtlich China empfehlenswert: Karl Marx: Über China. Berlin 1955; Ulrich Vogel: Zur Theorie der chinesischen Revolution. Die asiatische Produktionsweise und ihre Zersetzung durch den Imperialismus. Frankfurt 1974; sowie: Gerhard Wayand: Marx und Engels zu archaischen Gesellschaften im Lichte der neueren Theorie-Diskussionen. Koblenz 1991; sowie die Arbeiten von Gianni Sofri, Ferenc Tökei und Lawrence Krader zu diesem Komplex.

(8) Beispielhaft für die „marxistisch-leninistische“ Akrobatik solcher Homogenisierung ist sicherlich der Text von Maos Sekretär und Ghostwriter vieler Mao-Werke: Chen Po-Ta, Klassenanalyse und Partei in China (um 1945), Frankfurt 1971.

(9) Umstandslos tut H.Böke z.B. die klassische Mao-Darstellung von Georg Paloczy-Horvath als „antikommunistisch“ ab, welche jedoch sehr sauber gearbeitet ist und welche die von Böke immer wieder selbst als „irrational“ hervorgehobenen Herrschaftszüge des Mao-Systems und vor allem seiner Arbeitsreligion und Produktionsverhältnisse hervorragend belegt, ja gerade auch deren wahnhafte Züge plausibel materialistisch-historisch begründen kann.

(10) Umrissen schon im communistischen „Manifest“ als dem label zufolge „sozialistische“, im Wesen jedoch kapitalistische „Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse, der ökonomischen Verhältnisse (…), administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit nichts ändern, sondern im besten Fall der Bourgeoisie die Kosten ihrer Herrschaft vermindern und ihren Staatshaushalt vereinfachen.“ Kurz: Wert- und Warenproduktion, Ausbeutung durch Lohnarbeit und Kapitalakkumulation, Staat und Weltmarktkonkurrenz, alles das wird nun als „sozialistisch“ attributiert und „im Interesse des Proletariats“ betrieben: „Freier Handel! Im Interesse der arbeitenden Klasse; Schutzzölle im Interesse der arbeitenden Klasse; Zellengefängnisse! Im Interesse der arbeitenden Klasse: das ist das letzte, das einzig ernstgemeinte Wort des Bourgeoissozialismus. Der Sozialismus der Bourgeoisie besteht eben in der Behauptung, dass die Bourgeois Bourgeois sind – im Interesse der arbeitenden Klasse.“ (MEW 4:489) Wie grundlegend H.Böke diesen Klassencharakter des Maoismus in der treffenden Schilderung seiner Ambivalenz verkennt und verkehrt, wird in Sätzen wie diesen deutlich: „Die Maoisten der Kulturrevolution haben bemerkt, dass eine von Eliten gesteuerte Produktivkraftentwicklung nicht von sich aus zu sozialer Emanzipation führt. Die Aktualität dieser Einsicht ist es, die heute die Linke in China auf Mao rekurrieren lässt.“ (HB202) Und eine maoistische Elite, so die logische und historische Konsequenz, „vermittelt“ durch zivilgesellschaftliche Demokratisierung und rechtsstaatliche Institutionalisierung dann endlich die Diktatur der Bourgeoisie mit den Interessen der weiter und reibungsloser ausgebeuteten Lohnarbeiter_innen in Stadt und Land. Dies ist in der Tat nicht der „klassisch-marxistische“ Begriff der sozialen Emanzipation, über den Böke wiederholt so herablassend „antiuniversalistisch“ die Nase rümpft.

(11) MEW 17: 542-546, 335-343

(12) MEW 17:545f

(13) Der von außen politisch und klassenanalytisch äußerst schwer zu durchschauende Tumult der „Linien“-Kämpfe des „kulturrevolutionären“ Bürgerkriegs in China ist gerade durch die sich gegenseitig überbietende Berufung sämtlicher Protagonisten des Spektakels auf „den Vorsitzenden Mao“ und „die Mao Zedong-Ideen“ gekennzeichnet, was auf und seit dem KPCh-Parteitag der maoistischen Kompromiss-Konsolidierung 1969 bis vor dem Beginn der DengXiaoping-Ära gegen 1980 derartig verallgemeinerte rituelle Züge angenommen hatte, dass unterm Strich erst die vorsichtig-kritische Ablösung vom Mao-Kultus in Dokumenten wie „Wohin geht China?“ der „Proletarischen Allianz Hunan“ 1968 zum Indikator des subkutan reifenden, hohen communistischen Klassenbewusstseins im Proletariat Chinas post festum durchschimmert: „Warum hat der Genosse Mao Zedong den Commune-Gedanken zuerst kraftvoll vertreten, sich dann aber plötzlich der Errichtung der ‚Shanghaier Volkskommune’ widersetzt? Das können die revolutionären Massen nicht verstehen. Mao, der doch zunächst gefordert hatte, die neuen politischen Organe der Kulturrevolution müssten einen Commune-Charakter annehmen, hat jetzt eine rasche Wendung vollzogen und gerufen: ‚Wir brauchen die Revolutionskomitees.’“ (zit. in R.Hoffmann 1977: 95f, 187f)

(14)Vgl. hierzu ausführlich Rainer Hoffmanns Untersuchungen sowie die 1974 von René Viénet in der „Bibliothèke Asiatique“ zusammengestellte – und 1977 in seinem Film „Peking Duck Soup“ für die gesamte Mao-Ära audiovisuell zusammengefasste – Anthologie der Rotgardisten&RevolutionäreRebellen-Presse unter dem Titel „Révo. Cul. Dans La Chine Pop.“ (446 Seiten, nicht ins Dt. übersetzt), über die es heißt: „Diese Sammlung von Originalzitaten (…) versehen mit den Kommentaren ihrer Herausgeber, gibt in einer seltenen Anschaulichkeit die spektakuläre Manipulation wieder, die die chinesischen Bürokraten mit den Massen während der Kulturrevolution veranstaltet haben. Sie zeigt aber auch, dass innerhalb der bis zuletzt von oben gesteuerten Roten Garden spontane und autonome Bewegungen entstanden sind, die die gesetzten Grenzen durchbrachen und dann tatsächlich die Bürokratenklasse ins Schwitzen brachten – die Staatssicherheitspolizei und die Armee aber blieben ihre verlässlichsten Stützen: wenn es nicht mehr anders ging, wurden die rabiatesten Roten Garden einfach erschossen. Zitat aus dem Vorwort: ‚(…) Die permanente Konterrevolution hat es geschafft, die Chronik doppelt zu verfälschen (…) indem sie die Episoden des Klassenkampfes überlackierte, die das generalisierte Durcheinander hatte durchsickern lassen …’ „ (Zit. in: Charles Reeve, Der Papiertiger. Über die Entwicklung des Kapitalismus in China. Hamburg 1975, S.194).

(15) Wir denken hier natürlich an die bekannte demagogische Gebetsformel des Antiglob-Ideologen John Holloway: „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen.“ (Vgl. beleghaft als fasslichstes deutschsprachiges Kompendium dieser ganzen Anti-Emp-Ideologie das theorie.org-Bändchen von Martin Birkner und Robert Foltin: (Post-)Operaismus. Eine Einführung. Stuttgart 2006.)

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last modified: 22.1.2008