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I can't relax in banlieue


Aufgeregt lässt es sich in diesen Zeiten nach Frankreich schauen. Die Riots in den banlieues – den prekären französischen Vorstädten – finden kaum ein Ende. Allabendlich brennen hunderte von Autos, gibt es erbitterte Straßenschlachten zwischen Polizei und Randalierern. Geschäfte, Schulen, Kindergärten, Fabriken, Metrolinien und sogar Synagogen werden angezündet. Darüber hinaus wurden Busse und deren Fahrgäste überfallen, eine Behinderte Frau mit Benzin übergossen und ein 60-Jähriger Mann, beim Versuch das Auto seines Nachbarn zu löschen, zu Tode geprügelt. Die französische Regierung scheint angesichts der Situation ratlos zu sein und außer drohenden Worten – wie denen von Innenminister Sarkozy, der mehrfach von Gesindel redete, was sich da herumtreibe und zerstöre –, dem Verhängen des Ausnahmezustands und einem harten Durchgreifen der Polizei, keine Handhabe über die betroffenen Gebiete erlangen zu können.
Jetzt, nachdem die Minderjährigen durchdrehen – das Alter der rebellierenden Jugendlichen liegt meist zwischen 14 und 18 Jahren – und die Öffentlichkeit genauer hinschaut, offenbart sich plötzlich, was die Europäer bisher nur im ungerechten Amerika verortet haben: Ghettoisierung und Anarchie wie z.B. nach dem Hurrikan in New Orleans.
In den französischen Vorstädten haben sich wahrlich Parallelgesellschaften gebildet, das ist nun nicht mehr zu übersehen, obwohl es den Franzosen längst unterbewusst war.
Es wird z.B. davor gewarnt, in bestimmte Gegenden zu gehen, denn da ist la Zone. Ein quasi rechtsfreier Raum, in dem das Leben so gar nichts mit französischem Alltag zu tun hat. Dort wohnen fast ausschließlich Migranten, vorwiegend islamischen Hintergrunds und zwar in riesigen Neubaublocks auf einem Haufen. Und dort gibt es eine extrem hohe Arbeitslosen- und Kriminalitätsrate, schlechte Schulen und ca. 90% der Familien leben an der Armutsgrenze. Die meisten Jugendlichen haben eine sehr schlechte Allgemeinbildung, sprechen schlechtes Französisch und wenn man aus diesen Vorstädten kommt, hat man im elitären französischen Berufssystem wenig, bis keine Chancen. Die meisten Migranten bleiben dort hängen. Das hat wenig mit großen Idealen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu tun.
Der Konflikt schwelt wie angedeutet schon lange. Es gibt Gebiete, in die sich die Polizei nicht mehr hineintraut. Ständig brennen in den banlieues Autos, gibt es Auseinandersetzungen mit Jugendlichen und der repressiven Polizei, doch gehört das in Frankreich zur normalen Tagesordnung. Die Gewalteruption nach dem 28.10. ist somit nur ein Zwischenhoch.

Postkarte Wacht am Rhein, 34.4k


Daniel Cohn-Bendit, Vorreiter der Pariser Mai-Unruhen von 1968, spricht im SPIEGEL angesichts der neuerlichen Randale, die sich auf über 200 Gemeinden ausgebreitet haben, von einem „Flächenbrand“ in den „Ghettos“ Frankreichs und schiebt die Verantwortung der Politik und den Politikern in die Schuhe, die allein die Vorstädte zu gebannten Orten haben werden lassen (die direkte Übersetzung des Wortes banlieue ist gebannter Ort). Cohn-Bendit, als Politiker, der das Feld der Kritik der politischen Ökonomie längst verlassen oder nie richtig betreten hat, vergisst, dass es eine systemimmanente Tendenz gibt, Menschen durch das Überflüssigmachen ihrer Arbeitskraft von der Gesellschaft abzuschneiden. Und er vergisst weiterhin, dass die untereinander konkurrierenden Staaten es sich nicht mehr leisten können, Elend zu beheben, sondern sie können es nur noch (repressiv) verwalten – sozialstaatliche Wohlfahrt gehört tendenziell der Vergangenheit an. Aber natürlich gibt es hierbei auch einen Handlungsspielraum.
Man kann es natürlich erstmal gutheißen, wenn sich Menschen gegen ihr vorherbestimmtes, elendes Schicksal wehren und gegen staatliche sowie polizeiliche Gängelung rebellieren. Doch der Handlungsspielraum liegt auch auf der Seite derer, die Betroffen sind und sich jetzt Luft machen.
Denn Notlagen führen nicht zwangsläufig dazu, dass man blindwütigen Hass gegenüber Unschuldigen walten lässt und sogar den Willen zum Töten dabei besitzt. Es ist nicht alles mit sozialen Erklärungen zu entschuldigen, sondern man muss auch das Besondere betrachten.
Warum – wenn alles ein Aufbegehren gegen die soziale Notlage in den Vorstädten ist – entzünden die Kids dann die Autos ihrer armen Nachbarn, sowie Vorschulen, Kindergärten, Fabriken und sogar Synagogen? Sind die Kids nur zu doof und glauben sich in einem Videospiel, bei dem man umso mehr Punkte bekommt, je mehr Items man entzündet, egal ob Auto, Haus oder Mensch?

In der französischen Gesellschaft ist Gewalt ohne größere Rücksicht auf Verluste als Mittel politischer Auseinandersetzung durchaus akzeptiert. Das kann man an den Aktionen des Globalisierungsgegners und Nationalisten José Bové sehen, der McDonalds Filialen zerstört und sich in der Bevölkerung dadurch einiger Beliebtheit erfreut. Deshalb können auch französische Arbeiter während eines Arbeitskampfes damit drohen, mit gefährlichen Chemikalien mutwillig einen Fluss und damit eine ganze Gegend vergiften zu wollen, falls ihren Forderungen während eines Streiks nicht nachgegeben werde und französische Winzer können gewaltsam italienische Weintanklastzüge und den vermeintlichen Fusel hektoliterweise auf den französischen Asphalt kippen, ohne sich dabei allzu unbeliebt zu machen. Kann also diese Gewalt akzeptierende Grundhaltung für die Randale Pate gestanden haben?

Alfred Grosser, ein deutsch-französischer Publizist, spricht in der Leipziger Volkszeitung davon, dass sich die Menschen arabischer Herkunft in den banlieues mit den jungen Palästinensern solidarisch fühlen, die in den besetzten Gebieten Steine gegen israelische Soldaten und Panzer werfen. Inspiriert von der Intifada werfen sie nun auch Steine und glauben, Gewalt sei das einzige Mittel, um aus der eigenen Notlage herauszukommen. In französischen Internetforen bewerten Junge Muslime diese Kämpfe sogar als Dschihad. Der radikal-fundamentalistische Islam scheint dort also auf fruchtbaren Boden zu stoßen und die Riots dessen Handlanger zu sein. Die Feindbilder sind hier nur nicht zuvorderst Israel (obwohl es, würde man die Leute dort fragen, sicher beseitigt gehörte), sondern erst einmal Chirac und Sarkozy und der französische Staat.
Die Grenzlinie zwischen Orient und Okzident scheint nun nicht mehr nur zwischen Israel und Palästina, sondern auch mitten in Europa zu verlaufen, denn „alles worum sich die Politiker kümmern, sind Gesetze für Homosexuelle und all diese unmoralischen Dinge“, sagt ein lange in Frankreich ansässiger Marokkaner einer Vorstadt und spricht dabei aus, was wohl große Teile der 5 Millionen moslemischer Einwanderer in Frankreich denken.

Jedoch ist nicht ganz klar, welche Rolle der Islamismus bei den Jugendkrawallen spielt. Zumindest scheint sicher, dass der Islam ein wichtiger Bestandteil der Jugendgangs ist, der ihr Selbstverständnis stärkt, ihnen ein Zusammengehörigkeitsgefühl gibt und vor Allem zur Abgrenzung von den anderen, den „Franzosen“, dient. So liegen die sozialen Bruchlinien in der französischen Gesellschaft heute zwischen religiös-ethnischen Gruppen mit eigenen Identitäten, die nach ihren autonomen Regeln leben wollen. Das französische Ideal einer Nation von Gleichberechtigten ungeachtet ihrer Herkunft und Religion scheint Geschichte zu sein.
Es mangelt ebenfalls nicht an gewalttätigen Fantasien und regressivem Gedankengut, welches sich leicht in die Köpfe der Jugendlichen Franzosen aus den Ghettos verirren könnte und sich augenscheinlich auch schon verirrt hat. Modern-westlich gekleideten Frauen kann es schon mal passieren, dass sie auf der Straße – wohlgemerkt auch in anderen, sichereren Stadtvierteln – von arabischen Jugendlichen und Männern als Huren beschimpft werden. In französischen Blog-Internetforen werden dann auch Frauen und Mädchen dazu aufgerufen, sich anständig zu kleiden, sonst könnten sie nicht ins Paradies gelangen, denn wie schon gesagt, sehen einige diesen Kampf als Dschihad an. Doch es geht noch weiter als bis zur bloßen Aufforderung, sich anständig zu kleiden. In viel gehörten Hip Hop-Texten wird die Frau des Polizisten solange vergewaltigt, bis sie tot ist. Dann hört man von Massenvergewaltigungen in den banlieues und von Morddrohungen gegenüber geschändeten Frauen, die damit an die Öffentlichkeit gegangen sind. In manche Vorstädte sollen Spuren von Drahtziehern der Anschläge des 11. September 2001 führen. All diese Dinge klingen sehr alarmierend.
Glaubt man den Expertenmeinungen, so gibt es diese brisanten Gemengelagen in Deutschland nicht. Obwohl es schon Nachahmungstäter im Auto-Anzünden in Berlin, Köln und Bremen gegeben hat, sollen sich die dortigen Verhältnisse noch stark von denen in Frankreich unterscheiden. Das deutsche Innenministerium warnt vor Panikmache und Politiker verlegen die Riot-Szenarien auf 10-15 Jahre in die Zukunft, falls bis dahin nichts geschehe, um die sich erhöhenden Spannungen und Unterschiede zwischen Migranten und Westeuropäern abzubauen. Wieder andere sprechen von den Differenzen zwischen arabisch-nordafrikanischen Einwanderern in Frankreich und den türkischen Migranten hierzulande und davon, dass das soziale Netz in Deutschland die sozialen Probleme stärker abfangen könnte. Daniel Cohn-Bendit bezeichnet wohl deshalb auch Berlin-Kreuzberg als eine „Insel der Glückseligkeit“ im Vergleich zu den sensiblen französischen Vorstädten
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Es bleibt aber trotz dieser Einblicke vorerst nur bei Mutmaßungen über die wahren Beweggründe der Krawallkids. Hat sie Sarkozy nur zu sehr provoziert, wollen sie es ihm und sich beweisen? Geht es um das sich Abgrenzen-Wollen vom Staat und dessen Ordnungsmacht und westlichen Ideen? In jedem Falle herrscht in den banlieues eine explosive Mischung aus polizeilicher Repression, gravierenden sozialen Missständen, Gewaltverherrlichung, verstörender Aggression, Kriminalität und islamistischer Ideologie vor, die nicht zu unterschätzen ist.
Bei indymedia.de wurden sehr schnell verbale Unterstützungen für die Riots gepostet und in Russland zeigten auch schon Vertreter der Kommunisten, die so genannte Avantgarde der Roten Jugend, ihre Solidarität. Sie zogen während einer 11.000 Leute starken Demonstration zum Gedenken an den 88. Jahrestag der Oktoberrevolution, am 07. November, mit brennenden Signalfackeln durch Moskau und riefen „Heute Paris – morgen Moskau“.
Ja, und spätestens dann, wenn durchgeknallte Jungstalinisten die Sache toll finden, muss man da mal genauer hinschauen.

René Songs

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last modified: 28.3.2007