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Total positiv und kritisch.


Über die Grenzen der (Kritischen) Analyse diskursiver Praxis.

Kaum verklungen sind die Elogen des vergangenen Jahres, da sich der Todestag Michel Foucaults zum 20. Mal jährte, schon naht dessen 80. Geburtstag im Herbst des kommenden Jahres. Wir befinden uns also zwischen den Jahren. Anlässlich des fehlenden Anlasses an dieser Stelle einige Anmerkungen zu Foucault und seiner Rezeption in der Kritischen Diskursanalyse.
Von Marius Bar


Die antihegelianische, teils antimarxistische Orientierung der Linken spätestens seit den 1990er Jahren verdankt sich auch dem Zusammenbruch des Realsozialismus. Schließlich versprach sie eine Fortsetzung kritischer Praxis, die weniger auf der Kritik des gesellschaftlichen Ganzen denn auf einer Vorstellung von vielfältiger lokaler Subversion, welche durch die „Aussaat der Widerstandspunkte quer durch die gesellschaftlichen Schichtungen und die individuellen Einheiten“ (Foucault 1983: 118) ermöglicht wird. Insofern bestätigt hier Johannes Agnoli als Ausnahme die Regel, da er noch 1989/1990 in seiner Bestimmung von Subversion (mit Blick auf die Etymologie des Wortes)(1) emphatisch Bezug nahm auf den Marxschen kategorischen Imperativ, dem zufolge es gilt, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1: 385). Als notwendige Maulwurfsarbeit „in der schwierigen Zeit des Überwinterns“ (Agnoli 1996: 226) ist Subversion demnach, obschon nicht die Revolution selbst, so doch auf die Möglichkeit von Revolution ausgerichtet.
Ansonsten jedoch dominierte seit den 1980er Jahren das Subversionskonzept der sogenannten Pop- bzw. Kulturlinken, die sich zunächst vor allem der kommunikativen Komplizierung ästhetischer Praxis, später (unter kritischem Rückgriff auf US-amerikanische Debatten um political correctness) insbesondere einer veränderten Repräsentation von Minoritäten verschrieb, mithin auf der Ebene der symbolischen Politik verblieb. Eine kritische Auseinandersetzung innerhalb dieses Spektrums infolge der Integration der Subversionsstrategien in den Mainstream führte schließlich dazu, die Notwendigkeit zu betonen, an den „sozialen und institutionellen Praxen etwas zu verändern“ (Holert / Terkessidis 1996:19). Nichtsdestoweniger bilden die französischen Poststrukturalisten um Gilles Deleuze, Jacques Derrida und vor allem Michel Foucault weiterhin zentrale Referenzpunkte sowohl derjenigen, die aus der Pop- oder Kulturlinken heraus mittlerweile über die Symbolpolitik hinausgegangen sind, wie auch einer Cultural-Studies-affinen Linken, die die Bemühungen um Repräsentationspolitik inzwischen in den akademischen Bereich überführt hat.

Rote Herzen werden in stürmischen Fluten gekühlt, 47.3k
Rote Herzen werden in stürmischen Fluten gekühlt
Kritische Theorie auf der Höhe der Zeit?

Erstaunen mag, dass die Poststrukturalismus genannte Linie der Theoriebildung von ihren FürsprecherInnen als Weiterentwicklung der Kritischen Theorie begriffen wird.(2) So sehen die HerausgeberInnen des Bandes Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Theoretische Lockerungsübungen im Poststrukturalismus „eine Kritische Theorie der Gesellschaft auf der Höhe der Zeit.“ (jour-fixe-initiative berlin 1999: 5). Schließlich kann sich, wer Michel Foucault mit der Kritischen Theorie zu versöhnen gedenkt, sogar auf Foucault selbst berufen. Indem er sich des „Problems der Aufklärung, das vielleicht das Hauptproblem der modernen Philosophie ist“, annimmt, sieht sich Foucault „in eine Position der Brüderlichkeit gegenüber der Frankfurter Schule“ (Foucault 1992: 25) gesetzt. Dazu löst Foucault deren Verbindung zur Marxschen Kritik der politischen Ökonomie und bezieht sich stattdessen auf einen „Strom des Denkens [...] von Max Weber zur Kritischen Theorie“, dem sich „dieselben Fragen nach der Geschichte der Vernunft, nach der Herrschaft der Vernunft, nach den verschiedenen Formen der Ausübung dieser Herrschaft der Vernunft“ (Foucault / Raulet 1983: 24) stellten, und wundert sich über „ein merkwürdiges Problem der Undurchlässigkeit […] zweier Denkformen, die einander sehr nahe waren.“ (Foucault / Raulet 1983: 24). Zur Begründung der Undurchlässigkeit führt Foucault ausgerechnet diese Nähe an: „Nichts verbirgt ein gemeinschaftliches Problem mehr als zwei verwandte Weisen, es in Angriff zu nehmen.“ (Foucault / Raulet 1983: 24). Doch worin liegt die Undurchlässigkeit tatsächlich begründet ? Angesichts der Unvernunft der vermeintlich vernünftigen Vergesellschaftung hielt Foucault, anders als Marx und, wie verzweifelt auch immer, Adorno und Horkheimer, nicht an der Vernunft fest, sondern denunzierte einzig Vernunft als das, was der Produktion je historisch verschiedener Zwangsverhältnisse gedient hat. Nun führt diese Denunziation der Vernunft nicht zwangsläufig in die Barbarei, hat dieser aber bestenfalls individuellen Rückzug und moralische Politik entgegenzusetzen. Statt einen blinden Vergesellschaftungsprozess und dessen geistige Reproduktion zu entmystifizieren, betreibt Foucaults scheinbar fundamentale Kritik selbst die Mystifikation der zweiten Natur.

Wahrheit – Subjekt – Ökonomie

Um die fundamentalen Differenzen zwischen Foucaults Poststrukturalismus und Kritischer Theorie aufzuzeigen, kann eine Anmerkung Foucaults zu einem nicht näher bestimmten marxistischen Ideologiebegriff als Ausgangspunkt dienen: „Der Begriff der Ideologie scheint mir aus dreierlei Gründen schwierig zu verwenden zu sein. Als erstes steht er immer, ob man will oder nicht, in einem potentiellen Gegensatz zu etwas, was Wahrheit wäre. Nun glaube ich aber, dass das Problem nicht darin besteht, Unterscheidungen herzustellen zwischen dem, was in einem Diskurs von der Wissenschaftlichkeit und von der Wahrheit, und dem, was von etwas anderem abhängt, sondern darin, historisch zu sehen, wie Wahrheitswirkungen im Innern von Diskursen entstehen, die in sich weder wahr noch falsch sind. Der zweite Nachteil ist darin zu sehen, dass sich die Ideologie meiner Meinung nach zwangsläufig auf so etwas wie ein Subjekt bezieht. Und drittens befindet sich die Ideologie in untergeordneter Position in Bezug auf etwas, das ihr gegenüber als ökonomische, materielle usw. Struktur oder Determinante wirksam ist. Aus diesen drei Gründen glaube ich, dass es sich um einen Begriff handelt, der nur mit Vorsicht zu verwenden ist.“ (Foucault 1978: 34). Dreierlei also ist Foucault suspekt: Wahrheit, Subjekt und ökonomische Determination. Nun sitzt Foucault zwar weder dem Schein vollends bewusst handelnder Subjekte noch dem Glauben an überhistorisch gültige Wahrheit auf, leugnet jedoch die Totalität des ökonomischen Zusammenhangs als Unwahrheit des Kapitals. Da bei Foucault der Gesamtzusammenhang, in denen Subjekte unbewusst Objekte ihrer eigenen bewussten Handlungen werden, dunkel bleibt, gibt er das gleichsam notwendig uneingelöste Glücksversprechen bürgerlicher Subjektivität vollends preis. Da Foucault seine ganze Aufmerksamkeit darauf richtet, welche Aussagen in einer bestimmten historischen Konstellation als wahre Aussagen erscheinen, umgeht er das Problem, seinen Wahrheitsbegriff zu entfalten. Äußert sich Foucault allerdings tatsächlich einmal explizit zu Wahrheitskriterien, so verbleibt er in einer – wiewohl ironisch distanzierten – Affirmation der gültigen Verfahren akademischer Wahrheitsproduktion: „Das Problem der Wahrheit dessen, was ich sage, ist für mich ein sehr schwieriges, ja sogar das zentrale Problem. Auf diese Frage habe ich bisher niemals geantwortet. Gleichzeitig benutze ich jedoch ganz klassische Methoden: die Beweisführung oder zumindest das, was in historischen Zusammenhängen als Beweis gelten darf – Verweise auf Texte, Quellen, Autoritäten und die Herstellung von Erklärungstypen. Nichts davon ist originell. Insoweit kann alles, was ich in meinen Büchern sage, verifiziert oder widerlegt werden, nicht anders als bei jedem anderen historischen Buch.“ (Foucault 1996: 28). Auf diese Weise stellt sich Foucault in die Traditionslinie positivistischer Wissenschaft, die sich darauf beschränkt, mittels zahlreicher Einzeldaten die Richtigkeit einer These nachzuweisen. Wiewohl Foucault die Konventionalität der akademischen Beweisführung reflektiert, bestätigt er letztlich den bestehenden gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang durch die Reproduktion der diesem gemäßen Wahrheitskriterien. So fehlt lediglich das explizite Zugeständnis, dass auch seine Aussagen innerhalb einer spezifischen Machtkonstellation einzig und allein Wahrheitswirkungen zu zeitigen vermögen. Dies muss nicht überraschen, wirft aber die Frage auf, inwieweit sich ein solcher Wahrheitsbegriff dem Relativismus entziehen kann. Auch Adorno erkennt, dass darüber, was gesellschaftlich als wahr gilt, nicht „die Evidenz sondern gesellschaftliche Macht“ (Adorno GS 10.2: 578) entscheidet. Allerdings, und hierin ist eine entscheidende Differenz zu Foucault auszumachen, ist Kritischer Theorie ein emphatischer Wahrheitsbegriff unverzichtbar. Wahrheit wird verteidigt gegen Meinung, „die Setzung eines subjektiven, in seinem Wahrheitsgehalt beschränkten Bewusstseins als gültig.“ (Adorno GS 10.2: 574). Indem sie sich gegen Erfahrung abdichtet, tendiert die Meinung zum Wahn. Jedoch ist Meinung nicht einfach zu verwerfen, vielmehr gilt es, „ihre Unwahrheit selbst aus der Wahrheit: aus dem tragenden gesellschaftlichen Verhältnis, schließlich dessen eigener Unwahrheit abzuleiten.“ (Adorno GS 8: 215). Die Unwahrheit des gesellschaftlichen Verhältnisses liegt nach Adorno darin, dass die Beschaffenheit der Subjekte abhängt „von der Objektivität, den Mechanismen, denen sie gehorchen, und die ihren Begriff ausmachen.“ (Adorno GS 8: 216). Somit ist der Wahrheitsbegriff Kritischer Theorie gebunden an die Abschaffung des gesellschaftlichen Verhältnisses, in dem die Subjekte der Objektivität unterworfen sind.(3)

Eine Ära des Aufstiegs (1987), 42.4k
Eine Ära des Aufstiegs (1987)
Foucault sieht in der Subjektkonzeption die fundamentale Differenz zwischen sich und der Kritischen Theorie. Darauf deutet seine Reaktion, als er im Anschluss an eine Würdigung der Kritischen Theorie in einem Interview aufgefordert wurde, darzulegen, was denn nun das Trennende sei: „Schematisch und vorläufig könnte man behaupten, dass die Konzeption des Subjekts, welche die Frankfurter Schule vertrat, eine ziemlich traditionelle, ihrem Wesen nach philosophische war“. Während Foucault sich als Fürsprecher des Fortschritts präsentiert, erscheint der Subjektbezug der Kritischen Theorie im Gegenteil rückwärtsgewandt: „Ich glaube nicht, dass die Frankfurter Schule zugeben könnte, dass wir nicht unsere verlorene Identität wiederzufinden, unsere gefangene Natur zu befreien, unsere fundamentale Wahrheit herauszustellen haben, sondern vielmehr auf etwas ganz anderes zugehen müssen. [...] Nun scheint mir, dass die Vorstellung, die sich die Vertreter der Frankfurter Schule von dieser Erzeugung des Menschen durch den Menschen machten, wesentlich darin bestand, zu meinen, es müsse all das befreit werden, was in einem System, das Rationalität mit Repression verbindet, oder in einem Ausbeutungssystem, das mit einer Klassengesellschaft verbunden ist, den Menschen von seinem eigentlichen Wesen entfremdet hat.“ (Foucault 1996: 83-84). Nicht die Versöhnung von Vernunft und Natur, sondern die einseitige Befreiung menschlicher Natur gilt nach Foucault der Kritischen Theorie als erstrebenswert. Ähnlich krude nimmt sich Foucaults Vorstellung von Ökonomie aus. Nicht nur, dass Foucault in der oben zitierten Aussage von einem denkbar schlichten Basis-Überbau-Schema ausgeht. Bemerkenswert ist zudem, dass Foucault Marx als Ökonomen (miss-)versteht und geflissentlich den Untertitel des Kapital übergeht, indem er von der „Marxsche[n] politische[n] Ökonomie“ (Foucault 1996: 73) spricht. Entsprechend ist für ihn allein die Wissenschaftlichkeit des Marxschen Vorgehens von Belang. So gehorche „der ökonomische Diskurs von Marx den Formationsregeln, die für wissenschaftliche Diskurse im neunzehnten Jahrhundert eigentümlich waren.“ (Foucault 1996: 74). Keine Beachtung findet hingegen bei Foucault der Umstand, dass es Marx, wie er mit Blick auf seine Studien zur Kritik der politischen Ökonomie feststellte, um ‚Kritik durch Darstellung’ ging. Dabei nahm Marx in der Tat die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie auf, um sie allerdings nicht affirmativ zu fixieren, sondern ihren systematischen Zusammenhang aufzuzeigen, um die diesem innewohnende Unvernunft zu denunzieren – was wiederum auf die Dringlichkeit ihrer Abschaffung verweist.

Totalität – Macht – Kritik

Gilles Deleuze stellte in einem Interview Unterschiede zwischen seiner und Foucaults Vorstellung von Gesellschaft dar: „Für mich ist eine Gesellschaft etwas, das unaufhörlich entgleitet. […] Die Gesellschaft ist etwas, das leckt, finanziell, ideologisch, es gibt überall Leckstellen. In der Tat ist es das Problem der Gesellschaft, wie sie sich daran hindern kann, zu lecken. Michel war erstaunt darüber, dass wir trotz all der Mächte, ihrer Heimtücke und Hypokrisie, immer noch fertig bringen zu widerstehen. Ich bin im Gegenteil erstaunt darüber, dass alles leckt und die Regierung es schafft, die Lecks zu stopfen. In gewisser Hinsicht gingen wir dasselbe Problem vom entgegengesetzten Ende aus an. Die Gesellschaft ist wirklich etwas Fließendes – oder noch schlimmer, ein Gas. Für Michel war sie eine Architektur.“ (Deleuze 1996: 87). Angesichts dieser optimistisch registrierten Offenheit (Deleuze) und Widerstandspotentiale (Foucault) mag auch für Foucault (wie Deleuze) gelten, was Adorno für die empirische Sozialforschung (Social Research) feststellte: dass sie die Totalität, da diese ihren Methoden prinzipiell entgleitet, „als ein gewissermaßen metaphysisches Vorurteil ausmerzen möchte“ (Adorno GS 8: 208).
Die von Foucault als Architektur gedachte Gesellschaft ist gekennzeichnet von Machtverhältnissen: „Die Machtbeziehungen verhalten sich zu anderen Typen von Verhältnissen (ökonomischen Prozessen, Erkenntnisrelationen, sexuellen Beziehungen) nicht als etwas Äußeres, sondern sind ihnen immanent.“ (Foucault 1983: 115). Unter Macht versteht Foucault „die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Linien sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung, und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern.“ (Foucault 1983: 113-4). An anderer Stelle stellt Foucault fest, dass Macht weder eine Institution noch eine Struktur oder „die Mächtigkeit einiger Mächtiger“ sei, sondern „der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“ (Foucault 1983: 114). Macht wiederum ist für Foucault untrennbar mit Widerstand verbunden – auf eine Formel gebracht: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“ (Foucault 1983: 116).
Fragwürdig ist jedoch Manfred Dahlmanns Schlussfolgerung zu den politischen Konsequenzen von Foucaults Machtkonzeption: dass es ausreiche, „einen einzigen Knoten aufzulösen, um das Ganze in die Luft zu sprengen“ (Dahlmann 2000: 106). Damit erscheint Foucaults Machtkonstellation in Dahlmanns Darstellung erstaunlich anfällig, während Foucaults Ausführungen eher eine Verschiebung, allenfalls Destabilisierung, keinesfalls aber von einer Sprengung des Ganzen durch die Auflösung eines einzigen Knotens nahe legen. Vielmehr bedarf es in Foucaults Konzeption einer besonderen Konstellation einer Vielzahl von Widerstandspunkten, die innerhalb der gesamten gesellschaftlichen Architektur verstreut sind, um (nicht näher bestimmte) Revolutionen herbeizuführen. Dies ändert jedoch nichts an der Richtigkeit Dahlmanns grundsätzlicher Kritik an Foucaults Gesellschaftskonzept, welches in seiner Verewigung von Macht die Mystifikation des Kapitals betreibt: „Das politische Programm Foucaults für sich genommen, mag es auch noch so nichtssagend sein, ist allerdings kein Einwand gegen die diesem Programm zugrundeliegende Theorie. Eine Theorie ist nicht deshalb verkehrt, weil sie der Praxis keine Auswege aus irgendeiner Misere weisen kann. [...] An jede Theorie wäre, bevor man sich über Praxis unterhalten kann, die Frage zu stellen, ob sie die reale Mystifikation des Kapitals als einem sich selbst setzenden Subjekt kenntlich machen kann. Weil Foucault sich mit dem Machtbegriff den Weg hierzu verbaut, ist sein Konzept gescheitert.“ (Dahlmann 2000: 108). Somit bleibt innerhalb von Diskurstheorie lediglich „der Traum von gütiger, gerechter Herrschaft – nicht der von keiner Herrschaft.“ (Fabian Kettner)
Entsprechend versteht Foucault Kritik als Reflexion und Distanzierung von Wahrheitspolitik. Dabei setzt Foucault eine untrennbare Kopplung von Wahrheit und Machtmechanismen zum Zwecke der Unterwerfung von Individuen voraus. Kritik bezeichnet für Foucault „die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin.“ (Foucault 1992: 12). Auf diese Weise stellt sich Kritik als jeweils individueller Versuch dar, den vorausgesetzten Machtwirkungen zu entrinnen: „Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“ (Foucault 1992: 15). Deutlich zeigen sich die Grenzen von Foucaults Kritikbegriff an anderer Stelle, da Foucault Kritik als „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992: 12) bestimmt und somit lediglich die Perspektive einer Modifizierung von Regierung eröffnet. Offensichtlich ist hierbei die Differenz etwa zu Max Horkheimers Bestimmung von kritischem Verhalten. Zwar ist Horkheimer und Foucault gemein, dass sie nicht auf die Abschaffung einzelner Missstände zielen. Auch ist das kritische Verhalten für Horkheimer gleichsam in die gesellschaftliche Struktur eingelassen – notwendig, als es kein Außen der Totalität gibt. Während jedoch Foucault die Möglichkeit voraussetzt, sich der gesellschaftlichen Unterwerfung – und somit den Missständen – individuell entziehen zu können, sieht Horkheimer die Missstände als „notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft.“ (Horkheimer GS 4: 180). Entsprechend ist so verstandenes kritisches Verhalten „weder seiner bewussten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, dass irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere“ (Horkheimer GS 4: 180), sondern bezogen auf deren Überwindung.

An den Ufern das Yangzi blüht Daqing, 102.9k
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Kritische Diskursanalyse

Michel Foucault und sein Diskurskonzept – „Praktiken [...] die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981: 74) – wurden keineswegs unvermittelt zum zentralen Referenzpunkt linker bzw. linksakademischer Bemühungen. Übersetzungen seiner Schriften wurden bereits seit Ende der 1960er Jahre vom Suhrkamp-Verlag veröffentlicht, der Berliner Merve-Verlag besorgte schon bald Ausgaben mit Interviews, Gesprächen, Vorlesungen und kürzeren Texten. Bereits 1982 setzte sich die Redaktion der kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie um den Literaturwissenschaftler Jürgen Link mit Foucaults Diskurskonzept auseinander. In den 1990er Jahren schließlich wurden Foucaults Überlegungen in linguistisch fundierte Forschungsmethoden überführt, welche unter der Bezeichnung Kritische Diskursanalyse firmieren. Die deutschen Verhältnisse seit den 1990er Jahren wurden aus diskursanalytischer Perspektive insbesondere am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) betrachtet. Neben zahlreichen Einzeluntersuchungen – wie etwa von rassistischem Wissen innerhalb der bundesdeutschen Bevölkerung unter dem Titel Brandsätze (1992) – wurde in einem Band die Methode der Diskursanalyse entfaltet (Jäger 2001). Dabei wird Diskurs begriffen als „artikulatorische Praxis […], die soziale Verhältnisse nicht passiv repräsentiert, sondern diese als Fluß von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit aktiv konstituiert und organisiert.“ (Jäger 2001: 23 – Hervorhebungen im Original, Anm. d. Verf.). Nach dieser Bestimmung erscheint der Diskurs als den gesellschaftlichen Verhältnissen vorgängig wenn nicht gar mit diesen identisch. Um die bei Foucault unterbelichteten Handlungen von Einzelnen mit der Entstehung von Diskurs(en) zu vermitteln, greift Jäger zudem auf die SU-marxistische Tätigkeitstheorie A.N. Leontjews zurück. Der Tätigkeitstheorie kann sich Jäger allerdings nur bedienen, indem er Leontjews „Ausführungen vom widerspiegelungstheoretischen Kopf auf die diskurstheoretischen Füße stellt.“ (Jäger 2001:111). Somit stellt Jäger die willkürliche, wiewohl durch Konvention begrenzte Zuschreibung von Bedeutung durch Subjekte gegen Leontjews Annahme, dass die Bedeutung den Objekten zu entnehmen sei. Anders als Kritischer Theorie geht es Diskursanalyse nicht darum, ausgehend von Begriffen, diese „in der Fühlung“ (Adorno) mit dem Material abwandelnd, eine Sache angemessen zu erfassen. Vielmehr stellt Jäger in aller wünschenswerten Deutlichkeit heraus, dass in Diskurstheorie „das Gegebensein von objektiver ‚Wahrheit’ nicht vorgesehen ist“ (Jäger 2001: 54).
Den Kern des Diskurskonzepts bilden als relativ autonom geltende thematische Diskursstränge – etwa Einwanderung/Flucht/Asyl, Militär, Ökonomie, Frauen, Gesundheit/Krankheit, Soziales (Jäger 2001: 161). Ohne dass sich bemüht würde, den inneren Zusammenhang zwischen diesen Phänomenen aufzuzeigen, werden je spezifische Diskursverschränkungen unterschiedlicher Häufung in Diskursfragmenten (d.h. thematisch zugehörigen Texten bzw. Textteilen) diagnostiziert. Indem auch Ökonomie als relativ autonomer Diskursstrang (und damit gesellschaftlicher Teilbereich) aufgefasst wird, kann die Kritik der politischen Ökonomie zugunsten von Textanalyse verabschiedet werden: „Auch das Kapital von Marx lässt sich – wahrscheinlich entgegen der Annahmen seiner Anhänger und seiner eigenen Intentionen und geschichtsphilosophischen Vorstellungen – annäherungsweise als Analyse eines Diskursstrangs begreifen (nämlich des kapitalistisch geprägten ökonomischen), in dem sich viele Routinen herausgebildet haben, nach denen die Ökonomie funktioniert, ohne dass die Akteure genau ‚wissen’, wieso (und auch die meisten Wirtschaftswissenschaftler nicht). Und es zeigen sich ja auch Abweichungen, Krisen etc., was darauf verweist, daß es sich hierbei nicht um allgemeine Gesetze handelt, sondern um geronnenes Erfahrungswissen, das nicht (restlos) rational ist, sondern auch irrationale Momente enthält, nur teilweise funktionsfähig ist und nur teilweise menschlichen Notwendigkeiten gemäß, nur für Teile der Menschheit in Grenzen und nur kurzfristig nützlich.“ Und wiederum folgt der Auftritt von alten, nichtsdestoweniger obskuren Bekannten: „Dieses System muß größtenteils mit Macht / Mächten ständig stabilisiert und verteidigt werden.“ (Jäger 2001: 212). Verwundern mag nun, dass dem Bestehenden dennoch Einheitlichkeit zugeschrieben wird – wie sonst könnte es ins Wanken geraten? – „Kritik am Bestehenden, selbst wenn sie dazu beiträgt, dieses Bestehende ins Wanken zu bringen, reicht offenbar nicht aus; sie muß Strategien und Pläne erarbeiten und zur Durchsetzung zu verhelfen suchen für das ‚Danach’“ (Jäger 2001: 233). Dunkel bleibt freilich, was das Bestehende abgesehen von einer machtvollen Konstellation je spezifischer Diskursverschränkungen ausmacht. So werden in den Analysen zwar Anpassungszwänge und Ausschlüsse in den Blick genommen, nicht jedoch im Sinne einer „vom Allgemeinen diktierten Differenz des Besonderen vom Allgemeinen“ (Adorno GS 6: 18) – schon deshalb, weil zwischen Allgemeinem und Besonderem ebenso wenig unterschieden wird wie zwischen Wesen und Erscheinung.
Entsprechend greifen auch der Intention nach verdienstvolle empirische Untersuchungen des DISS zu kurz. So verbleibt die Kritik an der deutschen Printmedien-Berichterstattung zum Nahostkonflikt im Band Medienbild Israel (2003) in der Feststellung von problematischen Aspekten der journalistischen Praxis, ohne dass der Versuch unternommen würde, diese auch zu erklären. In der Schlussbetrachtung wird ausdrücklich daran erinnert, dass es „nicht um eine Bewertung oder Kritik […] des Geschehens selber“ gehe, sondern dass Printmedien-Artikel allein „als Bestandteile eines diskursiven Zusammenhangs betrachtet werden, der […] auf individuelles und kollektives Bewusstsein einwirkt.“ (Jäger / Jäger 2003: 331). Somit lassen sich „Vorschläge zur Vermeidung rassistischer und antisemitischer Effekte in der Berichterstattung zum Nahost-Konflikt“ (Jäger / Jäger 2003: 359) formulieren, die – gemäß der Kritik Foucaults an der gesellschaftlichen Wahrheitsproduktion – Deeskalation und Vermeidung von Stereotypen einfordern. Entsprechend werden negative Zuschreibungen ohne Rücksicht auf deren ohnehin geleugneten objektiven Wahrheitsgehalt kritisiert. So wird in der Untersuchung zur Berichterstattung zu dem Selbstmordattentat eines Palästinensers auf eine Diskothek in Tel Aviv am 1. Juni 2001, das 20 Menschen das Leben kostete, die antisemitische Motivation des Attentats, das Ziel, möglichst viele Menschen in dem Land, das den von Antisemitismus Bedrohten Zuflucht bietet, zu töten, ebenso wenig thematisiert wie die Tatsache, dass es sich bei Selbstmordattentaten mitnichten um individuelle Verzweiflungstaten handelt. Konstatiert wird stattdessen, dass „beide Seiten weiterhin sehr negativ gesehen [werden], so dass der Nahe Osten immer wieder als ‚Brandherd’ mit höchstem Konfliktpotential erscheint.“ (Jäger / Jäger 2003: 341). An Foucault orientierte Kritik, welche isoliert antisemitische und rassistische Stereotype in der Nahostberichterstattung in Deutschland fokussiert, bleibt den Unterschieden zwischen Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten und damit letztlich auch der Bedrohung des Lebens von Israelis durch Selbstmordattentate gegenüber gleichgültig. Selbst im Rahmen von Diskursanalyse freilich wäre es möglich, antisemitische Stereotypen in palästinensischen Diskursen nachzuweisen. Diskursanalytisch inkonsequent wäre es jedoch aufgrund der Preisgabe objektiver Wahrheit, einen – wiewohl von Foucault wie auch Jäger über die Kategorie Dispositiv postulierten – Zusammenhang zwischen Diskursen und ihnen entsprechenden nicht-sprachlichen Handlungen herzustellen(4), undenkbar gar, diese im Sinne von Ideologiekritik in ihrem Zusammenhang mit Staat und Kapital zu analysieren. Deutlich erweisen sich in der Unfähigkeit / dem Unwillen, auch den antisemitischen Vernichtungswahn, der sich in den Selbstmordattentaten ausdrückt, zu erfassen, die Grenzen Kritischer Diskursanalyse im Anschluss an Michel Foucault.

Literatur

Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften 6.
Adorno, Theodor W.: Soziologie und empirische Forschung. Gesammelte Schriften 8. S.196-216.
Adorno, Theodor W.: Meinung Wahn Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften 10.2. S.573-594.
Agnoli, Johannes (1996): Subversive Theorie. Freiburg.
Dahlmann, Manfred (2000): Das Rätsel der Macht. Über Michel Foucault. In: Bruhn, Joachim et al. (Hg.): Kritik der Politik. Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag. Freiburg.
Deleuze, Gilles (1996): Sehen und Sprechen. In: Lettre International 32. 86-87.
Demirovic, Alex (1995): Wahrheitspolitik. In: Weigel, Sigrid: Flaschenpost und Postkarte. Korrespondenzen zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus. Wien/Köln/Weimar. 91-116.
Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin.
Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.
Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Bd.1. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M.
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin.
Foucault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Frankfurt a.M.
Foucault, Michel/Raulet, Gerard (1983): Um welchen Preis sagt die Vernunft die Wahrheit. In: Spuren 1/1983. 22-26.
Holert, Tom/Terkessidis, Mark (Hg.) (1996): Mainstream der Minderheiten. Berlin.
Horkheimer, Max (1937): Traditionelle und kritische Theorie. In: Gesammelte Schriften 4. 162-225
Jäger, Siegfried (2001): Kritische Diskursanalyse. Duisburg.
Jäger, Siegfried/Jäger, Margarete (2003): Medienbild Israel. Zwischen Solidarität und Antisemitismus. Münster/Hamburg/London.
jour fixe initiative berlin (Hg.) (1999): Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Theoretische Lockerungsübungen. Berlin/Hamburg.
Kettner, Fabian: Diskurstheorie. http://www.rote-ruhr-uni.com/texte/kettner_diskurstheorie.shtml
Marx, Karl: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosohie. MEW Bd.1. 378-391.
Marx, Karl: Brief an Ferdinand Lassalle, 22.2.1858. MEW Bd. 29. 549-552.

Fußnoten

(1) lat. subvertere – umkehren, umstürzen
(2) In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass – im Unterschied zum deutschsprachigen Gebrauch – vor allem in den USA der Poststrukturalismus der Critical Theory zugerechnet wird. Dies lässt sich u.a. aus Kursprogrammen von Universitäten ersehen.
(3) Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Positionierung von Alex Demirovic, der in seiner vergleichenden Betrachtung zur „Wahrheitspolitik“ Foucaults Positivismus keiner Kritik unterzieht, Adorno und Horkheimer jedoch die Funktionalisierung von Philosophie und Wahrheit „als Medium der Emanzipation“ (Demirovic 1995: 113) vorhält.
(4) Diskursanalytisch kann lediglich konstatiert werden, dass ein bestimmter Zusammenhang zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen diskursiv hergestellt wird.

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last modified: 28.3.2007