home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[125][<<][>>]

Tomorrow-Café, 1.5k

Einführung in den Anarchismus –
Teil 2.

Zusammenfassung einer Vortragsreihe im Theorie-Café(1)

Der erste Teil dieser Einführung endete mit der Darstellung und Kritik von P.J. Proudhons Theorien des mutualistischen Anarchismus. Sein politisches Programm zielte auf die Gründung verschiedener anarchistischer Einrichtungen ab, allen voran die von ihm propagierte Tauschbank. In der Entwicklung sollte dieses Konzept auf den föderalen Zusammenschluss freier Arbeiterassoziationen hinauslaufen und ein Netz von Institutionen hervorbringen, welches nach und nach die kapitalistische Gesellschaft bis zu deren Verschwinden überzieht. Diese allmähliche Umformung würde nach und nach die vorherrschenden gesellschaftlichen Organisationsformen, z.B. Nationalstaaten, Warentausch usw. ablösen bzw. unter anderen Vorzeichen neu hervorbringen. Ganz anders stellt sich die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft der russische Anarchist Michail Bakunin vor.

3.2 Michail Bakunin (1814 – 1876) – Kollektivanarchismus*

„Die Lust der Zerstörung ist eine schaffende Lust“(2)

Fleißig bei der Rekordernte, 30.7k
Fleißig bei der Rekordernte
Proudhon und Bakunin vertreten zwar recht ähnliche Standpunkte, was die Kritik zentralistischer Verwaltung, des Erbrechts oder der Religion betrifft, jedoch würde in der Vorstellung Bakunins nicht eine allmähliche Selbstorganisation, sondern eine spontane, gewaltsame Revolution der Massen den Staat augenblicklich abschaffen. Diese Verneinung einer schrittweisen Umwandlung liegt vor allem in zwei Dingen begründet: zum Einen weil der Staat bei Bakunin ausschließlich negativ besetzt und neben der Religion wohl sein größtes Hassobjekt ist und zum Anderen in seinem grenzenlosen Vertrauen in den „Instinkt des Volkes“, den „Lauf der Geschichte“ oder in die „Naturgesetze der Gesellschaft“.
Zunächst zu seiner Staatskritik: Wohl kaum ein anderer Anarchist bringt dem Staat eine vergleichbar große Verachtung entgegen wie Bakunin. Das im ersten Teil dieser Einführung schon erwähnte Misstrauen gegenüber einer Beteiligung an der Verwaltung des Staates ist wohl bei ihm auf die Spitze getrieben und auch die Art der staatlichen Organisationsform, d.h. ob sie demokratisch, absolutistisch, staatssozialistisch o.ä. ist, macht für Bakunin nur einen geringen Unterschied. Der Staat ist in seiner Theorie in jedem Fall nur ein Instrument zur Machtausübung, zur Unterdrückung einer Mehrheit durch eine Minderheit und zur Garantierung ungerechter Eigentumsverhältnisse. In „Gott und der Staat“ schreibt er: „Der Staat ist aber keineswegs die Gesellschaft, er ist nur eine ebenso brutale wie abstrakte, historische Form der Gesellschaft. Er entsteht in allen Ländern aus der Ehe der Willkür, der Räuberei und der Plünderung, aus dem Krieg und der Eroberung [...]. Selbst in den am meisten demokratischen Ländern, wie den Vereinigten Staaten von Nordamerika und der Schweiz, ist er die regelmäßige Form des Vorrechts irgendeiner Minderheit und der tatsächlichen Knechtung der großen Mehrheit. [...] Der Staat ist die Autorität, die Macht, das Prahlen und die Verdummung mit der Gewalt.“(3) Auch die auf den ersten Blick fürsorglichen Funktionen des Staates wie Gesundheits- und Schulwesen oder die Sicherstellung der Infrastruktur sind ohne jegliche Bedeutung, „weil das Gute, wenn es befohlen wird [...] das Übel wird.“(4) Diese verbalen Angriffe verschießt Bakunin jedoch nicht nur gegen Vertreter des Liberalismus oder Absolutismus, sondern v.a. auch gegen die des Staatssozialismus, in dessen Vorstellung das Proletariat ja den Staat zunächst als politische Macht einnehmen sollte, um mit seinen Möglichkeiten eine sozialistische Umwandlung voranzutreiben. Die Vorstellung, dass eine Diktatur des Proletariats auf die eigene Abschaffung hinauslaufen könne, erscheint ihm zurecht absurd.(5)
Eine so rigorose und v.a. auch emotionale Verachtung des Staates, seine Denunzierung als bloßes Werkzeug zur Ausbeutung der Massen und Beschneidung der individuellen Freiheit, kommt nicht von ungefähr. Bakunin entstammt dem zaristischen Russland, in dem bis zur Revolution im Jahr 1917 im Prinzip feudal-absolutistische Verhältnisse herrschten und in dem der Staat tatsächlich nur ein Instrument war, mit dem die autokratische Herrschaft des Zaren und des Adels unter Anwendung blutigster Gewalt gesichert werden sollte. Besetzt man die Funktionen des Staates so einseitig negativ, ist es nur ein kleiner Schritt bis zu der Annahme, die Menschheit könne augenblicklich auf ihn verzichten. Dass Bakunin ein Freund von einfachen Gut-Böse Darstellungen ist, kommt hier besonders gut zum Ausdruck. In der gleichen Weise, in der er den Staat mit Hasstiraden eindeckt, versäumt er keine Möglichkeit, die angeblich selbstregulierenden und solidarischen Kräfte „des Volkes“ zu verherrlichen. Diese Gegensätze scheinen ihm nur Begriffe zu sein, mit welchen er entweder alles Böse oder alles Gute identifiziert. Der Staat, das ist der Raub, die Unterdrückung, die Gewalt, die Dummheit usw., er ist „die offenkundigste, zynischste und vollständigste Negation der Menschheit“.(6) Das Volk hingegen strebt nach Freiheit, seine neue Religion ist der Sozialismus(7) und es hat „jene Leidenschaft, die alle Hindernisse beseitigt und neue Welten schafft“.(8)
Dieses grenzenlose Vertrauen in das revolutionäre Potential der Massen hat seine Grundlage wohl vor allem in Bakunins Wissenschafts- und Geschichtsglauben. Er versteht sich selbst als Anhänger des historischen Materialismus und betont oft genug, jene Methode von Karl Marx übernommen zu haben. Im Gegensatz zu Marx allerdings, dessen Werk in sich recht widersprüchlich ist, da man in ihm ebenso die Vorstellung einer zu Ende gedachten Geschichtsbewegung wie die Kritik dieser Idee findet, so dominiert bei Bakunin eine beinahe prophetische Selbstsicherheit im Bezug auf den Sieg der sozialen Revolution. Seine Werke sind gespickt mit Formulierungen, in denen er eine unveränderbare historische Linie zieht vom tierischen Ursprung des Menschen über dessen religiöse Verirrungen bis hin zum unvermeidbaren Ende der Geschichte, der Anarchie(9).
Wir lieben die Nation (1985), 41.0k
Wir lieben die Nation (1985)
Diese Vorstellung einer bereits zu Ende gedachten Geschichtsbewegung beinhaltet allerdings nicht nur den Glauben an den Sieg einer anarchistischen Bewegung. Viel verheerender ist m.E., dass Bakunin aus dieser Selbstsicherheit heraus soweit geht, die unvorstellbar grausamen Kapitel der menschlichen Vergangenheit und auch die der Gegenwart als notwendige und unvermeidbare Etappen auf dem Weg zur freien Gesellschaft darstellt.(10) Nimmt man eine solche Weltvorstellung zur Grundlage, in der ein selbstsicherer Geschichtsglaube und eine klare Vorstellung von Gut und Böse vorherrschen, so erscheint es in der Tat als völlig plausibel, dass nach einer sofortigen Vernichtung des Staates und seiner Institutionen die einzige Kraft ausgeschaltet wäre, welche zersetzend auf die Durchsetzung einer freien Gesellschaft einwirken könnte. Allerdings sind m.E. sämtliche Grundlagen dieser Vorstellung zu verwerfen.
Zunächst gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Entwicklung der Menschheit ein rosiges Ende nimmt. Sie könnte sich ebenso gut in einem Gemetzel unglaublichen Ausmaßes zugrunde richten. Grund für diese positive Annahme ist die von vielen Anarchisten getragene Vorstellung, der Mensch sei ein prinzipiell gutes, solidarisch und freiheitlich veranlagtes Wesen. In einer Argumentationsweise, wie man sie bei Michail Bakunin findet, mag solch eine Annahme zwar sehr nützlich sein, jedoch war sie bereits im 19. Jahrhundert nichts als Spekulation und ist erst recht Heute, nach den Erfahrungen des deutschen Nationalsozialismus und den unfassbar barbarischen Handlungen, welche Menschen in ihm vollzogen, völlig zu verwerfen. Angesichts des antisemitischen Massenmords an über sechs Millionen Menschen, welcher von einer breiten Masse der deutschen Bevölkerung mitgetragen wurde, gibt es nicht mehr den geringsten Anlass, dem Menschen ein prinzipiell gutes Wesen zuzusprechen und dessen geschichtlichen Triumph zu prophezeien.
Zudem ist auch Bakunins Staatskritik bei genauerer Betrachtung recht fehlerhaft. Zwar treffen viele seiner Einschätzungen zu – z.B. beschneidet der Staat in der Tat die Freiheit des Individuums. Er kann es nicht angemessen repräsentieren, da er mit Bezug auf das Allgemeininteresse nicht auf sämtliche individuellen Besonderheiten eingehen kann und er beruht in der Durchsetzung seiner Interessen und abstrakten Gesetze vorwiegend auf Gewalt – jedoch fehlt es Bakunin an theoretischer Schärfe um diese Phänomene nicht nur zu benennen und einseitig zu verdammen, sondern auch zu erklären. So ist der Staat nicht einfach nur ein zur allseitigen Verfügung stehendes Ausbeutungswerkzeug, welches von jedem benutzt werden kann, der seine Handhabung versteht, sondern er erfüllt in der kapitalistischen Gesellschaft zahlreiche Funktionen, ohne die sie nicht bestehen könnte. Dass es seine Aufgabe ist, für eine gute Infrastruktur, eine stabile Währung, ausreichend Bildung usw. zu sorgen, hat nur bedingt etwas mit politischer Weitsicht der Machthaber zu tun. Auch wenn es auf den ersten Blick derart erscheint, v.a. in den Augen der Staatstragenden selbst, so gibt es trotzdem auch eine objektive Notwendigkeit für die Erfüllung dieser Aufgaben, da ohne sie keine kapitalistische Produktionsweise möglich wäre. Das Fortbestehen dieser Gesellschaftsform im Allgemeinen ist allerdings nicht durch die dunklen Machenschaften einer diabolischen Minderheit gesichert, sondern wird von allen Menschen mitverantwortet, die in ihr leben, Geld benutzen, arbeiten, wählen gehen usw. Es ist jene Form der Vergesellschaftung, welche die Gräuel des Staates und des Marktes hervorbringt und welche es in ihrer Gänze zu kritisieren gilt, anstatt nur einzelne Phänomene darin oder gar Menschen anzugreifen.
Nichtsdestotrotz versteht es Bakunin wie kaum ein anderer, seine emotional aufgeladene Verachtung in einer donnernden und bildhaften Sprache zum Ausdruck zu bringen. Seine kompromisslose Ablehnung jeglicher staatlichen Organisationsform und sein geradezu beispielloser Hass auf alles, was einen Hang zur Religiosität aufweist, sind, wenngleich an vielen Punkten kritikwürdig, zumindest sehr unterhaltsam und für eine fruchtbare Diskussion bestens geeignet. Als haarscharfer Theoretiker verstand sich Michail Bakunin zudem auch selbst nicht.(11) Dies ist wohl auch ein Grund dafür, warum seine konkreten Formulierungen zur Organisation einer freien Gesellschaft nicht nur spärlich sind, sondern auch im Widerspruch zu seinen eigenen politischen Forderungen an anderer Stelle stehen.
Der erste Schritt zur Einrichtung einer freien Gesellschaft wird ja wie schon erwähnt recht einfach und beinahe selbstverständlich dargestellt. Auch wenn, wie Bakunin schreibt, die vollständige Erfüllung dieser Aufgabe Jahrhunderte in Anspruch nehmen wird, so soll der Anfang durch die Verbindung von Wissenschaft und Proletariat gemacht werden, bzw. durch „die weiteste Verbreitung der freien Wissenschaft im Volke“.(12) Dies kann man in der Tat als recht profane Angelegenheit verstehen, bspw. als Zuwendung einiger von der Bourgeoisie enttäuschter Studenten hin zur revolutionären Masse.(13) Diese hätte dann den Staat abzuschaffen und den selbstregulierenden Kräften „des Volkes“ freien Lauf zu lassen, was zur Gründung einer weltweiten föderalen Vernetzung solidarischer Produktions- und Verwaltungsgenossenschaften führen würde. Soweit zum relativ allgemein skizzierten Ablauf. Schaut man sich nun an, wie sich Bakunin die konkrete Aufgabenverteilung in einer anarchischen Gesellschaft vorstellt, so scheint von den „Kräften der Selbstorganisation“ oder vom Föderalismus nicht mehr viel übrig zu sein. Sein „Freiheitsbau“(14) ist der Entwurf einer gigantischen Pyramide, in der zwischen den einzelnen Einheiten eine klare Verteilung der Kompetenzen festgelegt ist. Die Arbeit in den Kollektiven wird durch einen „gerechten“ Anteil am gesellschaftlichen Reichtum entlohnt. Dieser wird allerdings an der verausgabten Arbeitskraft und nicht an den Bedürfnissen gemessen. An anderer Stelle, im „Revolutionären Katechismus“, nimmt er zwar Bezug auf das Proudhonsche Föderalismuskonzept, jedoch unterstellt er dazu widersprüchlich im Entwurf des Aufbaus die unteren Ebenen der Gerichtsbarkeit der höheren. Dass all diese Konzepte seinen eigenen Freiheits- und Gesellschaftsbegriff ebenso wie sein Vertrauen in die Spontaneität und Selbstregulation der Menschheit in Frage stellen, scheint ihn allerdings nicht zu stören.

3.3. Der Anarchismus im 19. Jh. – Marxismus vs. Anarchismus*

Um das Land zu lieben, muß man seine Geschichte kennen - je größer das Wissen umso tiefer die Liebe (1984), 44.7k
Um das Land zu lieben, muß man seine Geschichte kennen - je größer das Wissen umso tiefer die Liebe (1984)
Zwischen P.J. Proudhon und Michail Bakunin auf der einen und Karl Marx wie Friedrich Engels auf der anderen Seite gab es erbitterte Auseinandersetzungen um den Einfluss in der Arbeiterbewegung und auch auf theoretischer Ebene. Die anfängliche Zustimmung Karl Marx’ zu Proudhons Schriften war spätestens seit der Veröffentlichung von „Das Elend der Philosophie“ im Jahre 1847 keiner Erwähnung mehr wert. Diese schriftliche Erwiderung von Marx auf Proudhons Hauptwerk „Philosophie des Elends“ gilt als eins der ersten großen Beispiele der Marxschen Hinrichtungskunst auf theoretischer Ebene.(15)
Neben diesen immer drastischer werdenden inhaltlichen Differenzen gab es natürlich auch einen erbitterten Kampf um den politischen Einfluss in der Ersten Internationalen.(16) Bis in die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein hatten die Anarchisten in weiten Teilen Europas erheblich größeren Einfluss als die deutsche Schule des Sozialismus. Während Proudhons Konzepte einer föderalen Organisation unter Aufsicht einer Tauschbank v.a. im französischen Einflussbereich zahlreiche Anhänger hatte, waren in anderen romanischen Ländern wie Spanien, Italien oder Portugal die Ideen Bakunins und seine Staatskritik weit verbreitet. Vor allem im Landproletariat Spaniens und im katalonischen Industrieproletariat, Gebieten, in denen zu dieser Zeit heftige soziale Unruhen tobten, wuchs die Zahl seiner Anhänger immer weiter. 1868 sendete Bakunin sogar seinen engen Freund Fanelli nach Spanien, um dort die Verbreitung seiner revolutionären Ansichten zu unterstützen.
In der Auseinandersetzung zwischen Anarchisten, den antiautoritären, und Kommunisten, den autoritären Sozialisten, ging es weniger um die Festlegung der zu erreichenden Endziele (die Abschaffung des Kapitalismus und die Einrichtung einer Gesellschaft ohne Herrschaft stand auf beiden Fahnen), sondern, wie Bakunin meinte, um „Meinungsverschiedenheiten über Fragen der revolutionären Taktik“.(17) Während unter der schwarzen Flagge die Gründung und föderale Vernetzung von eigenständigen Produktionsgenossenschaften sowie die sofortige Zerschlagung des Staatsapparates gepredigt wurde, wollten die Anhänger des Staatssozialismus das bis dahin recht einflussarme Proletariat zunächst als politische Macht etablieren, um mit den Möglichkeiten der staatlichen Verfügungsgewalt die Umstrukturierung der Gesellschaft zu erreichen. Die Vorwürfe, welche sich beide Parteien entgegen brachten, haben sich paradoxerweise auf beiden Seiten bewahrheitet. Die Anarchisten hatten allzu Recht als sie befürchteten, dass die Festigung der politischen Macht des Proletariats nicht die Abschaffung von Herrschaftsverhältnissen sondern nur die Verewigung und Bürokratisierung einer sozialistischen Diktatur zur Folge haben kann. Allerdings bewahrheitete sich auch mehrmals in der Geschichte die Befürchtung der Staatssozialisten, dass eine antiautoritäre Bewegung ohne politische Führung keine Perspektive habe und dem allmählichen Zerfall oder der Unterdrückung durch politische Gegner nicht viel entgegenzusetzen habe.
Zwischen diesen Polen der Arbeiterbewegung gab es erbitterte Auseinandersetzungen, bei denen sich beide Seiten nichts zu schenken hatten. Die Diskussionen in der Ersten Internationalen glichen einer Schlammschlacht und zahlreiche Treffen wurden überschattet von gegenseitigen Ausladungen, lügenbeladenen Pamphleten und denunziatorischen Flugschriften. Die Heftigkeit und Untragbarkeit dieser Auseinandersetzungen führte schließlich zum Bruch in der Internationalen und zu deren Auflösung im Jahr 1872, aus der die Marxisten schließlich als Gewinner hervorgingen, da sie zu dieser Zeit bereits erheblich größeren Einfluss unter den Arbeitern hatten und mehr Popularität genossen.

3.4. Propaganda durch die Tat

Nach der Spaltung der Internationalen wuchs die Unsicherheit unter anarchistischen Gruppierungen. Nicht nur weil die rasante industrielle Entwicklung ihre Vorhersagen enttäuschten, sondern auch weil die zunehmende staatliche Repression ebenso wie der wachsende Einfluss der Marxisten sie zurückdrängte. Abgesehen von den immer wieder aufflammenden anarchistischen Aufständen in Spanien dominierte ab ca. 1880 in weiten Teilen der Bewegung ein recht kurzsichtiges Abenteuertum und blinder Aktionismus. Die Ausrichtung auf Aktionen einer großen revolutionären Masse wich mehr und mehr einem zu Anfang auch von Bakunin propagiertem Terror, welcher vorwiegend von kleineren Anschlägen auf staatliche Institutionen oder sog. Repräsentanten geprägt war. In diese Zeit fällt wohl auch die zahlreiche Entstehung der Vorurteile gegenüber dem Anarchismus und die Gleichsetzung seiner Ziele mit Gewalt, Terror und Gesetzlosigkeit. Dies war nun wiederum ein gefundenes Fressen für Marxisten, Sozialdemokraten und Anhänger anderer sozialistischer Strömungen, welche nun Gelegenheit hatten, die Ausgrenzung anarchistischer Ideen weiter voranzutreiben.(18) Der stetig abnehmende Kontakt zur Arbeiterbewegung und die rasante Verbreitung der „Marxschen Schule“, welche nun auch in den romanischen Ländern Europas nicht mehr zu übersehen war, versetzte die anarchistische Bewegung in immer größere Ratlosigkeit und Verzweiflung, welche ihren Ausdruck in immer wirkungsloseren und kurzsichtigeren Aktionen fand.
Dem russischen Anarchisten Peter A. Kropotkin kam zu Anfang wohl die größte Bedeutung zu, was die Verbreitung dieser Aktionsform betrifft. Während sich Bakunin relativ schnell wieder von der Befürwortung des Terrors abließ, kam bei Kropotkin diesem von ihm als „Propaganda durch die Tat“ bezeichneten Vorhaben größere Bedeutung zu als bspw. der inhaltlichen Auseinandersetzung oder der theoretischen Überzeugungsarbeit. Wenngleich er die Wirkung kleinerer Anschläge zunächst völlig falsch und übertrieben positiv einschätzte, so revidierte auch er später seine Ansichten und war maßgeblich an der Weiterentwicklung anarchistischer Theorie und Praxis beteiligt, welche dem Anarchismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder aus der Patsche helfen sollten.

3.5. Peter A. Kropotkin (1842 – 1921) – Anarcho-Kommunismus und –Syndikalismus*

Hart trainieren und sich sorgfältig auf die Abwehr eines Angriffskrieges vorbereiten (1978), 38.2k
Hart trainieren und sich sorgfältig auf die Abwehr eines Angriffskrieges vorbereiten (1978)
Bevor ich auf jene Neuerungen in der anarchistischen Theorie zu sprechen komme, will ich zunächst Kropotkins Menschen- und Gesellschaftsbild etwas näher erläutern. Ihm kommt deswegen eine besondere Bedeutung zu, weil er sich, im Gegensatz zu den sonst eher spekulativen Äußerungen anderer Anarchisten, die Bestimmung des menschlichen Wesens zu einer Aufgabe machte, die mit wissenschaftlichen Mitteln und Studien gemeistert werden sollte.
Wie ich im ersten Teil dieser Einführung schon erwähnte, gehen so gut wie alle Anarchisten davon aus, dass sich die Menschen prinzipiell von Natur aus solidarisch und hilfsbereit zueinander benehmen und nur von den bestehenden Strukturen der autoritär-staatlichen Macht und der ungleichmäßigen Eigentumsverteilung daran gehindert werden, sich entsprechend ihrer natürlichen Veranlagungen zu verhalten. Dieser in vereinfachter Form auch schon bei Bakunin auftauchende Gedanke, wird von Kropotkin zu einer eigenen Anthropologie, bzw. zur „wissenschaftlichen Ethik“ ausformuliert und steht gewissermaßen der liberalistischen Auffassung entgegen, dass die Gesellschaft nur ein weiterer Schauplatz des naturgemäßen Kampfes „Jeder gegen Jeden“ sei. Dem Liberalismus dient diese Begründung erstens, um zu behaupten, dass die Konkurrenz der Menschen untereinander auf dem Schlachtfeld des Marktes ihren Veranlagungen entspreche und zweitens, um die angebliche Notwendigkeit einer staatlichen Regulation zu begründen, welche den raubtierähnlichen Menschen verbietet, sich gegenseitig in Fetzen zu reißen. Im Allgemeinen verschränkt sich diese Auffassung mit der Verteidigung der darwinistischen Evolutionstheorie, in der die Entwicklung der Natur durch den „Kampf ums Dasein“ begründet wird, bzw. durch eine daher eintretende Auslese, welche den Stärkeren das Überleben ermöglicht und die Schwächeren dem Tod preisgibt.
Kropotkin kritisiert die Behauptungen der Liberalisten zurecht, indem er ihre scheinbar natürlichen Bestimmungen als geschichtlich nur für den Kapitalismus geltend entlarvt, da ja in seiner geradezu menschenfeindlichen Gesellschaftsorganisation die Menschen tatsächlich darauf angewiesen sind, ihr Eigeninteresse rigoros gegen alles Andere durchzusetzen, wenn sie ihr Überleben garantieren wollen. Zwar erkennt Kropotkin diese Verallgemeinerung gesellschaftlich-historischer Zustände, jedoch bemüht er sich, mit positiver Berufung auf das darwinistische Evolutionsmodell, eine eigene „naturgemäße“ Gesellschaftsform für die Menschheit zu begründen bzw. ebenso wie Bakunin den früher oder später eintretenden geschichtlichen Triumph einer solidarischen und freiheitlichen Gesellschaft zu prophezeien.
Vor allem in dem Buch „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ versucht er durch zahlreiche Studien der Natur und des menschlichen Verhaltens zu beweisen, dass der „Kampf ums Dasein“ zwar eine nicht zu leugnende Konstante in der Entwicklung von Tier und Mensch sei, dass aber dieser Kampf vorwiegend gegen die natürliche Umwelt bzw. gegen andere Lebensformen und meist nicht gegen Artgenossen ausgerichtet ist. Außerdem gilt Kropotkins Interesse dem Nachweis, dass sich im Zuge dieses Überlebenskampfs nicht nur der Trieb zur individuellen Selbstbehauptung herausgebildet habe, sondern v.a. auch eine Art „Geselligkeits- bzw. Solidaritätstrieb“, welcher den Lebewesen ermöglichte, die Hürden des Überlebenskampfs kollektiv und somit erfolgreicher zu meistern. Nach Kropotkin ist gegenseitige Hilfe ein „Instinkt, der sich langsam bei Tieren und Menschen im Verlauf einer außerordentlich langen Entwicklung ausgebildet hat und der Mensch und Tier gelehrt hat, welche Stärke sie durch die Betätigung Gegenseitiger Hilfe gewinnen und welche Freuden sie im sozialen Leben finden können“.(19)
So wissenschaftlich richtig diese Beobachtungen auch sein mögen, so richtig auch die Ablehnung des liberalistischen Gesellschaftsmodells ist; Kropotkin unterscheidet sich in der weiteren Argumentation rein methodisch kaum von seinen Gegenspielern im Liberalismus oder Staatssozialismus. Den Faden, welchen er durch die Entwicklung der Natur zieht, spinnt er unverändert durch die Entwicklung der Gesellschaft weiter. Ebenso wie er in der Natur die individuelle Selbstbehauptung der kollektiven gegenüberstellt, so identifiziert er damit zwei Strömungen in der Geschichte der Menschheit, von denen die eine durch Selbstregulation, Freiheit und gegenseitiger Solidarität, die andere von Ausbeutung und Herrschaft gekennzeichnet ist: „Durch die gesamte Geschichte unserer Kultur ziehen sich zwei Traditionen, zwei entgegengesetzte Strömungen; die römische Tradition und die volkstümliche, die kaiserliche Tradition und die eidgenössische, die autoritäre Tradition und die freiheitliche. [...] Wir schließen uns jener Strömung an, welche im zwölften Jahrhundert die Menschen antrieb, sich zu organisieren auf der Grundlage der freien Vereinbarung des einzelnen, der freien Föderation der Interessenten“.(20)
Wenn man einmal in der Natur jenen siegreichen „Geselligkeitstrieb“ gefunden zu haben glaubt und mit ihm eine Entwicklung in der menschlichen Kultur gleichsetzt, so ist es natürlich nicht weit her, mit der Prophezeiung ihres Siegs im Laufe der Geschichte. Kropotkin vertraut blind den angeblichen Fähigkeiten zur Selbstorganisation von Bauern und Arbeitern und steht in seinen Zukunftsprognosen denen von Bakunin sehr nahe.(21) Seine Kritik an Darwin und seinen Anhängern ist daher auch prinzipiell gar keine, da er den „Kampf ums Dasein“ nur besser beschreibt und eine zweite Waffe der Lebewesen postuliert. Die Argumentationsweise Kropotkins, mit Naturbeobachtungen die Verhaltensweisen von Menschen oder gar deren Zukunft zu bestimmen, unterscheidet sich keinen Deut von den Anhängern des Sozialdarwinismus, mit dem kleinen Unterschied, dass Darwin den menschlichen Egoismus und Kropotkin die menschliche Solidarität wissenschaftlich beweisen und als für immer geltende Konstante begründen wollte. Beide begehen den gleichen Fehler, wenn sie die Grenzen zwischen Mensch und Tier derart verwischen. So ist der Mensch zwar aus Fleisch und Blut und muss ebenso atmen, essen, trinken und sich fortpflanzen wie jede andere Lebensform auch – er ist in dieser Hinsicht also völlig ein Wesen der Natur – jedoch lebt und lernt der Mensch in der Gesellschaft und nicht in der Natur. Sein Bewusstsein, seine Fähigkeiten zur sprachlichen Verständigung und zum abstrakten Denken, seine vielfältigen Emotionen usw. sind nicht mehr nur durch objektive Gesetzmäßigkeiten einer natürlichen Umgebung zu erklären. Vielmehr werden sie durch das Aufwachsen in menschlicher Gesellschaft von Geburt an individuell geprägt und herausgebildet und sind somit ebenso veränderbar wie die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Das bedeutet zum einen, dass es keinerlei Grund gibt, dem Menschen auf Ewigkeiten ein einseitig egoistisches Wesen und daher Rücksichtslosigkeit im Umgang mit Artgenossen zu unterstellen, zum anderen heißt dies aber auch, dass es keinerlei Naturgesetz und daher auch keine absolute Notwendigkeit gibt, welche zwangsläufig auf eine positive Veränderung der Gesellschaft hinausläuft. Eine freie und solidarische Vereinigung von Menschen, welche das Individuum und sein Eigeninteresse nicht sanktioniert, sondern die Befriedigung seiner Bedürfnisse zur obersten Prämisse erklärt, ist zwar wünschenswert, jedoch ist es völlig absurd, solch eine freie Gesellschaft zwangsläufig an das Ende der Geschichte zu stellen oder gar – mit leichtem Hang zur Religiosität – an diese Entwicklung „zu glauben“. Ob jene Gesellschaftsform eintritt ist einzig und allein abhängig vom Engagement der Leute, die nach ihr streben – und natürlich von ihrer Anzahl.

Arthur

Ende von Teil 2. Teil 3 wird fortgesetzt mit den Theorien Kropotkins. Weiterhin wird sich der letzte Teil dieser Einführung mit der Rolle des Anarchismus im 20. Jahrhundert beschäftigen und noch einmal eine generelle Betrachtung des Anarchismus, also eine allgemeine Kritik ebenso wie die Benennung seiner Vorzüge beinhalten.

Fußnoten

(1) Auch für den Zweiten Teil der verschriftlichten Version gilt, dass der Stoff, welcher im Vortrag referiert wurde, hier nicht in gleichem Umfang wiedergegeben werden kann. Die am meisten gekürzten Punkte sind erneut mit einem * gekennzeichnet. Längere Versionen beider Teile werden nach Erscheinen des dritten Teils im nächsten CEE IEH auf der Website von Tomorrow (tomorrow.de.ms) veröffentlicht.
(2) M. Bakunin, zit. nach Cantzen, R.: Weniger Staat – Mehr Gesellschaft, Grafenau 1995, S. 223
(3) M. Bakunin, Gott und der Staat, Grafenau 1995, S. 135f.
(4) wie Fußnote 2, S. 83
(5) Vgl. Fußnote 5 des ersten Teils dieser Einführung in CEE IEH #123
(6) M. Bakunin, Die revolutionäre Frage. Föderalismus – Sozialismus – Antitheologismus, Münster 2000, S.125
(7) Vgl. ebenda S. 57
(8) a.a.O.
(9) z.B. folgende Passage: „Die Geschichte erscheint uns dann als die revolutionäre Verneinung der Vergangenheit [...] Sie besteht in der fortschreitenden Verneinung der ursprünglichen tierischen Natur des Menschen durch die Entwicklung seiner Menschlichkeit. Der Mensch, ein wildes Tier, ein Verwandter des Gorilla, ging von der tiefsten Nacht des tierischen Instinkts aus, um zum Licht des Geistes zu gelangen [...] Von der tierischen Sklaverei ausgehend, durchschritt er die göttliche Sklaverei, einen Zwischenzustand zwischen seiner Tierheit und Menschlichkeit, und heute schreitet er zur Eroberung und Verwirklichung seiner menschlichen Freiheit.“ (Quelle wie Fußnote 3, S. 55)
(10) „ich zögere nicht, zu sagen, daß der Staat das Übel ist, aber ein geschichtlich notwendiges, ebenso notwendig in der Vergangenheit wie es früher oder später seine vollständige Vernichtung sein wird, ebenso notwendig, wie die anfänglich tierische Natur und die theologischen Verirrungen des Menschen.“ ebenda, S. 135
(11) Vgl. Brief an Herzen in Stuke H. (Hg.), Staatlichkeit und Anarchie, Frankfurt, Berlin, Wien 1979, S. 736
(12) Quelle wie Fußnote 3, S. 83
(13) Vgl. ebenda S. 90
(14) Vgl. Quelle wie in Fußnote 2, S. 84
(15) Nur ein kleines Zitat aus der Einleitung: „Herr Proudhon genießt das Unglück auf eigentümliche Art verkannt zu werden. In Frankreich hat er das Recht, ein schlechter Ökonom zu sein, weil man ihn für einen tüchtigen deutschen Philosophen hält; in Deutschland dagegen darf er ein schlechter Philosoph sein, weil er für einen der stärksten französischen Ökonomen gilt. In unserer Doppeleigenschaft als Deutscher und Ökonom sehen wir uns veranlasst, gegen diesen doppelten Irrtum Protest einzulegen.“ (Karl Marx, Vorrede zu „Elend der Philosophie“)
(16) Die Internationale war der erste weltweite Zusammenschluss verschiedener Arbeiterbewegungen. Die Anhänger Proudhons, welche ja eher die Selbstorganisation predigten, waren dort weniger vertreten als die Anhängerschaft Bakunins, denen schon eher an revolutionären Menschenmassen und dem offenen Klassenkampf gelegen war.
(17) Joll, James: Die Anarchisten, Frankfurt/M und Berlin, 1968, S. 74
(18) So wurde auf dem Parteitag der SPD in St. Gallen 1887, dem eine Reihe von Terrorakten vorausgegangen war, die Verurteilung „anarchistischer Gewaltpolitik“ und die völlige Unvereinbarkeit der SPD-Standpunkte mit anarchistischen Positionen, „soweit dieselbe die absolute Autonomie des Individuums erstrebt“ in einer Resolution festgehalten. (Vgl. Quelle wie in Fußnote 2, S. 54)
(19) Kropotkin, Peter A.: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Berlin 1975, S. VIII
(20) Kropotkin, Peter A.: Der Staat, Aufsatzsammlung Band II, Frankfurt ohne Jahreszahl, S. 44
(21) „Und also kann der auf dem Standpunkt der wissenschaftlichen realistischen Ethik beharrende Mensch nicht nur an einen sittlichen Fortschritt glauben, sondern er kann auch diesen Glauben wissenschaftlich begründen, ungeachtet aller ihm verabreichten pessimistischen Lehren; er sieht, daß der Glaube an den Fortschritt [...] von der wissenschaftlichen Erkenntnis bestätigt wird.“ (Kropotkin, Peter A.: Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten, Berlin 1976, S. 28)

home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[125][<<][>>][top]

last modified: 28.3.2007