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kulturreport, 1.7k

Schafft zwei, drei, viele Shylocks!

Über den missglückten Versuch des Leipziger Schauspiels, den Kaufmann von Venedig aus der Schmuddelecke zu holen


Der Theatermythos…

Vom Theater erzählt man für gewöhnlich, es sei eine wahrhaft autonome und innovative Kunstform, eine, die sich wacker hält im Kampf gegen substanzloses Popcornentertainment und den grassierenden Kulturverfall. Das Theater, so will es der zuständige Mythos, ist ein Ort, der das bewahrenswerte alteuropäische Kunsterbe mit der urbanen Avantgarde vermittelt, wo junge Menschen die über Jahrtausende tradierten dramatischen Stoffe „aktualisieren“ und sich die Kulturgeschichte neu aneignen. Gelingt es der bildenden Kunst nicht, einen Rembrandt auf multimediale Performancekunst zu trimmen, so gilt eine Neuinszenierung von Aischylos’ Persern vor dem Hintergrund des Irakkriegs nicht etwa als peinlicher Fauxpas verzweifelter Kulturmanager, sondern als neuster Geniestreich einer Elfriede Jelinek.(1)
Vom Theater glaubt man auch zu wissen – und das unterscheidet es von anderen Sparten der Hochkultur – dass es sich dabei um eine eminent kritische Angelegenheit handelt. Im Theater geht es radikal zu, da wird kein Blatt vor den Mund genommen! Da gibt es rebellische Regisseure und Schauspieler, die von nichts als dem Applaus und der fanatischen Hingabe an die Sache leben, im Theater wird alles auf den Prüfstand gestellt und das nicht nur auf abstrakt-theoretische Weise, sondern meist auch sehr anschaulich: wenn eine Horde Nackter sich gegenseitig mit Exkrementen bewirft, wenn Menschen mit wildem Blick in Tierkadavern wühlen, wenn das dyonisische Wesen des Menschen in aller Schonungslosigkeit offen gelegt wird und die Zuschauer reihenweise den Saal verlassen, dann hat das Theater es wieder einmal geschafft, das verklemmte Werteuniversum der Spießbürger zu erschüttern: Et voilà: ein Skandal!

…in Leipzig?

Wer in Leipzig lebt und hier Gelegenheit hatte, Stücke zu sehen, der wird nicht umhinkommen, diesen Theatermythos, der mit soviel Mühe von allen Beteiligten konserviert und weitergesponnen wird, zu belächeln. Vielleicht wird die geneigte Theatergängerin sich sogar dazu berufen fühlen diesem Mythos lautstark zu widersprechen, wird dieser doch durch die Leipziger Empirie gehörig widerlegt. Zwar wartet auch das Leipziger Schauspiel mit fetzigen Broschüren in Signalfarben auf, man schmückt sich gerne mit dem, was man für einen radical chic hält und lässt sich die Plakate von den Jungen Wilden der HGB entwerfen. Auch scheut man keineswegs die großen Themen! Im Gegenteil, man spürt schon seit längerem, dass wir in „unsicheren Zeiten“ mit vielen „Bedrohungen“ leben und dass ein dumpfes Unbehagen im Angesicht von Globalisierung, Krieg und Terror den Zeitgeist trifft. Deshalb hat man sich das Politische auf die Fahnen geschrieben, das Motto der letzten Spielzeit lautete „Ein jeder gibt den Wert sich selbst“, das aktuelle „Sind sie sicher? Fragen der inneren Sicherheit.“ Mit diesen Leitsprüchen will man allen deutlich machen, dass man mitgeschnitten hat, dass die fetten Jahre nun vorbei sind und man jetzt inzwischen auch schon alles kritisch sieht und so. Die Position, die man bei der Bearbeitung gesellschaftlicher Themen einnimmt, ist leider in den meisten Fällen die einer rein moralischen Kritik, die auf die Befindlichkeiten der grünrosa Stammklientel abzielt. Da die in diesen Kreisen beliebten Ideologeme sattsam bekannt sind, müssen sie an dieser Stelle nicht nochmals aufgearbeitet werden. Auch in Fragen der Form genügt das Leipziger Schauspiel keineswegs dem penetrant zelebrierten Avantgardehabitus. Blutspermaexzesse, radikale Formexperimente oder ein Infragestellen der Kunstform Theater selbst sucht man zumeist ebenso vergeblich, wie einen postdramatischen Theateransatz, bei dem Theatermacher/innen schon lange darauf verzichten, kunstvoll gebaute und kohärente Geschichten mit psychologisch nachvollziehbaren Figuren zu erzählen. Sie interpretieren ein Drama nicht nur, sondern sie versuchen auch in der Erzählstruktur auf die Unübersichtlichkeiten der globalen Welt zu antworten, indem sie die performativen Elemente betonen oder die Darsteller/innen als Diskursträger auftreten lassen. Was mensch auch immer von solchen Konzepten prinzipiell halten mag, in Leipzig herrscht nach wie vor ein recht traditionelles Theaterverständnis vor, idealtypisch verkörpert und maßgeblich bewirkt durch das künstlerische Schaffen des Intendanten Wolfgang Engel. Dieser führt das Haus seit zwölf Jahren, in denen er vor allem Klassikerstücke von den großen Namen der Theaterwelt – Schiller, Lessing, Aristophanes etc. – inszeniert hat. Sein Stil kann als solider Konventionalismus bezeichnet werden.(2) Engel versucht vor allem die Texte zum Sprechen zu bringen, es wird kaum gekürzt, das Bühnenbild ist Kulisse und der Zuschauer darf sich zum Beispiel auf dreieinhalb Stunden Schillerschen Pathos gefasst machen, der von den Schauspielern mit dem entsprechenden Gestus verbildlicht und mit einem Sprechduktus vorgetragen wird, der signalisiert, dass man sich hier nicht „im Leben“, sondern im Schloss des Don Carlos, zumindest aber in den geweihten Hallen des Theaters befindet. Seine Inszenierungen sind sicher nicht weltbewegend, doch hebt er sich insgesamt immerhin qualitativ wohltuend ab von anderen Versuchen des Schauspielhaus, das „große Haus“ voll zubekommen.(3) Das Stück „Der Hauptmann von Köpenick“ (Regie: Tilman Gersch) etwa kommt als derb-naturalistischer Klamauk daher, als volkstümlicher Schwank mit vielen bodenständigen Lachern, bevorzugt über die hemmungslose Prasserei Leipziger Kommunalpolitiker (Stichwort: Citytunnel) oder tuntige Schneider, die mit rosa Seidenhemden, mit goldenen Seidenschals und betont affektiert-femininer Sprechweise, Bewegung etc. dargestellt wurden. Über diese „Schwuchteln“ konnten inzwischen schon mehrere Tausende Leipziger befreit lachen. Haha.(4)
Derlei sollte uns glücklicherweise bei unserem Besuch einer Vorstellung des „Kaufmann von Venedig“ von Wilhelm Shakespeare erspart bleiben. Das Stück ist die wohl letzte Inszenierung Engels im „großen Haus“, denn die nächste Saison 08/09 wird mit Sebastian Hartmann einen neuen Intendanten bringen, von dem viele hoffen, dass er den sprichwörtlichen frischen Wind in die Theaterlandschaft Leipzigs bringen wird. Nachdem wir nun unsere Erfahrungen mit dem Leipziger Schauspielhaus und die daraus resultierenden Erwartungen an einen Abend in diesem Etablissement geschildert haben, möchten wir uns nun dem Stück selbst zuwenden.

Cash rules everything around them. Die antisemitische Antwort auf die universale Kapitalisierung.

Shakespeare hat den „Kaufmann von Venedig“ im ausgehenden 16. Jahrhundert in London verfasst, mit dem Untertitel „Über die extreme Grausamkeit Shylocks, des Juden“ wurde es im Jahre 1600 uraufgeführt. Den Stoff für das Stück entlehnte Shakespeare verschiedenen Novellen und Fabelsammlungen, deren Elemente er geschickt zu einem neuen Stück verwob.
Die Handlung des Stücks spielt in Venedig und im Landgut der Portia, in Belmont. Venedig war zu dem Zeitpunkt der Handlung bereits eine prosperierende Handelsrepublik und das wichtigste Handelszentrum ganz Italiens. Die Macht Venedigs zu Wasser und auch zu Lande war für damalige Verhältnisse sehr ausgedehnt, die Flotte berüchtigt, das politische System und die ökonomische Struktur extrem fortschrittlich. Die alten feudalen Lebensformen, Traditionen und Rollen verloren bereits ihre Wirkmacht, an ihre Stelle waren ein selbstbewusstes, kultiviertes Bürgertum, eine rationale Verwaltung, ein von Pragmatismus geleiteter Politikstil und neue Formen der Vergesellschaftung getreten.(5)
Eine Erosion des alten Sozialgefüges zog einerseits eine hohe soziale Mobilität, andererseits den Wegfall alter Sicherheiten sowie die neue Bedeutung des Handels und damit des Geldes nach sich. Juden hatten im 16. Jahrhundert in Venedig einen schweren Stand: sie waren gesellschaftlich stark isoliert, wurden rechtlich diskriminiert, lebten gezwungenermaßen im Ghetto und waren nach wie vor von den meisten Berufszweigen ausgeschlossen und in den Geldverleih abgedrängt, der Christen aufgrund des Zinsverbotes untersagt war. Diese gesellschaftliche Funktion war es, die die Juden in den Augen der Christen als Repräsentanten des Geldes und damit der sich durchsetzenden neuen politökonomischen Konstellation erscheinen ließ. Neben weiteren biblisch-religiösen antijüdischen Stereotypen, war diese Identifikation der Juden mit dem verhassten, zusehends allmächtig scheinenden Geld der Grund für eine Dämonisierung der Juden als raffgierige „Wucherer“.(6) Der „Kaufmann von Venedig“ spielt nun genau in diesen zusehends relevanten sozialen Schichten. Einer der beiden Protagonisten, Antonio, ist der Kaufmann, nach dem das Stück benannt wurde. Er ist müde und traurig, ein schwermütiger Melancholiker, der bereits prototypisch für den später massenhaft auftretenden Überdruss und einen sorgsam gepflegten Weltschmerz einsteht. Um sich schart er eine Gruppe ausgelassener, heiterer junger Männer, die ihn unterhalten und die er mehr oder weniger finanziell aushält. Diese Clique lebt wild und ausgelassen, verschwenderisch verprasst sie Antonios Geld, besonders Bassanio, einer der Männer steht bei Antonio immer höher in der Schuld. Er ist Antonios Liebling, die Beziehung der beiden ist latent homoerotisch(7). Auch wenn die sexuelle Komponente im Text nie explizit gemacht wird, ist Antonio dem Bassanio emotional sehr verbunden. Um sich aus seinem Schulden-Schlamassel zu befreien, borgt Bassanio ein letztes Mal eine große Summe Geld von seinem Geliebten/Freund, die ihm helfen soll die reiche Portia zu freien. Diese bringt ihre Tage auf ihrem Landsitz mit dem Abfertigen von anderen Freiern zu, auf Bassanio hat sie jedoch bereits ein Auge geworfen. Da Antonios Kapital in seinen waghalsigen Geschäften steckt, die von seiner Handelsflotte auf den sieben Weltmeeren getätigt werden, sind die beiden auf einen Kredit des grausamen jüdischen Wucherers Shylock angewiesen. Antonio bürgt hier für Bassanio. Dies geht allerdings nicht problemlos vonstatten, denn Antonio hatte den Juden zuvor bespuckt, getreten und geschlagen, ihn in der Öffentlichkeit beleidigt, verleumdet und so seine Geschäfte durchkreuzt. Zudem lässt Shakespeare Shylock den Antonio deshalb hassen, weil dieser durch sein freigiebiges Verschenken und zinsfreies Leihen von Geld Shylocks Wuchergeschäfte zerstört, den Zins in Venedig drückt. Warum also sollte Shylock Antonio etwas leihen wollen? Um dem hasserfüllten Christen zu beweisen, dass er kein Wucherer sei, schlägt Shylock schließlich einen perfiden Vertrag vor: Sollte Antonio das Geld nicht fristgerecht binnen drei Monaten zurückzahlen, wäre es ihm, Shylock, gestattet, ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper zu schneiden. Dies schlägt er jedoch zuerst im Scherz vor, „zum Spaß“(18)(8) lässt er den „lust'gen Schein“(19) ausstellen, will er doch von den anderen die versagte Anerkennung unter Beibehaltung seines Glaubens und seiner kulturellen Gewohnheiten(9), will anders sein können, ohne Angst zu haben, was erst wahre Gleichheit bedeuteten würde. Der vorgeschlagene Handel dient vor allem der Entlarvung der Christen, die auf ihn bedenkenlos eingehen und damit die Härte ihrer eigenen Gedanken verraten.
Die dramatische Wende in dem Stück tritt ein, als Freunde von Antonio die heißgeliebte Tochter Shylocks, Jessica, mit deren Hilfe entführen und sie zu Bassanio nach Belmont bringen, wo er sich inzwischen erfolgreich Zugang verschafft hat zum Herz der reichen Portia und damit auch zu ihren Reichtümern. Für Antonio folgt Unglück auf Unglück, er verliert Schiff um Schiff und fällt damit dem krankhaft rachsüchtigen Shylock in die Hände, der nun alles daran setzt Antonio im wahrsten Sinne des Wortes ans Messer zu liefern. Es folgt als Showdown eine Gerichtsversammlung. In ihr gelingt es der antijüdischen Christenbande geschickt das Recht für sich zu nutzen ohne die formalen Regeln des Rechts selbst zu verletzen. Shylock wird vor Gericht nicht nur um sein verbrieftes Recht auf das Pfund Menschenfleisch geprellt, sondern zudem aufs widerlichste erniedrigt. Man beschlagnahmt sein Vermögen und verteilt es unter sich, droht ihm mit dem Tode und zwingt ihn zur Konversion. Hierbei ist es bemerkenswert, dass Shylock durchaus nicht einfach im Pogrom getötet wird, obwohl diese Möglichkeit im Stück immer präsent ist. Shakespeare erkennt vielmehr mit bewundernswertem Gespür für die heraufziehende Gesellschaftsordnung, welche Bedeutung ein zuverlässiges Rechtssystem, das die abstrakte Gleichheit der Warenbesitzer als Rechtssubjekte achtet, in einer Gesellschaft zukommt, die zunehmend als unendliche Kette von Rechtsverhältnissen erscheint.(10) So laufen die Bitten der christlichen Bande an den Richter, er solle das Recht beugen ins Leere. (11) Die permanente unterschwellige Pogromstimmung im Stück zeigt aber auch, das Shakespeare diese Variante einer „Konfliktlösung“ keineswegs ausschließt. Am Ende wird Shylock mit seinen eigenen Prinzipien geschlagen, in den Worten des Richters:„denn weil du dringst auf Recht, so sei gewiss, Recht soll dir werden, mehr als du begehrst.“ (72) Nach dieser kollektiven Enteignung und Demütigung verschwindet der Jude Shylock sang- und klanglos aus dem Stück. Im letzten Akt vergnügen sich die verschiedenen christlichen Liebespaare, die sich im Laufe des Stücks gefunden haben(12) auf dem Landsitz Belmont. Man genießt das süße Mondlicht und das Spiel der Musikanten, trägt seine ersten Beziehungsprobleme aus und führt Treuetests durch. Mit diesem paradiesischen „dolce fa niente“ endet Shakespeares „Komödie“. Als solche verlegt man den Text bei Reclam. Das Leben kann so schön sein, nachdem man kollektiv den störenden Juden sozial, ökonomisch, politisch und psychisch vernichtet hat. Das Pogrom, ein Lustspiel.

Wer soll das lustig finden?

Aufgrund der mehrdeutigen Zeichnung der Charaktere des Stücks und dem seltsamen Nebeneinander einer karnevalesken Ausgelassenheit einerseits und dem von Hass und Gewalt gekennzeichneten Verhalten gegenüber Shylock aber auch aufgrund sich wandelnder historischer Umstände wurde Shakespeares Stück über die Jahrhunderte hinweg äußerst unterschiedlich interpretiert und inszeniert. Zunächst sah man in ihm bis ins 18. Jahrhundert hinein eine Komödie, wozu die zahlreichen komödiantischen Elemente, wie etwa ein Maskenfest, verschiedene Verkleidungs- und Verwechslungsspiele, Witze und Slapstickartige Szenen Anlass gaben. In diesen Stücken wurde Shylock nicht als ernstzunehmende Person mit menschlichen Charakterzügen dargestellt, sondern entweder als groteske Lachnummer verballhornt oder als teuflischer Bösewicht dämonisiert, was wahlweise Grusel oder Belustigung ermöglichte. Erst seit dem 19. Jahrhundert wurde die Tragik der Figur Shylock zunehmend erkannt, man inszenierte das Stück nun eher als Tragödie um die Demütigung und Diskriminierung des Juden Shylock, dies natürlich auch vor der Hintergrund der steigenden gesellschaftlichen Bedeutung des Antisemitismus.
Dabei stand natürlich stets auch die Frage zur Disposition, ob es sich bei Shakespeares Stück um ein Beispiel für Antisemitismus oder um eine Darstellung und eventuell sogar eine Kritik des Antisemitismus handelt. Unserer Einschätzung zufolge, ist es leider nicht möglich, Shakespeare vom Vorwurf des Antisemitismus zu entlasten, auch wenn dies oftmals und mit unterschiedlichen Argumenten getan wurde und wird. Zumeist wird dabei Shylocks berühmten Monolog vor Gericht zitiert, der in der Tat als ein grandioses Beispiel für einen frühbürgerlichen universalistischen Humanismus gelesen werden kann.(13) Auch andere Argumente werden hierfür vorgebracht(14). Es muss aber festgehalten werden, dass die Figur des Shylock mit klassisch antisemitischen Stereotypen ausgestattet ist. So ist Shylock im Text eben tatsächlich geldgeil und geizig, er ist ein Wucherer, der nur um sein Geld besorgt ist, im Gegensatz zu Antonio, der freigiebig und großzügig ist. Ebenso wie Jahve ist auch er rachsüchtig, grausam und unnachgiebig, er kennt kein christliches Mitgefühl, keine Barmherzigkeit und keine Gnade, die die Christen immer wieder von ihm verlangen. Sein Gott ist ein Gott des Gesetzes und der Abstraktion, kein menschlich-sinnlicher der Liebe und der Verzeihung. Dies spiegelt sich in seinem kühlen, herzlosen und berechnenden Charakter wieder. Besonders krass treten diese Eigenschaften in der Situation zutage, in der Shylock von der Entführung seiner Tochter erfährt: Hier wird deutlich, was seine Prioritäten sind, wenn er in extremer Gefühllosigkeit sagt „Ich wollte, meine Tochter läge tot zu meinen Füßen und hätte die Juwelen in den Ohren.“(44).

Shylock, der Jud Süß der Bühne

Natürlich waren auch moderne Antisemiten bei solch eindeutigen Vorlagen begeistert von Shakespeares Werk. Nach dem 30.01.1933 wurde die deutsche Theaterlandschaft radikal „arisiert“, ideologisiert und den kulturpolitischen Weisungen des Goebbelsschen Reichspropagandaministeriums untergeordnet, eine Umstrukturierung, die nach zwei Jahren NS bereits ohne größere Widerstände vollzogen war.(15) Das Theater war besonders in den ersten Jahren das wichtigste künstlerische Propagandainstrument im NS und das „Theater boomte, zahlreiche neue Theater entstanden und die Zahl der in diesem Bereich Beschäftigten stieg zwischen 1932/33 und 1937/38 um fast die Hälfte.“(16)
Doch umschifften die deutschen Intendanzen zunächst weitgehend den „Kaufmann von Venedig“ dies jedoch selbstredend nicht unbedingt aus Rücksichtnahme auf die jüdische Bevölkerung. Was den Regisseuren vielmehr zunehmend Kopfzerbrechen bereitete war, wie sich die angedeutete Ambivalenz in der Zeichnung der Charaktere glätten ließe, ohne an die Substanz des Stücks zu gehen. Was macht man beispielsweise mit der oben (Fußnote 13) zitierten Rede oder der Liaison zwischen der Konvertitin Jessica und dem Christen Lorenzo, die in Anbetracht der „Nürnberger Rassengesetze“ den Tatbestand der „Rassenschande“ erfüllten? Nichtsdestotrotz kam es auch zu mehreren extrem antisemitischen Propagandavarianten des Stücks, von denen es insbesondere die Inszenierung an der Wiener Burg 1943 zu trauriger internationaler Berühmtheit brachte. Dieses Machwerk kann in seiner Wahnhaftigkeit und barbarischen Widerwärtigkeit einzig mit den Filmen Jud Süß oder Der ewige Jude verglichen werden.(17) Shylock dient hier zur Illustration des „ostjüdischen Rassetyps mit der ganzen äußeren und inneren Unsauberkeit des Menschen bei Hervorhebung des Gefährlichen im Humorigen“ wie ein begeisterter Rezensent es damals ausdrückte.(18)
Nachdem all dies längst bekannt ist und der antisemitische Charakter des „Kaufmanns von Venedig“ nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden kann, stell sich die Frage, mit welcher Berechtigung dieses Stück mit dieser verhängnisvollen Rezeptionsgeschichte überhaupt aufgeführt werden kann. Ist es wirklich möglich, diesen Text zu spielen, ohne auf die antisemitischen Klischees des Textes zurückzugreifen? Kann man in einem deutschen Theater zeigen, wie ein grausamer Jude aus der christlichen Gemeinschaft ausgestoßen wird, weil er für seine maßlosen Blutdurst und seine Rachsucht am Ende büßen muss? Was ist die Grenze des Sagbaren? Sollte solch ein Stück nicht für alle Zeiten im Giftschrank verschwinden?

Leipzig oder: Die Neue Kritische Unbefangenheit.

Offensichtlich ist, dass dieses Stück von jedem Regisseur eine erkennbare inhaltliche Positionierung verlangt, welche die Rezeptionsgeschichte mit einschließt. Es wird sich zeigen, ob dies bei der Leipziger Inszenierung der Fall ist.
Die Inszenierung beginnt mit einem Chor, der Masken trägt, sich hinter einem Gazevorhang befindet, und begleitet von verschiedenen Schlaginstrumenten in einen rhythmischen und bedrohlichen Hetzgesang gegen die jüdische Bevölkerung einstimmt. Dem Zuschauer wird vorgeführt, mit welcher Brutalität und Aggressivität die Majorität ihre Macht demonstriert. Das Licht ist im hinteren Bühnenbereich dunkel gehalten und bekommt durch kalte Farben eine kühle Atmosphäre verliehen. Zur Verstärkung einer gefahrvollen Stimmung, deren Form und Auswirkungen noch nicht offen zu sehen sind, wird von einigen Gassen leichter Nebel geblasen. Dadurch entzieht sich die Raumkonzeption einer eindeutigen Interpretation und wirkt unabgeschlossen und indifferent, ebenso wie die Figuren hinter den Masken noch nicht zu erkennen sind. Eine weitere Distanz entsteht, indem die Schauspieler in dieser Szene englisch sprechen und sich somit nicht in der Sprache des Publikums ausdrücken.
Diese Darstellung, die durchaus bedrohlich erscheint, findet demzufolge noch in einem abgetrennten Bereich und somit nicht offen zum Publikum statt. Dies fördert die Erwartungshaltung beim Zuschauer, dass es dem Regisseur um eine Darstellung der ausschließenden Masse geht, die ihre Maske fallen lassen wird.
Der Bereich der Vorderbühne steht in einem deutlichen Gegensatz zum Hintergrund, denn das aus Rot- und Brauntönen bestehende Parkettpodest ist hell ausgeleuchtet. Alle Szenen werden auf diesem engen und klar abgegrenzten Raum gespielt. Das rutschige Parkettpodest wird in der Inszenierung jedoch immer weiter angeschrägt, was die ständige soziale Unsicherheit der Darsteller illustriert. Hier scheint nichts verborgen zu bleiben, und sich keinem Standpunkt entziehen zu können. Außerdem resultiert aus der Reduzierung der bespielbaren Fläche, dass der Fokus stark auf den Schauspieler/innen und der Sprache liegt.

Na, dann eben in Gänsefüßchen…

In erster Linie wird der Text in einem gewohnten Duktus gesprochen, der an Stellen, an denen Shakespeares Vorlage zu fremd erscheint aber auch spielerisch aufgebrochen wird. Genau dies scheint die Lösung für die ausgesprochen Ressentiments und Anfeindungen gegenüber Shylock zu sein. Hier wird vor allem mitgespielt, dass die Schauspieler/innen einen Text zitieren, allerdings auf einer unzureichenden darstellerischen Ebene, da sich niemand anders zu helfen wusste, als einfach alle Klischees mit- und auszuspielen. Es wird versucht, die jiddische Sprache zu imitieren oder Stereotypen pantomimisch darzustellen. Die Aussagefähigkeit wird abgeschwächt und jede Äußerung zu einem weiteren Klischee, dass zwar durch eine übertriebene Darstellung gebrochen werden soll, aber besonders an diesen Stellen Engels Unfähigkeit zur Positionierung zum Text offenbart.
Rhythmisch ist die Aufführung stark von den Musikeinspielungen geprägt, die zwischen jeder Szene zu hören sind. Im Verlauf der musikalischen Untermalung rennen die Schauspieler vom hinteren Bühnenteil vor auf die Szene. Es gibt demnach zwei Bühnenauftritte: Der Erste in die dunkle Welt der venezianischen Gassen und der Zweite in die konkrete Spielsituation. Diese beginnt mit zwei jungen Männern, die in weißen, sommerlichen Anzügen um Antonios Gunst werben. Schnell wird eine Männerclique etabliert, die versucht sich durch sexuelle Anspielungen zu profilieren, dabei ist der Grad zur Verachtung und Gewalt äußerst schmal. Im Stück werden zahlreiche Szenen plakativ sexualisiert, die im Text weit weniger eindeutig als sexuell aufgeladene erscheinen. Dies hat zur Folge, dass die Schauspieler/innen an manchen Stellen zu sehr auf das Amüsement der Zuschauer spielen. Aber es wird deutlich, wie schnell ein Genießen von Körperlichkeit in eine Lust an Grausamkeit umschlagen kann, wie sich in sexuellen Übergriffen gegenüber Shylocks Tochter offenbart. In vielen dieser Szenen tragen die Schauspieler/innen venezianische Masken, schließlich spielt das Stück im Zeitraum des Karnevals, der es der Bevölkerung ermöglichte Verhaltensweisen, die gesellschaftlich tabuisiert sind, öffentlich zur Schau zustellen. Der Karneval ist, schreibt Rudolf Münz im Programmheft, „eine ‚magische Zeit außerhalb der Zeit‘, eine Zeit des Paradoxen, in der Gegensätze sich vereinen, in der Norm, Gesetz, Tabu nicht gelten.“ (Programmheft S.21) Es ist eine Zeit von „überwältigenden Gefühlen und überschäumender Lebensfreude“, aber auch von „(heiliger) Gewalt und (rituellem) Opfer, wobei lange Zeit die heikle Frage antisemitischer Züge eine besondere Rolle spielte.“ ( ebd.) Die Masken verbergen die Identität der Menschen besonders bei der Ausübung versteckter Sexualität und Gewalt. Die Szenen zwischen den männlichen Figuren bekommen mit Hilfe dieser Kontextualisierung einen verschwörerischen Charakter, in denen kaum noch gesellschaftliche Regeln gelten. Die christliche Gesellschaft wird als eine scheinheilige und brutale gekennzeichnet, die sich nicht nur untereinander bekämpft, sondern auch gegen alles vorgeht, was ihnen missfällt. Das gipfelt in dem verbalen als auch körperlichen Angriff auf Shylock. Von zahlreichen Beschimpfungen abgesehen, ist dies die einzige Szene in der Shylock tatsächlich in Gefahr gerät. Und auch der berühmte Monolog(19) nimmt im Vergleich zur Präsenz des Problems einer nicht ausgelebten Homosexualität wenig Raum ein.
An dieser Milieubeschreibung hat der Regisseur Engel zahlreiche Ansätze gefunden und sie durchaus kritischer gezeichnet als im Stücktext. Zur Figur des Shylocks, scheint ihm allerdings wenig eingefallen zu sein, dieser wird eng an der Vorlage inszeniert.(20) Zwar ist deutlich zu erkennen, dass der Geschäftsmann den Wunsch hat dazuzugehören, aber darüber hinaus wird die Figur um keine psychologische Ebene erweitert, für sein Verhalten werden kaum Gründe erfahrbar, sondern er wird als der uneinsichtige Jude dargestellt, der auf sein grausames Recht pocht, und auf kein Angebot eingeht, das ihm die christliche Gemeinschaft unterbreitet. Dies wird deutlich vor allem in der Gestaltung der Verhandlungsszene. An dieser Stelle des Dramas und abschließend im Verlauf der zentralen Gerichtsszene hat jeder von ihnen mit Hilfe von Eheschließungen oder finanziellem Gewinn eine angesehne gesellschaftliche Stellung gefunden und kann sich vom früheren lasziven Lebensstil distanzieren. Sie tauschen ihre weißen Anzüge in schwarze ein und gewinnen so an Seriosität. Der Übertritt von einer ausschweifenden Existenz als Lebemänner in die Welt einer gesetzten Bürgerlichkeit wird so auch äußerliche gekennzeichnet.
Der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliminierung Shylocks folgt nach einer Zwischenszene, in der Antonio scheinbar in die neue Gesellschaft in Belmont integriert ist, die Schlussszene. Sie steht im Gegensatz zur vorher suggerierten Harmonie: Antonio steht allein auf der Bühne, hält den Kopf gesenkt und blickt auf den Schuldschein, der ihm durch die Raffinesse des Richters das Leben gerettet und ein großen Reichtum zugesprochen hat, es erfolgt der „Black“ und die Aufführung ist zu Ende.
Insgesamt ist die Inszenierung dramaturgisch kohärent gestaltet und Engel ist ein technisch solider Theaterabend gelungen. Allerdings ergriff uns eine gewisse Ratlosigkeit, besonders mit dem Wissen um die Anfangsszene, erschien dies nicht der folgerichtige Abschluss des Abends zu sein. Anscheinend sollten die Zuschauer mit der Isolation und der Niederlage Antonios entlassen werden, was bei uns jedoch zahlreiche Fragen zur Interpretation des Stückes auslöste. Zur Einordnung sollte uns das Programmheft weitere Informationen vermitteln. Schließlich werden dort in aller Regel Stellungnahmen zur Auswahl des Stückes, Informationen über die Inszenierungsidee und eine gesellschaftspolitische Einordnung gegeben.

Das Programmheft oder: wie zu sehen sei.

Schlägt die Leserin das Programmheft auf, ist im Klappentext folgendes Zitat von Adorno und Horkheimer zu lesen: „Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut“. Hiermit richtet sich der Fokus der inhaltlichen Auseinandersetzung und die Vermittlung der Inszenierungsidee augenscheinlich auf die Frage, die die Chefdramaturgin Heike Müller-Merten in ihrem Einleitungstext stellt: „Wer wird als Nächstes zum ‚Juden‘ von Belmont erklärt?“ (Programmheft S.4).
Dies scheint die zentrale Fragestellung zu sein, die sich das Regieteam gestellt hat und die sich mittels der Einrichtung des Abschlussbildes auch deutlich auf der Inszenierungsebene als zentrale Aussage herauskristallisiert. War es zu Beginn des Stücks noch die Figur des Shylock, der von einem gewalttätigen Mob verfolgt wurde, ist es nun Antonio, der von der Gesellschaft ausgegrenzt wird und, wie sogar betont wird, im Gegensatz zu Shylock keine Familie hat (ebd.). In der gesamten Inszenierung steht vor allem das Schicksal von Antonio im Vordergrund, was auch schon durch die Plakate deutlich wird, mit denen das Schauspielhaus wirbt. Abgebildet ist ein nackter Oberkörper, dem ein Stück Fleisch entrissen worden ist und den Akzent so augenscheinlich auf Shylocks Forderung setzt.
Für Müller-Merten, die Chefdramaturgin, scheint es vollkommen irrelevant zu sein, die einzelnen Ausschlussmechanismen zu untersuchen und das Spezifische des Antisemitismus aufzuzeigen. So führt sie in ihrem Text weiter aus:
„Shylock und Antonio sind Stigmatisierte, Gebrandmarkte; wie auch Jessica, Tubal und der Juden-Diener Lanzelot. Auf unterschiedliche Weise gehen sie mit ihrem Stigmata um. Antonio lebt seine Neigungen nicht aus (…) Dem Juden ist der verschwenderische Hedonismus der Christen ein Gräuel. Ihm prägen seine Tätigkeiten – Wucher zum Selbsterhalt, der zum Selbstzweck wird – und die jahrhundertlange Erfahrung des Außenseiters. So wird er, wenn er sein Liebstes verliert, Opfer seiner Leidenschaften, die da auch sind Geldgier, Hass, Neid und Rachsucht.“(ebd.) Nahtlos fügt sie die beiden Protagonisten aneinander und definiert die Figur des Shylock allein über seine Tätigkeiten. Außerdem interpretiert sie die Figur lediglich auf der Basis des Stückes ohne jegliche kritische Distanz zu Shakespeares Text, die deutlich machen würde, wie der Autor antisemitische Ressentiments verarbeitet. Der Artikel erklärt gleichermaßen wie die Inszenierung nur, dass eine Gesellschaft bestimmt, wer dazugehört, und wer als Fremder ausgeschlossen wird. Die Gründe dafür gehen aber in der verkürzten Analyse vollkommen unter. Alles was die Texte bieten, ist eine scheinbar psychoanalytische Betrachtung der Gesellschaft. Diese führt Müller-Merten weiter fort, indem sie benennt, dass sich Shakespeare in vielen seiner Stücke mit dem „Fremden“ beschäftigt. Außerdem würdigt die Dramaturgin es als „sensationell“, dass Shakespeare unter den gesellschaftspolitischen Umständen des elisabethanischen Englands der Figur des Shylocks eine Verteidigungsrede geschrieben habe.
Scheinbar ist die einzige Interpretation, die sie für die antisemitische Zeichnung der Figur hat das „das Exotische, Objekt des Begehrens wie der radikalen Ausgrenzung, von jeher eine nachhaltige Faszination auf die Menschen ausübt.“ (S.7). Diese Mechanismen wendet sie ein weiteres Mal vollkommen unspezifisch auf den zu jener Zeit existierenden Antisemitismus an, wenn sie schreibt: „Shakespeare hätte auch ein Stück über Werwölfe schreiben können, aber der „Jude“ war in mehrfacher Hinsicht zum Sündenbock prädestiniert.“(ebd.)
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus gibt es an keiner Stelle. Gänzlich unverständlich bleibt die Anregung der Dramaturgin zur Auseinandersetzung mit dem Stück, „den Juden wiederkehren zu lassen“(S.5).
Die Willkürlichkeit setzt sich weiter fort. Des Weiteren ist ein Gemälde von John Gilbert aus dem 19. Jahrhundert, auf dem die Vertreibung Shylocks nach dem Gerichtsprozess gezeigt wird und ein Aufführungsfoto von 1924 abgedruckt, das Shylock in einer sturen und ablehnenden Pose zeigt. Mit diesem historischen Bild versucht die Dramaturgin, eine historische Klammer um die Rezeptions- und Aufführungsgeschichte des Stückes zu ziehen, die aber keinerlei konkrete historischen Informationen vermittelt, sondern nur der Illustration dient. Ein ebenso unreflektiertes Versatzstück ist der Abdruck von jüdischen Witzen(21), die auf Grund fehlender Zitatangabe in keinen Bezugrahmen gestellt werden und so zu Judenwitzen verkommen. Sie sind ebenso wie scheinbar beliebig ausgewählte Max Frisch-Zitate bloße Lückenfüller und können aufgrund mangelnder Begründung oder Kommentierung auf beliebige Art und Weise interpretiert werden.(22) Entlässt die Inszenierung einen noch mit ambivalenten Eindrücken, kann man dies nach der Lektüre des Programmhefts nicht mehr behaupten.
Es ist also festzustellen, dass sich in den Beiträgen und im Aufbau des Programmheftes viele strukturelle Elemente der Inszenierung wiederfinden lassen, und zum anderen, dass der Eindruck, den die Aufführung hinterlässt, verdeutlicht wird. Das Regieteam hat keinerlei Interesse sich mit der Rezeptionsgeschichte kritisch auseinanderzusetzen und schafft es nicht, eine zwingende Begründung für die Auswahl dieses Stückes zu formulieren. Zur Thematisierung des Inszenierungskonzepts, wie eine Gesellschaft aus verschiedenen Motivationen heraus ihr angeblich „Fremdes“ gewaltsam ausschließt, wären zahlreiche andere Stücke denkbar gewesen und den „Kaufmann von Venedig“ hätte es dafür nicht gebraucht.

Wir sind alle Opfer!

Wir haben gesehen, dass es sich bei Shakespeares Shylock um einen mit allen klassisch antisemitischen Attributen versehenen idealtypischen Juden handelt, der alles in allem mehr ein Exemplar seiner Religionsgemeinschaft als eine mit individuellen Charaktereigenschaften ausgestatte Persönlichkeit ist. Die Inszenierung hinterfragt diese Darstellung nicht, sondern zeigt eine raffgierige, uneinsichtige und unbarmherzige Figur, an der sich eigentlich nichts wirklich Sympathisches finden lässt. Um textnah an dieser Figur festhalten zu müssen, ohne allzu einseitig ein antisemitisches Propagandastück zu zeigen, muss sie die christliche Gemeinschaft als bigotte, moralisch verrohte Rotte zeigen, die von Gier, Gewalt und Schadenfreude durchdrungen ist und somit zu ihrem „christlichen Wesen“ im Widerspruch steht.(23) Um nicht von der Spezifik des Antisemitismus sprechen zu müssen, entdeckt sie überall die Opfer eines allgemeinen Prinzips von Inklusion und Exklusion, das gegen seinen spezifischen Inhalt gleichgültig ist und die krisenfreie Konstitution und Reproduktion von Gesellschaft ermöglicht. Dieses Prinzip ermöglicht in seinem formalistischen Universalismus das Verschwimmen des Unterschieds von antisemitischen Tätern und ihren jüdischen Opfern, da es (potentiell) alle Individuen gleichermaßen zu einer Schnittmenge aus verschiedenen diskriminierenden gesellschaftlichen Praktiken erklärt. Um den Juden so zeigen zu können, wie Shakespeare ihn schildert muss der Text radikal uminterpretiert werden, so dass am Ende der Antisemit und Täter Antonio genauso wie Shylock zum Opfer werden kann. Diese Interpretation des Stücks wird durch die oben angeführten Textbeispiele aus dem Programmheft, die homoerotische Sexualisierung der christlichen Männerfreundschaften und eine geschickte Umänderung von Regieanweisungen zusätzlich forciert. Diese absichtsvolle Auflösung des Gegensatzes von Opfern und Tätern ist durch nichts zu verzeihen. Mit dem Wissen um die Aufführungsgeschichte, den antisemitischen Charakter des Texts und die grausamen Konsequenzen des Antisemitismus kann dieses Stück nach der Shoah nur noch aufgeführt werden, wenn es den Problemkomplex Antisemitismus in den Mittelpunkt stellt und keinen falschen Respekt für den Text aufbringt. In der Engelschen Inszenierung geschieht jedoch das Gegenteil. Hier werden neue Opfer erfunden, um den Antisemitismus an zentraler Stelle nicht thematisieren zu müssen.

Shylock der Wucherer und die entgrenzte Intifada

Wer trotz der Relativierung des tragischen Schicksals des Shylock und seiner antisemitischen Darstellung als herzloses Monster zur Empathie mit dem Opfer des antisemitischen Mobs fähig blieb, etwa wegen einer Sensibilisierung für das Thema Antisemitismus, durch die abstoßende Darstellung der barbarischen und verlogenen christlichen Bande oder einfach durch Mitgefühl mit dem Bedrohten und Beleidigten, der wird nach einem erneuten Blick ins Programmheft feststellen, dass eine vorbehaltslose Empathie mit dem Opfer so nicht intendiert war, ganz im Gegenteil.
Hier wird nämlich, ohne dass dazu irgendwelche Erläuterungen vonnöten wären, der Bezug zu Israel hergestellt. Die Frage, in welchem historischen und logischen Verhältnis die weitgehend leidvolle Geschichte des Judentums, die lange Tradition des Antisemitismus und die Existenz des Staates Israel stehen, wird aber nicht kritisch diskutiert.
Dafür wird hier ein „Antisemitismuskatechismus“ abgedruckt, in welchem Moshe Zimmermann versucht zwei Fragen zu beantworten, die den Deutschen angeblich auf dem Herzen liegen: „Wird Deutschland tatsächlich von einer Flut von Antisemitismus überschwemmt? Dürfen wir uns über Israel nicht kritisch äußern, weil uns dann automatisch Antisemitismus vorgeworfen wird?“ (S.31)
Hier lernt die geneigte Leserin dann, was es mit dem Antisemitismus auf sich hat und in welchem Verhältnis zu Israel er steht: „Was erklärt diese gegenwärtige Welle des Antisemitismus? Die aktuelle Situation im Nahen Osten. Die Reaktion (sic!) auf Israels Verhalten während der Intifada verwandelt die ursprüngliche anti-israelische Haltung von Muslimen und Arabern in Antisemitismus.“ (ebd.). Die Juden provozieren heute den Antisemitismus! Wäre es da nicht nahe liegend dazu analog zu vervollkommnen: „Die Reaktion auf das Verhalten des engherzigen Geldjuden Shylock verwandelt die religiös motivierten Vorurteile der Bürger Venedigs zu einem aggressiven antisemitischen Drang zum Pogrom.“? Man erfährt, wem der Antisemitismus tatsächlich dient: den Juden natürlich: „Kurz: Der gegenwärtige Antisemitismus dient just jener israelischen Politik, die ehrliche Israel-Kritiker verurteilen.“ (S.33)
Das Ausloten des Sagbaren, des offensichtlich hauchdünnen Grads zwischen ehrlicher Kritik und Antisemitismus gipfelt in der Frage: „Ist der Aufschrei “Wolf, Wolf, Antisemitismus!“ unter den Juden nicht oft übertrieben?“, worauf salopp geantwortet wird: „Auschwitz macht viele Juden zu Paranoikern.“ (S.33) In diesem Zusammenhang dient der bereits aufgeführte Witz zur Veranschaulichung einer vollkommen abstrusen Wahrnehmung, die den Antisemitismus zu einen Verfolgungswahn der jüdischen Menschen umlügt.
Die Stoßrichtung der angeführten Zitate, in denen Juden in klassisch antisemitischer Manier vorgehalten wird, sie selbst seien für den gegen sie schlagenden Wahn verantwortlich, oder sie beuteten den Antisemitismus perfiderweise für ihre ökonomischen (Stichwort: „Holocaustindustrie“) oder politischen Zwecke aus, verschärft sich in einem Text des bekannten Soziologen und Politikwissenschaftlers Ulrich Beck nochmals zu einer Hetze sondergleichen. Dieser soll hier aufgrund seiner schockierenden Schamlosigkeit und ideologischen Verbohrtheit zum Abschluss länger zitiert werden. Beck beklagt sich in seinem Text über die „ritualisierten Abläufe“ eines „staatlichen Anti-Antisemitismus“, denn: „den Juden ist schreckliches Unrecht widerfahren, aber die Deutschen haben dafür anständig geblecht.“.(24) Doch damit nicht genug. Wohlwollend sieht sich Beck seine Mitbürger an und stellt fest: „Auch schwillt das Bedürfnis an, nach mehr als einem halben Jahrhundert der schamvollen, schuldbefleckten Erinnerung sich der Fesseln zu entledigen. Insofern werden wir die Kritik an den USA und an Israel als Befreiung erfahren – nicht nur von der Vasallenrolle gegenüber den vereinigten Staaten, auch von der Negatividentität des Holocaust. Die US-Regierung und die israelische Regierung werden im Namen der Prinzipien angeklagt, auf denen die Bundesrepublik nach 1945 aufgebaut wurde.(…) Auf diesem hohen moralischen Ross sitzend, fragen sich viele Europäer: Warum können die Israelis und die Palästinenser nicht endlich ‚Vernunft‘ annehmen? Mehr noch, viele insbesondere kosmopolitisch gesinnte Europäer begegnen dem israelischen Ethno-Nationalismus mit Unverständnis, ja, Abscheu. Das was in Israel als progressiv gilt(…) erscheint dem europäischen Selbstverständnis als die Wiederbelebung der als überwunden geglaubten Vergangenheit (‚ethnische Säuberung“) (sic!!!). Die Bürger- und Menschenrechte, das internationale Recht, die Vereinten Nationen, der Sicherheitsrat verkörpern für das europäische Nachkriegsgewissen die Garanten für ‚nie wieder Faschismus‘, ‚nie wieder Auschwitz‘. Trotz der Globalisierung der Emotionen – oder sogar wegen ihr – leben Israelis und Europäer moralisch und politisch in verschiedenen Welten. Und dies bricht in der Belastungsprobe durch die entgrenzte Intifada dort hervor, wo die Europäer im existenziellen Entweder-Oder zwischen Israelis und Palästinensern Partei ergreifen müssen.“

Wenn das Schauspiel Leipzig diesen Text schon nicht selbst verfasst hat, so hat es sich doch zumindest gezielt und bewusst für einen Abdruck im Programmheft entschieden. Hier zeigt sich, was den Machern des Stücks dann doch noch einfällt, wenn sie an das heutige Judentum denken: Widerwärtige Lügen, krude Verkehrungen und eine offene Parteinahme für diejenigen, die heute die Vernichtung der Juden herbeisehnen und ins Werk zu setzen versuchen. Dass dies unter Berufung auf die neusten deutschen geschichts- und erinnerungspolitischen Entwicklungen von einem „hohen moralischen Ross“ geschieht, ist nicht nur unglaublich abgeschmackt, sondern zeigt auch, dass das Leipziger Theater nicht in jeder Hinsicht seiner Zeit hoffnungslos hinterher ist. Vielmehr vermag es auf diese Art die ersehnte Avantgarderolle in einem modernisierten deutschen Antisemitismus, der als moralisch gewendeter Antizionismus daherkommt und seine Berechtigung gerade wegen der Shoah reklamiert, einzunehmen.

Johannes Knauss und Pecha Kucha

Anmerkungen

(1) Das Stück trägt den programmatischen Namen „Bambiland“.

(2) Engel im Interview: „Meine Art des Erzählens ist vielleicht im Moment die konservativste.“; „Ich fühle mich nach wie vor einem Literaturtheater verpflichtet und stelle fest, wie rigoros heute häufig über die Texte hinweggegangen wird.“ (TheaterKulturVision. Arbeitsbuch Theater der Zeit 1998, S.55f.)

(3) Nur seine peinliche Event-Odyssee zum Leipziger Völkerschlachtdenkmal, bei der man Schauspieler in historischen Kostümen (!) zu Gesicht bekam, ganz authentisch in einer „Feldküche“ sein Geld lassen konnte und zum Abschluss den wohl ersten gerappten Wallenstein als open air bestaunen konnte will nicht so recht zur künstlerischen Integrität seiner sonstigen Arbeiten passen…

(4) Es soll nicht unterschlagen werden, dass durchaus auch gute Stücke zu sehen sind/waren, aus den letzten Jahren lassen sich zum Beispiel „Quartett“, und „Zement“ (beide Heiner Müller), die „Ratten“ (Gerhart Hauptmann) oder das „Sportstück“ (Elfriede Jelinek) nennen. Die Qualität ist auf den kleinen Bühnen deutlich höher, was wohl auch Zugeständnissen an das konservative Leipziger Publikum geschuldet ist.

(5) Der Niedergang Venedigs im Sinne eines politischen und militärischen Bedeutungsverlusts setzte allerdings bereits wenig später ein, da sich der Welthandel nun durch die „Entdeckung“ Amerikas und die zunehmende Kolonisierung weiter Teile der Welt vom Mittelmeer v.a. auf den Atlantik verlagerte.

(6) Wie es sich für einen großen Künstler gehört, reflektiert Shakespeare in seinem Stück natürlich auch auf die gesellschaftlichen Umbrüche seiner Zeit. Die Frage nach dem moralischen Status der Zinsnahme wurde jedoch bekanntlich historisch-praktisch durch die aufziehende Kapitalisierung und den erhöhten Kapitalbedarf gelöst. Diese setzten der mindestens seit Aristoteles existenten Ablehnung der Zinsnahme als pervers zwar keineswegs ein Ende, ließ sie aber doch immer weniger als realpolitische gangbare Option erscheinen.

(7) Zumindest wird sie bisweilen, auch in der Leipziger Inszenierung so gedeutet. Manche Shakespearekenner, so zum Beispiel Frank Günther bezweifeln die Adäquatheit dieser Deutung jedoch. Shakespeare habe hier das elisabethanische Ideal einer platonischen Männerfreundschaft dargestellt, deren Wert damals teilweise höher als der der heterosexuellen Liebesbeziehung geschätzt wurde.

(8) Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig, Stuttgart 1964. Wir zitieren Shakespeare nach der klassischen Schlegel Übersetzung. Diese 200 Jahre alte Übersetzung war lange Zeit die Standardübertragung. Sie ist literarisch anspruchsvoll aber doch recht schwülstig und verstaubt. Inzwischen gibt es zahlreiche andere Übersetzungen, die eher den Ton der Zeit treffen.

(9) Vgl. z.B.: „Ich will mit Euch handeln und wandeln, mit Euch stehen und gehen, und was dergleichen mehr ist; aber ich will nicht mit Euch essen, mit Euch trinken, noch mit Euch beten.“(15) oder „Ich wollt‘ euch Liebes tun, Freund mit Euch sein, die Schmach vergessen, die Ihr mir getan, Das Nöt‘ge schaffen und keinen Heller Zins für meine Gelder nehmen; und Ihr hört nicht. Mein Antrag ist doch liebreich.“ (18)

(10) Zur Auseinandersetzung zwischen einem nach abstrakten Prinzipien verfassten und einem auf herrschaftlicher Willkür bestehenden Rechtsystem heißt es im Stück z.B.: „Der Doge kann des Rechtes Lauf nicht hemmen. Denn die Bequemlichkeit, die Fremde finden hier in Venedig, wenn man sie versagt, setzt die Gerechtigkeit des Staates herab, weil der Gewinn und Handel dieser Stadt beruht auf allen Völkern.“ (56)

(11) Aufforderung zur Beugung des Rechts und Ausschlagung dieser Bitte folgen Schritt auf Tritt: „ Ich bitt Euch, beugt einmal das Gesetz nach eurem Ansehen: Tut kleines Unrecht um ein großes Recht, und wehrt dem argen Teufel seinen Willen. “ „ Es darf nicht sein: kein Ansehen in Venedig vermag ein gültiges Gesetz zu ändern. Es würde als ein Vorgang angeführt, und manche Wirrung nach demselben Beispiel griff ’ um sich in dem Staat: es kann nicht sein.“(69)

(12) Hier spielte übrigens ebenfalls immer Geld eine entscheidende Motivation für den Eingang der Beziehungen. Von wegen christlich-selbstloser Liebe… Diese Deutung des Monologs als Zeugnis des Humanismus ist aber nur in den Augen des heutigen Lesers unmittelbar einsichtig. Der Verweis auf die Leidenschaften etwa ist im damaligen elisabethanischen Werteverständnis eindeutig negativ aufgefasst worden. Mangelnde Kontrolle der eigenen „passions“ war verpönt.

(13) „Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt, gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?(…)“ (43f.)

(14) So zum Beispiel der Einwand im Programmheft (Seite 10), dass Shakespeare immerhin weniger antisemitisch war als seine Zeitgenossen, oder theaterhistorische Begründungen, die die Zeichnung des Juden auf eine bestimmte zur Zeit Shakespeares gängige ästhetische Praxis der Personifizierung des Bösen in dem Charakter des „Vice“ zur Geltung bringen, deren Opfer nur zufällig der Jude Shylock gewesen sei etc. pp.

(15) Vgl. zur (freiwilligen) Gleichschaltung des Theaterwesens die Dissertation von Jörg Monschau: Der Jude nach der Shoah: zur Rezeption des Kaufmann von Venedig auf dem Theater der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1945-1989 (S.6ff.): http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=967940036

(16) Ebd. S.12

(17) Vgl. dazu ebd. S.67ff. Die ideologische Relevanz ebenso wie die Nähe der Inszenierung zum Machwerk Jud Süß wird deutlich durch die Tatsache, dass sowohl der Rabbi in Jud Süß als auch der Wiener Shylock von Werner Krauß gespielt wurden, einem Star des deutschen Propagandafilms.

(18) Ebd. S. 81

(19) Vgl. Fußnote 13

(20) Siehe auch oben.

(21) Ein Beispiel aus dem Programmheft: „Ein Jude kommt aus dem Radioverwaltung heraus. ‚Was hast du dort getan?‘, fragte ein Bekannter. ‚Mi-mi-mich um dd- die Stelle eine A-a-ansagers beworben.‘ ‚Und? Hast du die Stelle bekommen?‘ ‚Nein! D-das sind alles A-a-antisemiten!‘“

(22) Überhaupt, die Judenwitze scheinen es dem Regieteam angetan zu haben. Bei einer Matinee im Schauspielhaus vor der Premiere des Stücks setzten sich Dramaturgin, Regisseur und Schauspielerinnen maskiert auf eine Bühne und erzählten dem Publikum Judenwitze. Doch: „nicht alle Klischees und Witzen kamen gut an, nicht weil sie vielleicht als deplatziert betrachtet wurden, sondern weil der Funke nicht herübersprang“. Was dann wohl passiert wäre??? Quelle: www.lizzy-online.de

(23) Zu dieser Interpretation der Christen vgl. auch kritisch den Aufsatz „Liebe Freundschaft, Fremdenhass oder wie man einen Juden verteufelt “ von Frank Günther in Wilhelm Shakespeare: der Kaufmann von Venedig, Zweisprachige Ausgabe, München 1995 vor allem S. 219ff.

(24) diese und das folgende Zitat sind alle dem Programmheft S.26f. entnommen.

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last modified: 23.10.2007