The Locust (GSL/Ipecac/San Diego/US)
Kill Me Tomorrow (San Diego/US)
Jumbo Jet
chaos synthie screamo pioneers
Allen Gebilden des musikalischen Expressionismus ist ein Zug zur Schrumpfung,
zur unerbittlichen Kürze gemein.(1) Man kommt dem
Phänomen Locust ein gutes Stück näher, versucht man es aus der
Perspektive des musikalischen Expressionismus der 10er Jahre zu betrachten.
Beschreibt Adorno das Ideal dieser musikalischen Haltung als
Unmittelbarkeit des Ausdrucks, welche die Konventionselemente der
traditionellen Musik eliminieren möchte, und den Gehalt der
Musik als Versuch, die scheinlose, unverstellte, unverklärte
Wahrheit der subjektiven Regung aufzusuchen, ist damit auch schon
Elementares über Locust gesagt. Laut Adorno steht im musikalischen
Expressionismus die Darstellung der Angst im Zentrum. Auf welche
Weise sich über die Zeit ihr Ausdruck verändert hat, lässt sich
vielleicht an Locust studieren.
Im Jahrzehnt des Ersten Weltkriegs verlor das Individuum die Fassung. Die
Situation aber schien die Alternative Barbarei oder Sozialismus, Katastrophe
oder Erlösung in aller Deutlichkeit noch zu versprechen. Die im
musikalischen Expressionismus in Ton gebrachte Angst, wie sie beispielsweise
aus den drei Klavierstücken op.11 Arnold Schönbergs
herauszuhören ist, kennzeichnet sich als wohlausgestaltete Klaustrophobie
eines artikulationsfähigen, aber nach innen gekehrten Individuums. Die
Stücke eliminieren die Konventionen, in dem sie die bestimmte
Negation von Harmonie und Rhythmik betreiben und sich damit subjektivierend vom
Kanon der Tradition lösen. Die komponierte Beklemmung beschreibt auf diese
Weise einen Spielraum: die Angst, mit der die Auflösung der bisherigen
Gesellschaft wahrgenommen wird, wird selbst zum Standpunkt der Versicherung des
eigenen Bewusstseins. Auf diese Weise wendet sich das bürgerliche
Selbstbewusstsein emanzipatorisch gegen sich selbst, wird Tradition aufgehoben.
Der Bezugspunkt Locusts, ihre Tradition, ist der Protestsong, wie er sich bis
zum Punk entwickelt hat. Auch er wird in bestimmter Negation eliminiert.
Desillusionierte die Form des Protestsongs schon in der kulturindustriellen
Verwertung, in der ehemals Befreiung versprechendes in die Herrschaft wieder
eingemeindet wurde, wiederholt Locust dieses Verhängnis noch einmal in
der verzweifelten, wütenden Beschreibung von Ohnmacht. Die ausgestaltete
Klaustrophobie in unerbittlicher Kürze räumt der Idee der
Befreiung keine Chance mehr ein: Der Protestsong versichert nicht mehr gegen
die Angst, er repräsentiert sie. Auf diese Weise reflektiert sich die
Totalität der Vergesellschaftung.
Der Stand des Individuums gegen die Verhältnisse, wie sie der musikalische
Expressionismus formulierte, konterkariert sich heute mit dem Verlust der
Individualität bei Locust. Die Artikulation der Angst ist im Kontrast
aufgehoben: dem Wechsel zwischen Luft holen, Spannung halten und Schreien. Sie
wird damit wieder zu primär Körperlichem, der Schrei des Individuums
wird in seiner Körperlichkeit zum Zeichen der Entindividualisierung. In
dieser Konzeption entfaltet sich das musikalische Material in der zwanghaften
Wiederholung dieses Moments, thematisiert Unbewältigtes,
Unbewältigbares. Insofern ist auch Adornos Befund, der musikalische
Expressionismus zeige sich der Psychoanalyse nahe, indem er
Psychogramme gebe, protokollarische, unstilisierte Aufzeichnungen,
fruchtbar. Mit Freud ließe sich auch die Gemeinsamkeit beider
angstfokussierenden Musikrichtungen in Stichworte fassen, die er im Kontext der
Zwangsneurose formuliert: Auflösung von Zusammenhängen,
Verkennung von Abfolgen, Isolierung von Erinnerungen(2). Diese
Formulierung fällt Freud, um die Form zu beschreiben, in der dem
Zwangsneurotiker das Vergessene erscheint. Ihm scheint, der Analysierte
erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten,
sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern
als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, dass er es
wiederholt. Damit wäre die Dynamik, mit der konzentriert und
verstörend still Schönberg und entfesselt und laut Locust ihre
Kompositionen gestalten, beschrieben. Steht aber Schönberg eine
vertrackte, haltlose Reflexion im Sinn, neigt sich die Wiederholung also in den
Status der Erinnerung, bestreiten die Locustschen Kompositionen diese
Möglichkeit heute radikal: das defizile Moment des geistigen ist von Panik
überrannt, Locust bleibt die Dokumentation der körperlichen
Symptomatik von Ohnmacht und Kontrollverlust. So erinnert das wahnsinnige Tempo
der Stücke in bestimmten Momenten an das nervöse Zittern desjenigen,
der in der brandenden Realität unfähig ist zu entscheiden, wie zu
reagieren sei, und stattdessen in Starre verfällt. Erinnerung erscheint
nur noch als Bewegung, Reflexion als Reflex.
Während der gemeine Hardcore die Option, Mimikry zu betreiben, empfiehlt,
der Gewalttätigkeit der Verhältnisse die eigene Gewalttätigkeit
entgegenstellt und auf diese Weise Affirmation jener betreibt, vollziehen die
Kompositionen Locusts Mimesis. Die eigene Ohnmacht wird zu keiner Zeit mit
Martialismen kaschiert. Wenn doch und das ist ein reflexiver Moment, der
die Qualität ausmacht , dann im Stile der Groteske: an solchen
Stellen ist der Humor zu spüren, wenden sich Wut und Verzweiflung zur
Clownerie, nicht spottend, sondern Fassung gewinnend gegen die eigene
Schwäche und die diese produzierende Gesellschaft. Hier kehrt in die
entindividualisierte, weil allgemeinmenschliche Körperlichkeit
tragikomisches Bewusstsein zurück, welches dem unglücklichen
glücklich beiseite steht.
Till
Fußnoten
(1) T.W. Adorno, Theorie der neuen Musik
(2) S. Freud, Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten (1914)
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