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sports, 1.2k

Wut und Lachlust


Ernst Blochs Faschismusanalyse, die insbesondere in dem Buch „Erbschaft dieser Zeit“ (1935) ausgebreitet vorliegt, wartet immer dort mit großer und tiefer Erkenntnis auf, wo Bloch seine Erfahrung nicht durch vulgärmarxistische Theoreme sabotiert. Leider bildet eines dieser Theoreme Blochs Grundthese: „An sich gesehen, unmittelbar, dient der Flimmer- oder Rauschbetrug des Fascismus nur dem Großkapital ...“, erläutert Bloch im Vorwort von „Erbschaft dieser Zeit“. Aber insbesondere Blochs Betrachtungen zum Alltagsleben, d.h. zu Arbeit und Amusement der deutschen Bürger unterliegen glücklicherweise kaum dem Reglement des Arbeiterbewegungsmarxismus und sind somit radikal im wahrsten Sinn des Wortes – der kritische Gedanke zielt gegen das Falsche.
In dem von uns dokumentierten Text Blochs zielt der kritische Gedanke gegen das faschistoide Sport-Amusement der „Erwerbslosen, Kleinbürger und Proleten“ am Vorabend des Dritten Reiches. (Redaktion)


Tanzsport, 25.7k Er wirft sich allerhand schon selber vor. Das Leben ist hart, das Volk braucht Reize. Neu solche, die man aus dem Leben derer zieht, welche es noch schlechter haben. Schön ist bereits, arme Hunde so zu hetzen, wie es die reichen mit einem selber tun. Rohe, auch lachlustige Wut tobt sich dann aus. Gibt die Tritte von oben nach unten weiter.
Findige Köpfe machen das jedem heute möglich. Hier ein Beispiel von unterwegs, es steht (wie bald vielleicht) für mehr. Die Frankfurter Festhalle veranstaltete vierzehn Tage und länger eine sogenannte Internationale Dauer-Marathon-Tanz-Meisterschaft. Die technische Leitung liegt in den Händen einer Kompagnie, zwischen die man nicht geraten möchte. Ross Amusement Co. – klingt wie vom dicken Wallace aus dem Stall gezogen. Etwa 25 Paare haben sich Tag und Nacht, 45 Minuten pro Stunde, in Tanzbewegung zu halten. Die übrigen 15 Minuten sind zum Ausruhen, Austreten, zum Essen oder Schlafen bestimmt. Tänzer, die während der Tanzzeit die Toiletten aufsuchen, erhalten drei Minuten Freizeit, wofür sie während der Ruhepause fünf Minuten weiterzutanzen haben. Die konkurrierenden Paare müssen die Füße während der ganzen Tanzdauer in Bewegung haben; die eine Hand des einen Partners stets auf dem anderen, wie beim Vergnügen, wie im Salon. Da sind nicht die Wohltaten des Sports, sondern sämtliche Paare sollen „ein gesellschaftlich würdiges Aussehen“ bewahren. Die Würde der engen Lackschuhe, der Kragen, der Balltoilette; spanische Stiefel zieht man aus dieser Würde und einen Knebel für verzerrte Gesichter, die dadurch doppelt lustig werden. Sieger der Meisterschaft ist das Paar, welches zuletzt auf dem Tanzparkett zusammenbricht. An die 20 Paare haben bereits umsonst geschafft, manche nach über 300 Stunden Tanz. Sie tragen nichts davon als ein krankes Herz und die Pfiffe der Galerie.
Soeben treten die Paare wieder vor. Taumelnd auf das schreckliche Oval der Tanzfläche, von Aufsehern gestoßen. Im riesigen Saal stehen zwei Zelte, aus Zuchthaus-Leinwand, mit kleinen, blinden Glasfenstern darin. Hierunter verbringen die Tänzer ihre 15 Minuten, seit Wochen, in einer Stinkluft Tag und Nacht, mit blutigen Füßen, Folteraugen und einem Leib aus Blei. RM 1000 erhält von der Direktion derjenige, der nachweist, daß einer der Tänzer oder Tänzerinnen die Ruhezeit von 15 Minuten überschritten hat. Musik, Lautsprecher, humorgewürzte Ansprachen eines Conférencier füllen draußen die Pause aus. Schon brennen Pfiffe ein Loch in die Ruhezeit; die fidelen Tänzer hören es nicht. Sie müssen geschlagen werden, bis sie zu sich kommen; Posaunenstöße vor der Zelttür, ein rasender Saal. Sachte aber geschieht die Auferstehung der Toten, und sie formieren sich, zum alten Trott. Tragen ihre Minne auf die Tanzfläche, gesellschaftlich würdig. Brechende Leiber halten einander, die Hand des einen Partners auf dem blutigen Fleisch des andern. Der Wackeltopf beginnt wieder, aus dem das große Los zu ziehen ist.
Der eine Tänzer bekommt es sicher nicht. Keine RM 1000 nach 20 Tagen Tanz, nicht einmal RM 60, die dem sechsten Sieger zustehen werden, dem Glückspilz. „Sondern Pitou“, sagt der Prospekt, „ist so müde, der Zustand seiner Füße so schlecht, daß er zu jeder Zeit ausscheiden könnte. Seine Partnerin ist vom vielen Ermuntern jetzt auch sehr müde geworden und es ist anzunehmen, daß sie auch bald ausscheiden wird.“ Der Kerl sieht freilich aus, als taumelte er aus der Folterkammer zum Hochgericht; glühende Zangen würden ihn zu sich bringen. So aber fällt sein Kopf herunter, die Augen sind geschlossen, Speichel läuft, die Arme schlenkern oder liegen schwer auf einer armen, blonden, traurigen Partnerin. Eine Goya-Maske ist aus unsäglichem Schlaf gestiegen, mehr noch: Ross Amusement Co. bringt die Materialisation eines Verdammten. In Fetzen hängt die Dunstschicht des Jenseits um ihn, geronnen, weißlich und ekelhaft um ein ergreifendes Leid. Plötzlich wird der Kerl wild, die Schlaffetzen fallen ab, die hinter ihm hergeschleift hatten oder in die er eingehüllt war, reißt sich los und stürmt noch am Ende des Tanzes, ja, während die Musik schon schweigt und die Paare promenieren, mit der Partnerin auf toller Flucht kreuz und quer, nirgendshin, nimmt sie hoch wie ein Tier, mit dem er kämpft, wie ein Brecheisen gegen unsichtbare Feinde, bis er durch das Brüllen des dreitausendköpfigen Saals vollends erwacht und den Schiedsrichter anlächelt, schrecklich und gerettet, als einen Bluthund wenigstens aus dieser Welt. Und die Musik beginnt wieder heitere Weisen, einige Paare tanzen sogar echte Figuren, und die Mädchen sind durchgehend frischer und adretter als die Männer. Aber die Figuren sacken bald wieder zusammen, und wenn die Paare, wie für den letzten Tag vorgesehen, ihre Ruhezeit auf dem Tanzparkett selbst verbringen müssen, wenn dem Publikum „Gelegenheit gegeben wird, zu sehen wie die Tänzer in dieser Zeit schlafen und gepflegt werden“, dann liegen lauter Leichen auf den Hobelspänen dieses Parketts. Die Nummern der Tänzer sind ihnen mit einem Leinwandfetzen unten am rechten Hosenbein angenäht. Das Publikum wird eingeladen, seinen Favoriten die Unterstützung zu geben, die dieselben während des Endkampfs mehr denn je nötig haben. Sacken große Schiffe ab und liegen sie nun da unten, das Wasser füllt alle Räume und strömt mit leichter Bewegung durch: so ist es jedem Totenbeschwörer ein leichtes, sich vorzustellen, wie sich die Leichen der Passagiere im Speisesaal erhoben haben und träumerisch aneinander vorüberschaukeln, immer im Kreis, Paare bildend, Figuren bildend, schaukelnd und nickend, die Herren im Smoking über dem stinkenden Fleisch, die Damen in Abendtoilette und immer im Kreis. Was dort im Wasser, wäre hier in Luft und und aus Holz, wenn die Paare nicht noch lebten und Ross Amusement Co. nicht die Peitsche in Händen hätte, fürs Perpetuum mobile aus Qual.
Die Tänzer haben sich freiwillig dazu verstanden. So freiwillig, wie heute Erwerbslose sind, die vor anderen ihrer Art dies Schauspiel geben. Erwerbslose, Kleinbürger und Proleten füllen zu drei Vierteln den Raum, lassen sich die Marter dort unten als Sport vormachen. Als Sport, der kein anderes Ziel hat als den am längsten hinausgeschobenen Zusammenbruch, keinen anderen Lorbeer als den fürs längste Leiden. Ein Drittel der Wähler sind heute Nazis; hier im Saal dürfte ihrer mehr als die Hälfte tonangebend sein. Wenn nicht der Zahl, so den Instinkten nach, die sie in die Menge gebracht haben. Draußen stehen einige Dutzend mittlerer Autos, die freilich mehr zum Geschäft als zur Gesellschaft gehören dürften. Die „Gesellschaft“ braucht dies trockene Gemetzel noch nicht, sie vermietet nur die Festhalle dazu. Sie hat noch Massen genug unter sich, denen es schlechter geht als ihr und die sie im täglichen Kolosseum ausweiden kann.
Welche Griechen sind wir, die solches Marathon haben, und welche Botschaft, die von ihm gebracht wird. Welche Gemeinheit und langweilige Roheit in diesen Circenses, welche Dummheit und Unwissenheit noch in ihrem langstieligen Titel. Prag und andere Städte sollen Ross Amusement Co. verboten haben; in Deutschland regelt die Polizei den reibungslosen Einlaß. Was die Volksseele hier auskocht, wird man in Kürze nicht schlecht anrichten.

Ernst Bloch

Text entnommen aus: Erbschaft dieser Zeit (Gesamtausgabe, Bd. 4), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, S. 46-49

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last modified: 28.3.2007