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Mao und die „Schüttel den Kopf-Droge“

Zumutungen(1) der chinesischen Gesellschaft

      Klein, Klein der Erdball,
      gibt ein paar Fliegen, stoßen an Wände an.
      Summen, Summen:
      einige laut erbittert, einige lauthin klagend.
      Ameisen auf der Akazie, dem Stolz des Großreichs,
      Ameisen schütteln den Baum – gesagt wie leicht.
      Jetzt, bei Westwind, fallen die Blätter hinab wie
      Chang-an, im Flug surren Pfeile.

      Wie viel Aufgaben, von Anfang an drängend;
      Himmel- und Erddrehung, die Zeit nötigt.
      Zehntausend Jahre – allzu lange,
      wetteifern früh bis spät.
      Vier Meere aufgebäumt, Wolken und Wasser zornig,
      fünf Erdteile bebend, Wind und Donner entfacht.

      Müsste sie auskehren, allesamt, die üblen Insekten:
      Nirgends sonst Feind.


      Mao Tse-Tung
Abgesehen von ein paar C. Dickens Werken und Dictionarys lässt sich englischsprachige Literatur in China nur recht schwer auftreiben. Unter den westlichen China-Reisenden hat sich daher eine rege Tauschkultur bereits gelesener Bücher entwickelt, die von zahlreichen Kneipen und Jugendherbergen professionell verwaltet wird. Auf einer dieser Tauschbörsen fiel mir ein deutsches Buch mit dem viel versprechenden Titel „Widerspruch in China. Politisch-Philosophische Erläuterungen zu Mao Tse-Tung“ in die Hände. Dort müht sich der linksradikale Professor Hans Heinz Holz redlich ab, der „westlichen Anti-China-Propaganda“ Einhalt zu gebieten und mit aller Autorität von Hegel und Marx den verkannten Dialektiker Mao vorzustellen und mit ihm „den chinesischen Weg zum Reich der Freiheit“, d.h. die große proletarische Kulturrevolution. Zu dem oben zitierten Gedicht Maos, dieser „sehr traditionellen Fanfare der Kulturrevolution“ darf man von Holz folgende Deutung lesen: „Ist auch die Welt in Aufruhr, sie wird die Revolution nicht aufhalten. Deren einzige Feinde sind bei ihr selbst, nämlich die, die sich die großen Ziele nicht zu setzten wagen, die an die Grenzen ihres beschränkten Untertanenverstandes stoßen: die Fliegen und Ameisen, üble Insekten also, die man auskehren muss.“ Schön hat er das geschrieben, der Solidaritäts-Dialektiker Holz, wenn man bedenkt, dass schon zu Erscheinen seines Buches (1970) jeder Chinese, der den Begriff „Dialektik“ hätte erklären können, von den roten Garden(2) entweder ermordet worden war oder zu schwerer körperlicher Arbeit aufs Land deportiert wurde, um dort sein Bewusstsein dem des chinesischen revolutionären Subjekts, des verarmten Landarbeiters, anzugleichen. Wenn man mehr als drei Jahrzehnte später, sprich heute, für vier Monate durch China reist, möchte man Autoren wie Holz immer noch gerne eigenhändig erwürgen. Doch der Reihe nach.


Zunächst macht der chinesische Alltag in den Großstädten einen weitaus weniger repressiven Eindruck als erwartet. Die Polizei lässt sich kaum blicken und scheint bei den Einheimischen auch wenig Autorität zu genießen. Wenn mir gegenüber Kritik am Staat geübt wurde, geschah dies stets für jeden gut hörbar an öffentlichen Plätzen oder in Zügen, ohne dass sich die Sprecher dabei irgendwie bedroht fühlten. In den Buchhandlungen ist die übliche kritische Philosophie in breiter Auswahl auf chinesisch zu haben und in den unzähligen Internetcafes lassen sich trotz Zensurbemühungen der Regierung alle gesuchten Informationen, grade auch in chinesischer Sprache, relativ mühelos beschaffen. Sicher, sämtliche chinesische Medien sind staatliche Propagandamaschinen, denen allerdings auch niemand Glauben zu schenken scheint und wenn auf Weltkarten Taiwan als eigenständiges Land nicht auftauchen darf und deswegen per Kuli übermalt wird, erscheinen die Zensurbemühungen nur mehr grotesk.

Urlaub?

Als „westlicher“ Reisender fühlt man seine Freiheit erstmal durch etwas ganz anderes eingeschränkt, nämlich durch das völlige Fehlen von Ruhe, Privatsphäre und Rückzugsräumen für diese. Der ständigen Beschallung ist in den Großstädten nicht zu entkommen, im Verkehr gewinnt nur die lauteste Hupe, zwischenmenschlich der lauteste Schreier und wer etwas verkaufen will, muss schon mindestens zwei Billig-Boxen vor seinem Geschäft postieren, um diese bis zur völligen Übersteuerung aufzudrehen. Man könnte nun meinen, dass der ständige Lärm und die menschenmassenbedingte Einschränkung persönlichen Freiraums die meisten Einheimischen, ähnlich wie mich, ständig zu dem Gefühl reizen würde, „wahllos in die Menge schießen“ zu wollen, doch weit gefehlt. Dem „Stadtchinesen“ scheint das Alltagsleben mittels aggressiver Reizüberflutung sämtliche Sinne derart stumpf geprügelt zu haben, dass er in seiner spärlichen Freizeit (zwei Wochen Urlaub jährlich) dies im ganz großen Spektakel noch überbieten muss, damit er sich entspannt, unterhalten, berührt fühlt. Zu den Attraktionen des beliebten Urlaubsortes Quingdao an der Westküste Chinas gehört etwa der Lao-Shan-Nationalpark, der allerdings nicht einfach aufgrund seiner mächtigen Berglandschaften, unberührter Natur und überwältigender Aussicht genossen werden kann. Nein, diese Kulisse muss bis in die letzten Spitzen hinein mit Wagner-Märschen (!) beschallt werden, die nur von ebenso lauten und übersteuerten Touristen-Durchsagen unterbrochen werden. Ganz am anderen Ende Chinas, in der westlichen Xinjiang Provinz, grenzt der Kanas-Lake an die Mongolei an und auch in dieser an die Alpen erinnernden Umgebung muss die Ruhe mittels unausstehlichem Billig-Techno zurückgedrängt und abgewehrt werden. Bevölkert sind die Urlaubsziele von Touri-Gruppen, die auf 100 Meter als solche zu erkennen sind. Jedes Mitglied trägt eine Schirmmütze in der gleichen Signalfarbe und trottet brav hinter einem Anführer her, der eine Fahne mit Logo vor sich schwingt und die zu bestaunenden Attraktionen per umgehängten Megaphon (!) an seine Schäfchen durchschreit. Diese Idee von Urlaubserlebnis, die nicht kuriose Ausnahme, sondern die absolute Regel darstellt, degradiert die Teilnehmenden noch unter das infantile Niveau von Grundschul-Klassenausflügen (alle in eine Reihe und an die Hände nehmen), während jede andere Form von Erfahrung als uneffizient und bedrohlich erlebt wird. Bloß nicht von der Gruppe abweichen.

Jugend

Eigentlich sollte ich in diesem Text etwas über die chinesische Jugendkultur schreiben und bemühe mich bislang etwas diffus, durch die Beschreibung der Zustände, in denen sich jene bewegt, Gründe für ihr Elend zu finden. Die Hoffnung, dass inmitten von Repression und allgemeiner Stumpfheit eine angepisste Jugend zumindest zur kulturellen Revolte blässt, hat sich mir leider nicht erfüllt. Die Produktionsbedingungen sind denkbar schlecht, nachdem die Kulturrevolution erfolgreich sämtliche Spuren eigenständigen Denkens ausradiert hat und überall die nackte Instrumentalität waltet. Der Alltag in den Städten ist auf reine Nützlichkeit ausgerichtet was sich, etwa in Form der Architektur, dem eigenen Erleben schmerzhaft einbrennt. Dort, wo sich die Menschen zwecks Arbeitsplätzen zusammenballen (und in Konjunkturüberhitzern wie Shanghai herrscht quasi Vollbeschäftigung) wird rund um die Uhr alles vollgebaut, wobei Ästhetik keine Rolle spielen darf. Zu vermissen scheint sie niemand, da weder eigene Wohnungen noch Shops oder Restaurants irgendwie nach sinnlichen Kriterien geschmückt oder verschönert werden. Selbst wenn dies gewünscht wäre, stößt man hier auf ein unüberwindbares Hindernis: Die allgemeine Unfähigkeit zur Kreativität. Daher ist China vor allem in einem Weltmarktführer: Im Kopieren.

Was auf den ersten Blick angenehm erscheint, sich alle Waren als preisgünstigere Kopien kaufen zu können, entspringt tatsächlich einem Zwang, da man selber keine „Originale“ mehr hervorbringen kann. Das „Vermögen, sich einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“ scheint nicht ausreichend vorhanden. Ein Beispiel: Auf der Reise habe ich viele Engländer und Amerikaner kennen gelernt, die in China leben und ihren Unterhalt als Englischlehrer verdienen. Egal in welchem Teil Chinas und unabhängig vom Alter der Schüler beklagten sie stets deren Unfähigkeit zu selbstständigem, kreativen Denken. Eine Klasse mit über 20jährigen Studenten scheiterte an der Aufgabe, zu einer vorgegebenen Schlagzeile eine Fantasiegeschichte auszudenken. Stattdessen wurden Boulevard-Stories, die man schon mal gelesen hatte, wiedergekäut. Eine Lehrerin, die ihren jungen Schülern die Aufgabe stellte, ein Monster zu zeichnen, wurde zunächst mit Fragen überhäuft, wie dieses Monster denn nun genau auszusehen hätte, und nachdem sich schließlich ein Schüler mit einer Zeichnung vorgewagt hatte, wurde diese vom Rest der Klasse möglichst originalgetreu abgemalt. Die auf Grund der strengen Ein-Kind-Politik oftmals verwöhnten Einzelkinder, in China „kleine Kaiser“ genannt, werden mit dem Schuleintritt einem sich steigernden Auswendig-Lern-Marathon unterworfen, in dem eigene Meinung nicht gefragt ist. Die Angst vor Abweichung steigert sich mit der Erkenntnis, welchen Massen an Konkurrenz(3) man gegenübersteht, und Konformität verkauft sich in China besser als Differenz.

Erfolgreich im jugendkulturellen Geschäft verkaufen sich vor allem schmierige Honig-Pop-Balladen, die auf den Musiksendern mit ebenso kitschigen Videos vermarktet werden. Selbst diese Musik muss oft aus Taiwan, Hong-Kong und Süd-Korea importiert werden, da das bevölkerungsreichste Land der Welt nicht in der Lage ist, solch infantilen Schund in ausreichenden Mengen selbst zu produzieren. Im Allgemeinen ist der gesamte Kulturmarkt lächerlich klein und die bittere Erkenntnis, das es zur erfolgreichen Reproduktion keine große Kulturindustrie braucht, ja dass man mit Arbeit – Schlafen – Essen(4) auch ganz zufrieden funktionieren kann, wird einem in China ständig aufs Brot geschmiert. Auf Seiten des „Undergrounds“ sieht es nicht viel besser aus. Neben Peking, der Kulturhauptstadt des Landes, lassen sich die Städte, die so etwas wie eine Jugendsubkultur hervorgebracht haben, an einer Hand abzählen. Und auch den reichen Schichten, aus denen sich die Protagonisten auf den von mir besuchten Punk/HC-Shows zum großen Teil zusammensetzten, fehlt die Kraft zur Originalität. Die Bands bringen teils recht gute Kopien des jeweiligen Stils, musikalisch und vom Auftreten bis hin zu den Tattoos, gehen dabei aber völlig in der jeweiligen Genere-Identität auf, ohne eine eigene Note beizufügen. Man trifft sich in teuren Läden und besonders gesellschaftskritisch geht es dabei nicht her. Die Konzerte laufen unter dem auf T-Shirts und Spruchbändern ausgegebenen Logo: „Beijing Punk Union – Enjoy our high life!“. Zur Etablierung von Szenen fehlt es zudem an kontinuierlichen Treffpunkten, da eben ständig willkürlich gebaut wird und sowohl Privatmietern wie auch Kneipen häufig Zettel ins Haus flattern, die sie darüber informieren, dass ihr Haus in wenigen Wochen abgerissen wird und sie zu verschwinden hätten. Ein Einspruch dagegen ist nicht möglich.

Um zum Schluss noch der Überschrift zu ihrem Recht zu verhelfen sei auf die wachsende Beliebtheit von Ecstasy, vor allem in den wohlhabenderen Städten an der Ostküste, hingewiesen. Ecstasy trägt dort allerdings den Namen „Schüttel den Kopf-Droge“ und hat sich ganz ohne die zugehörige Techno-Club-Kultur auf den Weg ins Reich der Mitte gemacht. Die chinesischen Konsumenten sind felsenfest davon überzeugt, dass Ecstasy seine Wirkung nur entfalten kann, wenn man nach Einnahme der Pillen seinen Kopf von rechts nach links bewegt und umso heftiger man diesen schüttelt, desto besser wirke die Droge. Wer mit diesem Unfug angefangen hat lässt sich nun sicher nicht mehr feststellen, aber die unhinterfragte Übernahme noch des größten Blödsinns hat inzwischen dafür gesorgt, dass in Großraumdiskos in Shanghai und Peking das öffentliche Kopfschütteln verboten ist, da es auf illegalen Drogenkonsum hinweist.

Max

Weitere Reiseberichte zu China und anderen Ländern auf www.beatpunk.org

Anmerkungen

(1)
Die tatsächlichen Schrecken der chinesischen Gesellschaft, die diese ja vor allem ihren eigenen Mitgliedern zuteil werden lässt, können hier nicht dargestellt werden. Die Barbarei Maos und der Kommunistischen Partei dürfte weitestgehend bekannt sein. Als Reisender sieht man im Land selbst wenig bis gar nichts davon, wohl aber sind die Auswirkungen dessen zu spüren. Der folgende Reisebericht beschränkt sich dabei vor allem auf die reichen Städte entlang der Ostküste, aber auch auf ärmere Regionen im Westen.

(2) Um innerparteiliche Konkurrenz auszuschalten und sich wieder als absolute Führungsperson zu etablieren gab Mao Mitte der 60er bekannt, „eine Handvoll Machthaber des kapitalistisches Weges“ sabotiere den Weg zum Kommunismus und sei für die anhaltenden sozialen Gegensätze und die Armut innerhalb des Landes verantwortlich. Dies setzte den Startschuss zu einer 10jährigen Hexenjagd, die jede „feudale und traditionelle Kultur, Gebräuche, Gewohnheiten und Gedankengut“ auslöschen sollte. Die autonom gebildeten und agierenden Roten Graden bestanden vor allem aus Schülern und Studenten, die zunächst ihre eigenen Autoritätspersonen, wie Lehrer, Professoren und Eltern angriffen, wobei bald Jeder willkürlich zum „inneren Feind“ erklärt werden konnte, um öffentlich durch die Straßen getrieben, misshandelt oder ermordet zu werden.

(3) Das Konkurrenzprinzip wird in China kaum noch durch irgendein soziales Regelwerk, wie etwa den vor allem in Japan und Korea weiterhin wirksamen Konfuzianismus, abgeschwächt. Im alltäglichen Leben und Umgang miteinander regiert der möglichst starke Ellenbogen -– Alte, Schwache und Ausländer dürfen nicht auf entgegenkommendes Handeln hoffen. Diese Lektion lernt man als Reisender recht schnell, wenn man sich etwa förmlich schlagen muss, um in die volle U-Bahn einzusteigen oder ein Zugticket in entlegene Regionen zu kaufen.

(4) Wobei die Esskultur tatsächlich das ist, was in China positiv auffällt. Nicht nur, dass Essen als soziales Event zelebriert wird, bei dem alle aus dem reichhaltigen Angebot des vollgestellten Tisches ihre Teller beladen. Auch die meisten Wanderarbeiter können es sich leisten, gemeinsam in die unzähligen Restaurants einzukehren.

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last modified: 28.3.2007