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review corner Film, 1.4k

„Der freie Wille“...

...ist eine zu bezweifelnde Instanz, wenn man trotz Empörung und Langeweile mehrere Stunden im Kinosessel verweilt, um den horrenden Eintrittspreis aufgrund von Überlänge vor der eigenen Brieftasche rechtfertigen zu können.


171 Minuten! Ja genau, ganze 171 Minuten deutschen Filmguts. Die Länge an sich wäre ja kein Problem, würde es sich hier um den neuen Miike handeln, dessen Filme trotz ihrer Länge nie langweilen. Wenn man aber geschlagene 171 Minuten inmitten einer Vorhölle aus stümperhafter Kameraführung und nichtssagender pseudodokumentarischer Handlung verbringen muss, die zudem noch mit dem Preis der Gilde deutscher Filmkunsttheater „gewürdigt“ wurde, dann beginnt man am eigenen Verstand zu zweifeln. Als persönliche und nur im Einzelfall gültige Ausrede kann aber gelten, mit dem Auftrag, diesen Film zu rezensieren, losgeschickt worden zu sein. Danke, liebe Redaktion.
Schon zu Beginn schwant einem Übles, wenn mittels Handkamera versucht wird, eine Art „Gemälde“ zu erstellen, mit Fluchtlinien und allem, was dazu gehört. Deutschen Filmen ist es ganz besonders eigen, den aufgezeichneten Schund mittels ästhetisch „wertvollem“ Bildaufbau zu verdecken. Wenigstens dies versucht der Film nur zu Beginn und Ende, tappst aber sonst von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen, um sich genüßlich in jedem zu suhlen.

Einlass, 16.3k

Wer einen freien Willen hat,
muss sich keine schlechten Filme ansehen,
sondern kann ins Conne Island kommen.

Da wäre also Theo (Jürgen Vogel, der sich auf einer Theaterbühne wähnt und völlig überdreht spielt), der als Küchenhilfe arbeitet und die typische Blaupause eines Ostseeer Dorfassis ist (Bomberjacke, Trainingshose, keine Frisur, Wartburg). In kürzester Zeit wird klar, dass man es hier mit einem aggressiven und gefährlichen jungen Mann zu tun hat. Nachdem dies geklärt wurde, kann es auch schon losgehen mit der skandalösen Sequenz, welche diesem Film eine Beachtung sicherte, die er in keinem Fall verdient hat. Theo, der „Fotzen“ schnaubend in seinem Wartburg die Straße entlang brettert, wird auf eine junge Fahrradfahrerin aufmerksam und überholt diese um ihr eine Falle zu stellen. Er zerrt sie vom Rad und schleppt sie in die Dünen. Nun folgt eine ca. zehnminütige Vergewaltigungsszene, welche nichts der Fantasie überlässt. Blut, Brüste, Schamhaare und der Schwanz von Jürgen Vogel werden in kalten Farben in Szene(n) gesetzt und erreichen das, wozu sie gedreht wurden. Sie ekeln an, aber nicht in der Art, wie es bei anderen Filmen, welche das Motiv der Vergewaltigung aufgreifen, geschieht, in denen der eigentliche Vorgang der Fantasie des Zuschauers überlassen bleibt und dort nicht selten als lustvoll erlebt wird. Nein, das hier ist abstoßend und man rutscht unweigerlich im Kinosessel zusammen. Man muss sich zwingen hinzusehen, aber nicht etwa, um diesen Zwang zu überwinden, wie es bei Splatterfilmen der Fall ist, der Abscheu bleibt hier allgegenwärtig. Nun ist es aber so, dass einer authentischen Vergewaltigungsszene auch etwas folgen muss, das sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen will, oder es bleibt einfach nur der schale Geschmack der medialen Inszenierung eines Skandals wie schon bei „Irréversible“ und es muss zwangsläufig wirken wie der schlechte Versuch der Enttabuisierung eines oft verdrängten Themas. Dem audiovisuellen Schock, dem der Zuschauer ausgesetzt wird, folgt aber nun das dämlichste Motiv überhaupt: die Befriedigung des Dranges nach Vergeltung. Unmittelbar nach dieser Tat wird der Täter geschnappt und bekommt von seinen Häschern ordentlich was vor die Fresse. Hier kündigt sich eine Tendenz an, die auch in weiteren Szenen noch zu „bestaunen“ sein wird: die Verwischung der Grenze zwischen Täter und Opfer. Das Diktum „Niemand ist unschuldig“ ist einer der roten Fäden in diesem ätzend großen Knäuel Nonsens.
Theo kommt also in Therapie, wird entlassen und zieht in eine WG mit anderen Ex-Sträflingen. Theo fällt es sichtlich schwer, seine Triebe unter Kontrolle zu bringen, da die üble ständige Reizüberflutung aus lasziven Werbeplakaten und aufreizend angezogenen jungen Frauen ständig auf den armen Theo einstürzt. Dies ist nebenbei bemerkt noch eines der Grundmotive: es wirkt oft so, als fordere ihn seine Umwelt, oder besser die Kulturindustrie geradezu heraus und wäre er 200 Jahre eher geboren, er hätte mit Sicherheit nicht den Drang verspürt, Frauen zu vergewaltigen. Theo muss also sublimieren, seine Triebe irgendwie umleiten, wie Hartz 4-Empfänger den Sprit aus anderen Tanks in ihren. Also stählt er seinen Körper, macht Kampfsport und ist ordentlich am Wichsen. Hierbei darf übrigens original Jürgen Vogel bei besagter Tätigkeit in all seiner Pracht beobachtet werden, wen es also interessiert...
Zeitgleich wird der zweite Hauptcharakter Nettie (Sabine Timoteo) vorgestellt. Nettie ist 27 und lebt bei ihrem Vater, der sie nach dem Tod der Mutter als Hausmädchen sowie emotional „missbraucht“. Nettie, schwer labil, befindet sich gerade in einem langwierigen Abkopplungsprozess und bezieht ihre erste eigene Wohnung. Währenddessen erweist sich Theo als verklemmtes Würstchen, das weder über seine Sexualität reden noch vernünftig Frauen anbaggern kann, der Arme. Schließlich treffen beide, na klar, aufeinander und es entwickelt sich langsam so etwas wie eine Beziehung. Beim ersten Aufeinandertreffen sagt sie, dass sie keine Männer mag und er erwidert dasselbe in Bezug auf Frauen. An dieser Stelle konnte man dann schon das erste Kichern durch den Saal wehen hören und erstaunt sein über den Zynismus, der sich auch bei Soziologiestudenten ganz wohl zu fühlen scheint. Schließlich begleitet sie ihn zum Kampfsport und während der Übungen, in denen sie immer härter und unkontrollierter zuschlägt, fällt alles von ihr ab und ihr Übungspartner Theo erfährt, dass er sich einer Frau gegenüber kontrollieren kann. Das geht dann hin und her, denn irgendwie müssen die 171 Minuten ja zusammenkommen und schließlich landen sie in einem belgischen Hotel und sie versucht sich ihm sexuell zu nähern, worauf er wie ein kleiner verstörter Junge reagiert. Da dürfte es jetzt bei Psychologiestudenten im ersten Semester klingeln, ach ja, Angst vor Kontrollverlust und so. Am nächsten Tag überrascht er sie mit einem Kirchenbesuch, während dem er das „Ave Maria“ singen lässt, von dem er weiß, dass sie es liebt. So sitzen sie nun auf einer Kirchbank, lauschen Schubert und er legt zum ersten Mal seinen Arm um sie, weinend. Bei soviel Erlösungskitsch fehlen nur noch die herabschwebenden Englein, die beide zurück in den Garten Eden geleiten.
Es wird zusammengezogen, „normales“ Sexualleben entwickelt und sie beginnt auch mit Arbeitskollegen auszugehen. Schon bricht wieder das unbestimmbare „Draußen“ auf die heile Welt Theos herein und er wird rückfällig. Bei dieser Vergewaltigung jedoch wehrt sich sein Opfer und selbst mit dem besten Willen wirkt diese Szene, als würde die anschließende Brutalität des erst noch unsicheren Theos dadurch herbeigeführt werden, dass die junge Frau ihm einen Tritt verpasst.
Theo berichtet Nettie von seinen Taten, von „etwas“ Bösem in ihm, das er nicht kontrollieren könne (wie bei „Hulk“) und verschwindet. Sie ist verunsichert, will ihn aber nicht verlieren und reist deshalb zu einem seiner Opfer, um ein Gespräch zu suchen, sich Gewissheit zu verschaffen, oder weiß der Teufel was, ist an diesem Zeitpunkt sowieso egal, da man alle Hoffnung, dies hier könne noch ein guter Film werden, spätestens vor einer Stunde hat fahren lassen. Aber immer, wenn man denkt, dass es schlimmer nicht mehr geht, setzt dieser Film noch einen drauf und allein deshalb gebührt ihm so eine Art negativer Respekt. Als Nettie die von Theo missbrauchte Frau mit ihrer Geschichte konfrontiert, zerrt diese Nettie kurzerhand aufs Damenklo und vergewaltigt sie dort unter Zuhilfenahme einer Klobürste. Ja, lest den Satz ruhig noch mal, aber genau das passiert. Der Regisseur dazu:
„In der Szene mit der Klobürste ging es mir vor allem um Nettie, die gerade erfahren hat, dass der einzige Mann, der je gut zu ihr war, ein Vergewaltiger ist. Sie hat Angst davor, zu ihm zu gehen, deswegen unternimmt sie diese sehr egoistische Tat, nämlich ein Vergewaltigungsopfer aufzusuchen. Es ist natürlich klar, dass das Opfer das als ungeheure Grenzüberschreitung verstehen würde. Bei meinen Recherchen habe ich erfahren, dass vergewaltigte Frauen häufig über die Jahre den Wunsch entwickeln, körperliche Gewalt anzuwenden und zurückzuprojizieren in die Situation damals mit dem Gedanken ‚Ach hätte ich dem nur kräftig in die Eier getreten, dann wäre alles ganz anders gekommen.`“
Schließlich reist sie ihm nach und in ihren Armen, an einem verlassenen Strand, schneidet sich der verzweifelte Theo die Pulsadern auf. Na endlich, denkt man und zwar nicht aus Vergeltungssucht, sondern weil diese Bullenscheiße nun enden muss, aber es dauert noch ca. zehn Minuten, ehe man auf die Straße entlassen wird. Zehn Minuten Rotz und Wasser Netties, zehn Minuten Theos Blut, zehn Minuten Meeresrauschen. Och, wie bewegend.
Ein Film, der sich ganz auf den Täter konzentrieren und die Opfer dabei bewusst außen vor lassen will, konzentriert sich eben nicht ganz auf den Täter, indem er Einkaufsbummel, Spaziergänge und wer weiß was noch filmisch festhält. Und wenn dann noch so eine absolute Schweinerei wie besagte Klobürstenszene künstlich in die Handlung eingeflochten wird, muss dies für ein Opfer in der wirklichen Welt wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Nach der Premiere sollen die Zuschauer angeblich ruhig geblieben sein, richtiggehend verstört wurde berichtet. Wäre auch ich gewesen. Aber dann, zwischen Vorführung und Pressekonferenz, auf dem Herrenklo, dem Regisseur ein kräftiger Tritt in die Eier.

Schlaubi


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last modified: 28.3.2007