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Über die Zwangsehe der Deutschen mit der Demokratie


Dass Deutschland heute ein demokratischer Staat sein würde, war vor gut 60 Jahren ganz und gar nicht absehbar. Die Alliierten befürchteten noch bis nach Kriegsende, die Deutschen würden mit einer Wehrwolfs-Strategie den Kampf gegen die Alliierten im Untergrund unerbittlich weiterführen. Schließlich hatten jene ihren totalen Krieg bis zum bitteren Ende durchgehalten. Doch zum Glück waren die Deutschen durch und durch autoritäre Charaktere und begaben sich dementsprechend demütig, wenn auch mit verhehltem Misstrauen gegen die Besatzer, in die Hände ihrer neuen Herren.
Angesichts der Barbarei, die die Deutschen begangen hatten, war die Aussicht auf deren Re-Zivilisierung nicht unbedingt wahrscheinlich. Der Versuch der Umerziehung zur Demokratie, wie er von den westlichen Alliierten vorangetrieben wurde, war eigentlich ein tollkühnes Unterfangen. Wie sollte es gelingen, einer riesigen Bande von Mördern und antiliberalen Mitläufern ihren nationalsozialistischen Wahnsinn auszutreiben, sie zu halbwegs vernünftigen Menschen umzuformen?
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Die Debatte um diese Frage wurde in den USA schon zwei bis drei Jahre vor Kriegsende begonnen. An ihr beteiligten sich auch etliche der deutschen Emigranten, bspw. Erich Fromm, der an der „Conference on Germany after the War“ teilnahm. Am Ende der Debatte kristallisierte sich als Ziel einer Re-education die Veränderung des deutschen Charakters heraus. Die bürgerlich-demokratischen Werte und Verhaltensweisen sollten den Deutschen anerzogen werden. Diese Umerziehung sollte sich schließlich auf geistiger Ebene durch eine gezielte Umgestaltung der Bereiche Erziehung, Presse und Kultur vollziehen. Damit einhergehend sollte eine Demokratisierung der gesellschaftlichen Institutionen unternommen werden. Eine Entnazifizierung der alten Institutionen, aber auch des Denkens und der Sprache musste dem natürlich vorausgehen. Im Oktober 1944 hielt der amerikanische Präsident Roosevelt in der Foreign Policy Association in New York eine Rede über seine zukünftige Deutschlandpolitik, die die programmatischen Vorstellungen der amerikanischen Regierung umriss. Das deutsche Volk sollte nicht versklavt werden, sich stattdessen seinen Rückweg in die Gesellschaft der friedfertigen Völker verdienen, so Roosevelt. Die Umsetzung dieser Idee gestaltete sich in Roosevelts Augen schwierig: „Das ist ein steiler Weg, den die Deutschen emporklimmen müssen, und wir müssen gewiss dafür sorgen, dass sie bei diesem Anstieg nicht auch noch ihre Schießeisen mit sich schleppen. Diese Bürde müssen wir ihnen abnehmen, und hoffentlich für immer.“
Die Amerikaner hofften, dass die Re-education-Politik in Deutschland von allen vier Besatzungsmächten gemeinsam getragen würde. In den allgemein formulierten Zielsetzungen der Potsdamer Konferenz fand die amerikanische Vorstellung von Re-education schließlich auch ihren Niederschlag, ohne dass der Begriff der Re-education jedoch auftauchte: „Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven. Die Allliierten wollen dem deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wiederaufzubauen.“
In den von den drei Westmächten besetzten Zonen versuchte jede Besatzungsmacht beim Wiederaufbau des deutschen Verwaltungs- und Regierungsapparates möglichst viel von ihren eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Zum Beispiel wollten die Franzosen eine weitgehend dezentralisierte Verfassungsordnung mit starken Länderregierungen, die Amerikaner bemühten sich, die deutsche Verfassung und den Verwaltungsapparat so weit wie möglich ihren eigenen nachzubilden und die Engländer sind noch heute der Ansicht, dass das Grundgesetz der BRD viel von ihnen übernommen habe. Die militärische Besetzung Deutschlands wurde gemeinsam von langer Hand vorbereitet, aber die Pläne für den Wiederaufbau der staatlichen Institutionen hinkten nach. Erst nach Kriegsende begann man untereinander langsam darüber zu diskutieren. Unter den drei westlichen Besatzungsmächten zeigte die amerikanische Militärregierung das größte Interesse an einer Koordinierung. Ohne ihr Drängen und ihr energisches Vorausschreiten wäre der schnelle Fortschritt der deutschen Demokratisierung nicht möglich gewesen.
Die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ der Sowjets sah freilich wesentlich anders aus, als die Demokratisierungsbemühungen der westlichen Allliierten. Unter dem Schlagwort „Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterklasse und der Monopolbourgeoisie“ wurde statt einer Demokratie eine „realsozialistische“ Arbeitsdiktatur errichtet und bürgerlich-demokratische Bestrebungen gleichzeitig bekämpft.

Eine deutsche Aversion

Kann man zwar 60 Jahre nach Kriegsende die Demokratisierung Deutschlands als gelungen bezeichnen, so mag beim genauen Hinsehen so recht keine Freude aufkommen. Nicht nur, weil die deutsche Demokratie ihr Fundament auf einem Keller hat, der einen „Leichenhimalaya“ (Ralph Giordano) in sich birgt, sondern auch, weil die gesamte deutsche Gesellschaft nach wie vor von antiliberalen, antiwestlichen und undemokratischen Vorstellungen, Verhaltensweisen und Tendenzen durchzogen ist.
In seinem 1959 gehaltenen Vortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“ kritisierte Adorno bereits diese destruktiven Tendenzen gegen die Demokratie. Damals drückte sich die deutsche Aversion gegen bürgerlich-demokratische Verhältnisse noch im affirmativ gebrauchten Slogan der „politischen Unreife“ aus. Re-education und Demokratie wurden mit dem Argument abgelehnt, die Deutschen seien schlicht noch nicht „reif“ für sie.
Adorno brachte in seinem Vortrag das Verhältnis der Deutschen zur Demokratie präzise auf den Punkt: „Soviel wird man sagen können, dass das System politischer Demokratie zwar in Deutschland als das akzeptiert wird, was in Amerika a working proposition heißt, als ein Funktionierendes, das bis jetzt Prosperität gestattete oder gar förderte. Aber Demokratie hat nicht derart sich eingebürgert, dass sie die Menschen wirklich als ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen. Sie wird als ein System unter anderen empfunden, so wie wenn man auf einer Musterkarte die Wahl hätte zwischen Kommunismus, Demokratie, Faschismus, Monarchie; nicht aber als identisch mit dem Volk selber, als Ausdruck seiner Mündigkeit. Sie wird eingeschätzt nach dem Erfolg oder Mißerfolg, an dem dann auch die einzelnen Interessen partizipieren, aber nicht als Einheit des eigenen Interesses mit dem Gesamtinteresse“. Diese Analyse ist auch heute noch von nahezu ungebrochener Aktualität. Demokratie und interessengeleitete Politik gelten als eine Sache von „denen da oben“, den Politikern und Konzern-Lobbyisten, die die Demokratie zu ihren Zwecken einzusetzen verstünden. Die demokratische Politikform jedoch als Mittel zu begreifen, um die eigenen Interessen zu realisieren, liegt diesem Denktypus fern. Er möchte vielmehr allumfassend vom Staat umsorgt und angetrieben werden, wobei es ihm nicht allzu wichtig ist, ob der Staat dabei demokratisch ist oder nicht.
Diese demokratiefeindliche Einstellung geht meist mit einem anti-liberalen Reflex einher. Statt des liberalen Streits, der gesellschaftliche Widersprüche anerkennt und sich fortwährend mit ihnen auseinandersetzt, herrscht eine spezifisch deutsche Harmoniesucht vor, die Widersprüche zu deckeln oder einseitig zu lösen versucht.
Dementsprechend werden die Vorteile der Demokratie für selbstverständlich genommen, während man von ihren Nachteilen nichts wissen will. Die negativen Aspekte kapitalistisch-demokratischer Vergesellschaftung werden in dieser anti-liberalen Gesinnung abgespalten und auf all diejenigen projiziert, die sich gerade als Projektionsfläche eignen: Politiker, Manager, die USA oder Israel beispielsweise. „Kapitalistisch“, „umweltzerstörend“ oder „materialistisch“ sind folglich immer die Anderen – allen voran die Amerikaner. Solche antiliberale Gesinnung tritt auch bei den linken Deutschen immer wieder deutlich zutage. Wo der deutsche Linke sich auf die Fahnen geschrieben hat, alles Gute auf einmal zu wollen, muss er dazu notwendig von den Widersprüchen der Realität absehen. Nach seiner Logik ist es so unschwer möglich, etwa sich ernsthaft zu streiten, ohne dass es Ärger gibt, „radikale“ Gesellschaftstheorie zu betreiben, ohne dass es jemandem weh tut, andere zu überzeugen, ohne einzusehen, dass es dazu eines materiellen Stimulus’ bedarf.
Von der anti-liberalen Aversion gegen die Demokratie ist aber noch ein ganz anderer Bevölkerungsteil besonders betroffen: die Ostdeutschen. Gerade sie zeichnen sich durch eine ausgeprägte Demokratieferne aus, die sicherlich auch in der fehlenden Re-education wurzelt. Zum anderen hat die realsozialistische Gesellschaftsordnung auch Spuren hinterlassen, die 15 Jahre nach der Wiedervereinigung noch deutlich sichtbar sind. So ist das Unbehagen an der Demokratie bei den Ostdeutschen noch stärker ausgeprägt als bei den Westdeutschen. Eine Zivilgesellschaft, Anzeichen demokratischer Verfasstheit, ist gerade einmal in Ansätzen und auch nur in größeren Städten vorhanden. Die unverhohlene Sympathie für die ideellen Nachfolgeparteien der NSDAP nimmt so auch nur wenig Wunder.
Versuchte man heute also ein Resümee der Re-education und Demokratisierung in Deutschland zu ziehen, so böte sich die Allegorie einer Zwangsehe an, um das Verhältnis der Deutschen zur Demokratie zu beschreiben: Nur durch die Drohung des großen Bruders aus dem Westen kam die Verheiratung mit der Demokratie einst zustande. Nur mit Widerwillen gingen die Deutschen diese Ehe ein. Auch Zwangsehen haben also in Einzelfällen ihr Gutes. Solange Deutschland jedoch deutsch bleibt, wird es wohl immer den Wunsch in sich tragen, sich des missliebigen Ehepartners zu entledigen.

Rudolf Arnold

Literatur
  • Theodor W. Adorno: GS., Bd. 10.2 Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1997
  • Kyong-Kun Kim: Die Neue Zeitung im Dienste der Reeducation für die deutsche Bevölkerung, München 1974
  • Helmuth Mosberg: Reeducation, München 1991

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last modified: 28.3.2007