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das Erste, 0.9k

Tschlaaand! Tschlaaand!


In unregelmäßigen Abständen bellen aus den geöffneten Fenster der umliegenden Häuser Schreie des Jubels oder der Empörung durch leergefegte Straßen. Das heißt, dass die Fußballweltmeisterschaft – man braucht es eigentlich nicht zu erwähnen: der Herren – immer noch andauert. Schreie sind nicht das einzig Auffällige in diesen Tagen. Hässliche Autos regieren die Straßen. Mit einer, zwei, in manchen Fällen sogar vier schwarz-rot-goldenen Fahnen verziert sehen sie aus, als habe man es mit dem Staatsbesuch eines ziemlich „peripheren“ Landes zu tun: hier fährt der Präsident noch selbst, begnügt sich mit einem Kleinwagen, verzichtet auf eine Eskorte und das ganze Brimborium. Eine neue Kultur der Genügsamkeit? Vielleicht. Hoffentlich nimmt sich mancher hier zu Lande daran mal ein Beispiel, Stichwort: Abzocker-Mentalität.
Wie auch immer, natürlich handelt es sich nicht wirklich um die Präsidenten irgendwelcher Ministaaten und auch bei den „hunderttausenden von Familienvätern mit ihren Kindern“ (M. Matussek), die mit Fähnchen, Trikots, Make-up und überdimensionierten Zylinderhüten die Fußgängerzone bevölkern hat man es nicht mit Exilanten oder Angehörigen des Begrüßungskomittees zu tun. Die einheimische Bevölkerung hat sich in die Farben ihres Landes gekleidet und möchte ihre Unterstützung für die so genannte DFB-Elf zum Ausdruck bringen.
Zeitungsausschnitt, 24.5k

Zeitungsausschnitt, 43.7k

Siehe zu den Bildern auch das Editorial.
Doch gibt es wieder einige denen das Ganze nicht passt. Überall diese Deutschlandfahnen, hört man sie greinen, das nerve, nirgends habe man seine Ruhe. Manche gehen sogar so weit, das friedliche Treiben als patriotische Verdummungsveranstaltung zu verunglimpfen, was mir nicht ganz aus der Welt gegriffen scheint: Unter dem fadenscheinigen Vorwand der Liebe zum Fußball, einer im übrigen recht gefährlichen und rabiaten Sportart, rotten sich Tausende vor Großleinwänden zusammen um aus Geschrei, Bier und dem Kohlenmonoxid verbrannter Bratwürste jenes vernebelnde Gebräu zu destillieren, dass man als „Gemeinschaftsgefühl“ bezeichnet. Darüber vergessen sie dann das dieser Gemeinschaft zu Grunde liegende institutionelle Gerüst, den Staat und seine Politik vollends – nicht etwa, sondern nehmen ihn als etwas dem nationalen Kollektiv Äußerliches wahr, enthistorisieren und verewigen ihn. Auf dem Holzweg nämlich befindet sich, wer die Wirkweise heutiger nationaler Spektakel nach dem Vorbild der Öffentlichkeit des antiken Roms, „panem et circenses“ – Brot und Spiele begreifen will, nach dem Motto: Die Politiker/innen könnten seelenruhig Steuererhöhungen, Kürzungen und Reformen beschließen, bis ihnen ganz schwindlig sei, es interessiere ja sowieso keinen, da die gesamte Bevölkerung vor der Großleinwand stehe. Die heutigen Fußballfans übertreffen ihre antiken Vorgänger in der Komplexität ihrer Wahrnehmung um ein Vielfaches. Das ist allerdings weniger ihren persönlichen Anstrengungen, als vielmehr einer gravierenden Verkomplizierung der gesellschaftlichen Verhältnisse geschuldet, die diese Wahrnehmungsfähigkeiten hervorbringen. Die antiken Diktatoren taten gut daran, ihre Bevölkerung alle paar Tage mit einem Fest zu Ehren eines der zahlreichen, eigens für solche Zwecke erdachten Götter zu amüsieren und den ein oder anderen Gladiatorenkampf zu spendieren, denn schnell war ein Waffenarsenal erstürmt und ein Statthalter enthauptet – Ereignisse, die damals u. U. nicht ganz zu Unrecht als Umsturz der Verhältnisse gelten konnten. An die Stelle dieser enthauptbaren Macht ist jedoch mit dem Kapitalismus ein gesichtsloser Zwang getreten, der es idealistischerweise zur vornehmen Aufgabe der Einzelnen macht, die alltäglichen Zumutungen an sich selbst zu exekutieren. Da jedoch das vernünftige, an die gegenwärtigen Umstände angepasste Individuum ein ziemlich unsympathisches, verkorkstes Konkurrenzsubjekt ist, das meistens irgendwann überschnappt, kommt auch diese Gesellschaftsform in der Praxis nicht ohne die ständige Anwendung veräußerlichter, staatlicher Gewalt aus. Polizei und Gefängnisse sind dabei nicht die einzigen Institutionen zur Gewährleistung des Normalzustands. So diente und dient nationale Ideologie unter anderem dem Zweck, die Antagonismen innerhalb einer Gesellschaft zu verschleiern oder die Frage nach ihnen zu unterminieren, indem sie die dem sozialen Klima abträgliche Konkurrenz der Einzelnen in eine Konkurrenz höherer Ebene – Wir und Die – überführt und so die Möglichkeit eines konformistischen Glücks parzelliert. Bekanntlich eine elende Dummheit die schon viel Übel erzeugt hat.*
Das bringt uns zurück zu unseren Fußballfans. Wie schlimm sind sie wirklich? Die größte gegenwärtige Gefahr des WM-Patriotismus besteht darin, dass das bereits erwähnte Gemeinschaftsgefühl bisweilen für diejenigen, die als dieser Gemeinschaft äußerlich betrachtet werden, zur konkreten physischen Bedrohung werden kann und höchstwahrscheinlich geworden ist, auch wenn mir nicht bekannt ist in welchem Ausmaß. Eine zentrale Rolle dürften dabei nach wie vor Rassismus und gewisse pathologische Konzeptionen von Männlichkeit spielen die in der so genannten Welt des runden Leders nicht selten anzutreffen sein soll.
Kennzeichen des gegenwärtigen Patriotismus sind aber nicht vorrangig Rassismus und Straßengewalt. Im Gegenteil, diese dienen hegemonial sogar als Negativschablone. Repräsentativ verwendet die Werbung Afrodeutsche, die mit Deutschland-Fahne und Chips auf der Couch jubeln, erinnert sei auch noch einmal an Gerald Asamoahs Auftreten im Rahmen der „Du bist Deutschland“-Kampagne. Der gegenwärtige Patriotismus ist kein Nationalismus. Patriot, so eine gängige Behauptung, sei jemand der sein Land liebe, Nationalist dagegen jemand, der andere Länder herabwürdige. Nun wird einem jeder, der sich selbst Nationalist nennt gerne bestätigen, dass dies mitnichten der Fall sei und, froh dass er auch mal was gefragt wird, seine ethnopluralistische Leier herunterspulen (worauf wir gerne verzichten können). Macht man den Unterschied daran fest, dass Patriotismus ein Gefühl der Verbundenheit zum eigenen Land bezeichnet, Nationalismus hingegen eine politische Ideologie, bei der das Volk oder die Nation als Zweck allen Handelns betrachtet wird, so schließt das eine das andere nicht aus und es wird klar, womit man es bei den schwarz-rot-goldenen Scharen zu tun hat. Infantile Pop-Patriot/innen, die auf der Jagd nach wohligen Gemeinschaftserlebnissen die hedonistische Seite der Staatsbürgerschaft entdecken, mit Politik in ihrer Eigenschaft als Fans aber bitte nichts zu tun haben wollen. Es ist nichts „Böses“ dabei, wovor jemand in der Welt Angst haben müsse, wie Franz Beckenbauer in einem Bild-Interview vom 30.06.2006 feststellt. Und an anderer Stelle: „Stolz ist man, wenn man etwas geleistet hat. Oder etwas erreicht hat, was man sich vorgenommen hat. Aber dass meine Mutter mich in Deutschland zur Welt gebracht hat, ist nicht mein Verdienst, sondern Zufall. [...] Nein, ich bin nicht stolz. Aber ich bin glücklich, ein Deutscher zu sein.“ Lesenswert ist das Interview eigentlich deshalb: „BILD: Als Sie 1974 als Spieler Weltmeister wurden, war die WM auch in Deutschland. Damals gab es noch keine schwarz-rot-goldenen Fahnen an den Autos. BECKENBAUER: Damals waren wir noch nicht so weit. Auch ich bin kurz nach dem Krieg mit Schuldgefühlen aufgewachsen. Wir wurden erzogen, unsere nationalen Gefühle zu verbergen. Die anderen dagegen haben schon damals viel unverkrampfter ihren Nationalstolz gezeigt. Jetzt endlich sind auch wir dabei, Patriotismus als etwas positives zu begreifen.“ Wie auch immer sich diese semantische Nähe zu den verzweifelten Leserbriefen masturbierender Jungen an das Bravo-Dr. Sommer-Team erklärt, es gelingt dadurch, etwas von der gegenwärtigen Stimmung einzufangen.
Was bleibt? Wie sich an der bereits in Zeiten des „Wunders von Bern“ erkennbaren Gewohnheit der Deutschen zeigt, jeden ihrer fühligen Ausbrüche mit der Behauptung zu mythisieren, es handele sich dabei um einen besonderen, da nach langer Zeit der Scham oder Entsagung erstmalig unverkrampften Akt der Vaterlandsliebe ist der „neue“ Patriotismus gar nicht so richtig neu. Auch unmittelbar gefährlich im Sinne einer drohenden nationalistischen Bewegung ist er nicht. Die Tatsache, dass er nicht eben „gedankenschwer“ daherkommt bedeutet aber nicht, dass er deshalb auf die leichte Schulter zu nehmen wäre. Als einem pietätlosen Akt der Verdummung kann und soll man ihm gerne nach Möglichkeit in die Suppe spucken – ich sehe allerdings keinen Grund, sich dabei zu überanstrengen. Warum soll ich mich angesichts von ein paar Millionen Deutschland-Fahnen aufregen? – als hätten die Leute die restlichen 330 Tage im Jahr irgendetwas Besseres im Kopf.

Ron de Vou

* Vgl. hierzu Hannes' Ausführungen in der Rubrik „Das Erste“ in CEE IEH #133. So richtig es ist, die Borniertheit als gemeinsamen Nenner der Identifikation mit der „eigenen“ Stadt, dem „eigenen“ Land, dem lokalen Fußballverein oder einer Automarke aufzuzeigen, so borniert ist es auch, nicht die unterschiedlichen Dimensionen zu erwähnen, die zwischen Automarke, Fussballclub und Staat nicht im Bewusstsein der sich Identifizierenden, sondern in der Wirklichkeit liegen, in ihrem Potential, Leben zu ruinieren.

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last modified: 28.3.2007