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Wir dokumentieren im Folgenden ein Diskussionspapier des BGR Leipzig und des Antifaschistischen Frauenblocks Leipzig für eine bundesweite Anti-Europa-Kampagne.
dokumentation, 1.1k

Die neue Heimat Europa verraten


Keine Kollaboration mit der europäischen Nation. Geschichte wird gemacht. Deutsche Geschichte auf dem Weg nach Europa

Der Tag der Landung der Alliierten in der Normandie, der sogenannte D-Day, jährt sich 2004 zum sechzigsten Mal. Bei den Feierlichkeiten gibt es in diesem Jahr ein Novum: erstmals ist ein deutsches Regierungsoberhaupt zu den zentralen Feierlichkeiten in die Normandie geladen. Es ist abzusehen, dass der Festakt unter Anwesenheit von Bush, Chirac, Blair und Schröder als „Rekonstruktion des Westens“ (J. Fischer) interpretiert werden wird.
Die hierzulande mit großer Genugtuung aufgenomme Einladung des Bundeskanzlers durch den französischen Präsidenten demonstriert in erster Linie die übereinstimmende Interessenskonstellation zwischen Berlin und Paris. Sie ist Ausdruck des Bemühens beider Staaten, unter ihrem besonderen Einfluss eine europäische Großmacht durchzusetzen. Der Festakt in der Normandie ist mit dieser neuen Zusammensetzung der TeilnehmerInnen in erster Linie Bestandteil einer politischen und symbolischen Strategie, eine europäische Großmacht nicht nur mit ökonomischen und machtpolitischen Argumenten zu begründen. Vielmehr soll eine historisch-moralische Legitimation für ein starkes Europa konstituiert werden. Aus dem Zweiten Weltkrieg, der nicht als „deutsches Verbrechen mit universellem Ausmaß“ (Salomon Korn) gesehen, sondern zur europäischen Katastrophe umgedeutet wird, wird die Notwendigkeit für ein geeintes Europa abgeleitet. Somit wird der Zweite Weltkrieg – und damit auch der Holocaust – zu einem Gründungsmythos der Europäischen Union. Symbolisch kann eine Brücke zwischen der Allianz gegen den Nationalsozialismus vor 60 Jahren und heute geschlagen werden. Die Feierlichkeiten zum D-Day betonen aber nicht nur das sicherheitspolitische Allgemeininteresse der kapitalistischen Führungsmächte, welches nach den Anschlägen von Madrid verstärkt in den Vordergrund gerückt ist. Darüber hinaus wird das deutsch-französische Interesse an einem starken Europa, einer zunehmenden Europäisierung und an einer gemeinsamen Geschichte bzw. Geschichtsschreibung verdeutlicht.
Deutschland nutzt diese Gelegenheit, um die Geschichte der deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus, ja die deutsche Nationalgeschichte im Allgemeinen, in einem europäischen Zusammenhang zu entwirklichen. Eine verallgemeinerte Leidenserfahrung ist der Kitt für diese Art der Geschichtsinterpretation, und bewusst wird hierzulande auf Differenzierungen zwischen nationalsozialistischer Wehrmacht und alliierten Truppen verzichtet. Deutsche TäterInnen können so unter die Opfer subsumiert werden, und der gesamte historische Kontext, die Fragen nach den Ursachen, bleiben außen vor.
Befördert wird dies auch durch das Interesse an einer gemeinsamen europäischen Geschichtsschreibung, die eine Schuldabwehr für Deutschland erleichtert. Gerade offizielle Verlautbarungen der EU unterstreichen die gemeinsame Vergangenheit immer wieder, um eine nationale Identität als EuropäerIn konstruieren zu können. Diese Vergangenheitspolitik, an der gerade Deutschland ein großes Interesse hat, ist Teil eines europäischen Prozesses, der als Nationalisierung bezeichnet werden kann. Konstruktionen und Ideologien, die bereits zu Zeiten der Nationalstaatenbildung benötigt wurden, werden nun in Bezug auf einen „Staat Europa“ erneut herangezogen. Der wirtschaftlichen und politischen Integration Europas wird unter anderen über die Konstruktion einer gemeinsamen europäischen Geschichte ein modernisiertes Identifikationsmodell zur Seite gestellt. Sowohl dem Tod deutscher als auch alliierter Soldaten wird ein historischer Sinn zugeschrieben und er dient im Nachhinein etwas Höherem. Die „Debatten-Beiträge“ im Vorfeld des 6. Juni werden sicherlich an europäische Geschichtskonstruktionen anknüpfen, wie sie bereits während des Irakkrieges deutlich geworden sind.

Wenn Schröder in der Normandie Hände schüttelt, wird an dem Ort, wo einst entscheidend zur Niederlage des deutschen Faschismus mit seinem Vernichtungswahn beigetragen wurde, eine Befreiung von der Geschichte zelebriert und das heutige Deutschland wird zu einem normalen, rechtmäßigen Teilnehmer an den Feierlichkeiten. Für Deutschland stellt der Festakt eine Befreiung ganz eigener Art dar. Die Einladung ist ein Erfolg für die rot-grüne Geschichtspolitik – das moderne Deutschland kann sich gerade wegen seiner Geschichte als Antrieb für ein starkes Europa präsentieren. Die Auschwitz-Rhetorik im Vorfeld des Jugoslawienkrieges hatte die Richtung bereits vorgegeben: Geschichte wird nicht vergessen, wie es u.a. Walser verlangte, sondern nutzbar gemacht. Ein Ende dieser perfiden Argumentation, der Legitimierung von außenpolitischen Entscheidungen mit dem Nationalsozialismus und einer aus ihm entstandenen vermeintlichen besonderen Verantwortung Deutschlands, ist nicht abzusehen. Der Aufenthalt in der Normandie ist somit lediglich ein Beispiel für diese Normalisierung. Deutschland wird seine Interessen überall verteidigen oder durchsetzen – in Europa, gegen oder mit den USA und sogar in Israel. Der Einsatz deutscher SoldatInnen in Israel ist eine Optionen, die bekanntlich bereits diskutiert wird. Und immer wird die in einen europäischen Kontext gesetzte deutsche Geschichte herangezogen. Neben einer moralischen Absicherung weltweiter Interventionsbefugnisse dient diese Geschichtspolitik der besonderen Selbstvergewisserung der Deutschen. Als späte SiegerInnen und europäisch geläuterte Opfer der Geschichte ist ein positiver, identitärer Bezug, sei es auf die Heimat, die eigene Region, Nation oder Europa leichter als jemals nach 1945.

Europa einig Vaterland

Die Entwicklung zu einem Nationalstaatsmodell Europa wird auf mehreren Ebenen vorangetrieben. Sowohl in der Wirtschafts-, Sicherheits- und der Außenpolitik läuft eine Europäisierung auf Hochtouren, ideologisch unterfüttert durch Nationalismus und Heimatkonstruktionen. Trotz unterschiedlicher Positionen, Widerstände und Widersprüche zwischen den einzelnen Staaten ist der Integrationsprozess gemeinsamer Konsens.
Nach den Anschlägen von Madrid richteten sich die Aufrufe mancher Regierungschefs und EU-FunktionärInnen an das „europäische Volk“. Dies scheint mehr als pures Lippenbekenntnis zu sein: die Folgen der terroristischen Anschläge treiben die europäische Integration weiter voran. Insbesondere Überlegungen aus Spanien und Polen, die EU-Verfassung – das zentrale Dokument für eine „Nation Europa“ – unter neuen Gesichtspunkten zu verhandeln, aber auch die Erwägung, die Truppen ohne UN-Mandat aus dem Irak abzuziehen, zeigen, dass die Europäisierung auch auf eben noch stockenden Teilbereichen weiter voranschreitet.
Spätestens seit dem Schengener Abkommen und dem Vertrag von Maastricht Anfang der 90er Jahre wird die sicherheits- und außenpolitische Integration intensiviert, z.B. über europäische Polizei, Geheimdienstkoordination, Grenzregime und EU-Militär. Die EU-Osterweiterung wird zum Anlass genommen, Ängste zu schüren, welche als Begründung für einen stärkeren Ausbau der Grenzkontrollen dienen.
Auf keinem Gebiet wurde in den letzten Jahren so viel, so schnell und so unbürokratisch vergemeinschaftet wie in der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik. Sie führt die rassistische AusländerInnenpolitik der Einzelstaaten auf EU-Ebene fort und reproduziert damit auf einer höheren Ebene nationalstaatliche Ein- und Ausschlüsse. EU-Abschottungspolitik wird jedoch zunehmend durch Migrationsmanagement und -kontrolle ergänzt. Ökonomisch verwertbaren MigrantInnen wird – meist nur temporär – eine Tür zum europäischen Arbeitsmarkt geöffnet, wenn es auf diesem wahlweise an Fachkräften oder an BilliglohnarbeiterInnen mangelt. Für die Unerwünschten, die den Nützlichkeitskriterien nicht entsprechen, bleibt Europa jedoch eine Festung. Aktuell werden verstärkt Sicherheitserwägungen als Begründungen für die Verschärfungen des Asylrechts herangezogen – mit der Angst vor Terroranschlägen lässt sich rassistische Politik unkompliziert durchsetzen.
Die reale Politik Europas hat nichts mit emanzipatorischer oder auch nur sozialer Politik zu tun. Das mag wie ein Allgemeinplatz klingen, erscheint uns aber wichtig zu erwähnen, weil es auch in Teilen der Linken Stimmen gibt, die sich positiv auf Europa beziehen. Während Teilbereiche an Europa durchaus kritisiert werden, z.B. Asylpolitik und Sozialabbau, wird Europa trotzdem als Projektionsfläche benutzt, um eine neue Heimat – außerhalb von Deutschland – zu finden. Dabei wird genau das Identifikationsangebot der bürgerlichen Politik angenommen. Eine besondere Bedeutung hat dabei die Präsentation Europas als Alternative zu den USA.

Der Alptraum einer europäischen Weltordnung

Die politischen Differenzen innerhalb Europas, wie sie angesichts des Irakkrieges deutlich geworden sind, bezeugen, dass Europa in vielen Bereichen noch nicht mit einer Stimme sprechen kann. Aber auch wenn der Entwicklungsstand sowie der realpolitische Einfluss einer „Nation Europa“ dem Wunschbild einer den USA auf allen Ebenen ebenbürtigen Weltmacht noch weit hinterherhinkt, sind die darauf ausgerichteten Bestrebungen doch bereits realitätsbildend. Die Politik ist darauf ausgerichtet, im ökonomischen Bereich mit den USA gleichzuziehen bzw. diese zu überholen und auf militärischem Gebiet zumindest unabhängig und eigenständig agieren zu können. Auch wenn gegenwärtig eine direkte Konfrontationen nicht denkbar ist, zeigt die gewollte Konkurrenzsituation bereits Auswirkungen. Im Nahen und Mittleren Osten können Regime und Terrorgruppen auf europäische Duldung und teilweise Unterstützung zählen, die einer Neuordnung der Region nach amerikanischer Vorstellung entgegenstehen. Das zerstörerische Potential dieser alternativen Weltordnungspolitik wird dabei nicht zuletzt durch die Duldung und Unterstützung von AkteurInnen deutlich, die Selbstmordanschläge in Israel unterstützen.
Innerhalb und außerhalb Europas basiert die Vorstellung einer alternativen Weltordnung auf der hasserfüllten Abgrenzung vom amerikanischen „Weltpolizisten“ und vom „Raubtierkapitalismus“. Diese Abgrenzung fungiert als kollektives Bindemittel, welches über die einzelnen europäischen Nationen hinaus Zusammenhalt stiftet. Dabei werden in Europa Traditionen mobilisiert, die den Unterschied zu den USA hervorheben und sich als geeignetes Instrument gegen das zur Zeit herrschende Machtungleichgewicht zwischen der EU und den USA erweisen. Die Verteidigung des Völkerrechts und die deutsche Betonung der Rechte von Volksgruppen, die Mobilisierung sozialer Unterschiede und das Schüren religiöser Konflikte haben sich schon im 20. Jahrhundert als ebenso wirkungsvoll wie verheerend erwiesen. Angesichts der militärischen Unterlegenheit gegenüber den USA zeigt sich heute, dass diese strategischen Traditionen nie abgebrochen sind. Wobei sich die EuropäerInnen trotz der mörderischen Geschichte einer solchen Weltordnungsalternative mit ihren Strategien auch noch kulturell und moralisch erhaben fühlen.
Gerade was die einzelnen Instrumente der Außenpolitik betrifft, kann zwar noch nicht von einer einheitlichen europäischen Außenpolitik gesprochen werden, deutlich ist jedoch, dass die Außenpolitik der EU von Deutschland und Frankreich bestimmt wird. Dabei werden auch traditionelle ideologische Gegensätze überbrückt. Denn Konzepte wie die Volksgruppenpolitik werden gegenwärtig auch von Deutschland nicht als bloßer Selbstzweck verfolgt. Zwar sind solche Vorstellungen innerhalb von Konfliktbewertungen und strategischen Überlegungen immer präsent, ihre aktive Verfolgung bettet sich jedoch in eine kalkulierte Interessenpolitik ein, in der auch der europäische Ausgleich stattfindet. Elemente wie die Volksgruppenpolitik bleiben so auch dann aktuell, wenn ihnen moderne sicherheitsstrategische oder ökonomische Überlegungen den Rang streitig zu machen scheinen.

Zwar steuern weder die Entwicklung einer europäischen Ökonomie noch die Aufrüstungsziele der EU gerade auf einen innerimperialistischen Showdown zu, ideologisch aber wird die Kampfansage bereits formuliert. Das sichert den Rückhalt in der Bevölkerung, denn die positive Identifikation mit Europa basiert auf dieser Feindbildkonstruktion, und die USA sowie Israel gehören zu den zentralen Feindbildern in der europäischen Bevölkerung. Anti-Amerikanismus bildet die emotionale Grundlage für die Zustimmung breiter Bevölkerungskreise und ebenso von Teilen der Linken in Deutschland und anderswo zum Projekt Europa. Ganz offensichtlich wurde dies während des Irakkriegs in der „neuen Friedensbewegung“: Antiamerikanismus war augenblicklich abrufbar und machte das Gefühl, auf einer besseren Seite zu stehen, erst möglich. Der positive Bezug auf ein „soziales Europa“ und die Solidaritätsadressen an die palästinensische Intifada sind als deutliche Kampfansage der europäischen Bevölkerung an die USA und Israel zu verstehen. Das heißt allerdings nicht, dass sich die europäische Identität in der Abgrenzung zu den USA erschöpft. So knüpft sie, beispielsweise den Rassismus betreffend, vielfach an die in den nationalen Identitäten enthaltenen Ausgrenzungen an.

Die Linke als Teil des Problems

In Europa schreiten die Großmachtbestrebungen weiter voran. Und in der Zwischenzeit werden Allianzen mit autoritären Regimes geschlossen, separatistische Volksbewegungen unterstützt oder es wird auch schon mal offensiv die Hilfe beim Kampf gegen den islamistischen Terror im Irak verweigert. Während also die europäische Außenpolitik jeden Anlass bietet, ihr entgegenzutreten, entdeckt die europäische Linke die Interpretationsmuster des Kalten Krieges wieder: die USA als Hauptfeind, der Protest gegen die Amerikanisierung als kulturelles Amalgam und Israel als Speerspitze des Imperialismus und mithin größte Bedrohung für den Frieden auf der Welt. Unter solchen Bedingungen erscheint Al Qaida, wenn nicht als grundsätzlich durch die amerikanisch diktierte Weltordnung legitimiert, so doch als gerechte Geißel, die den Krieg gegen die Unterdrückten ins Herzen der Bestie zurückträgt. Und der inzwischen jeglicher fortschrittlichen Fassade entkleidete palästinensische Kampf für die Vernichtung Israels und die Errichtung eines islamistischen Staates Palästina wird weiter zum sozialen Widerstand gegen eine völkerrechtswidrige Besetzung verklärt. Auf linker Seite werden so die negativen Seiten der alternativen europäischen Weltordnungsphantasien noch gesteigert. Europa erscheint dieser Linken folgerichtig als kleineres Übel und als Chance, dem amerikanischen Hauptfeind entgegentreten zu können.
Wenn Antiamerikanismus und Antisemitismus als wichtige Elemente einer europäischen Identität angesprochen werden, dann weil es sich bei ihnen nicht zuletzt um linke Welterklärungsansätze handelt, die ihren Weg zurück in jenes Massenbewusstsein gefunden haben, aus dem sie ursprünglich stammten. Doch auch weitere Wesensmerkmale in der Legitimation Europas stimmen mit in der Linken gepflegten Vorstellungen überein. So wandelt sich europafreundlicher Antimilitarismus unter den Bedingungen der militärischen Unterlegenheit in das Lob ziviler Konfliktlösungsmodelle. Abgesehen davon, dass sich die Militarisierung der EU-Außenpolitik nichts desto trotz weiter vollzieht, weil die Mehrheit der BefürworterInnen einer europäischen Gegenmacht die Notwendigkeit unabhängiger militärischer Ressourcen einleuchtend finden muss, werden vom antimilitaristischen Lager die Instrumente der europäischen Interessenverfolgung als fortschrittlich verklärt. Dabei sind es nicht zuletzt die Interventionen unterhalb des militärischen Eingreifens, die zur Ausweitung des eigenen Machtbereichs, der Destabilisierung anderer Staaten und für die Durchsetzung der Volksgruppenpolitik genutzt werden. Warum solche Mittel im Gegensatz zu militärischen Interventionen stehen oder auch nur ein kleineres Übel darstellen sollen, bleibt nach der Erfahrung der Zerschlagung Jugoslawiens und den bis heute andauernden Übergriffen der albanischen Volksgruppe auf alle anderen unbegreiflich.
Ähnlich absurd sind die Bezüge auf die Tradition der sozialen Befriedung in Europa, die es gegen die Globalisierung und die für sie angeblich hauptsächlich verantwortliche USA zu verteidigen gälte. Diese Sicht auf Globalisierung verwandelt ihre Kritik zwangsläufig in einen Beitrag zur Restauration des Nationalen, ist der Nationalstaat doch für sie die einzige Instanz, die soziale Standards sichern kann. Europa als modernisiertes nationales Projekt ist deshalb das wirkliche Ziel der Altermondialisation, der „alternativen Globalisierung“. In ihm scheinen die nationalen Grenzen überwunden und zugleich die Rolle des starken Staates erhalten. Dass Europa prinzipiell eine Tradition habe, die sozialer sei als das kapitalistische Modell in den USA, bleibt dabei – egal ob in antiamerikanischer oder proamerikanischer Pose geäußert – ein Mythos. Ihm widerspricht die Politik des New Deal, die in den USA den Sozialstaat einführte, genauso wie der gegenwärtige Abbau sozialstaatlicher Sicherungen, der sich dort und in den europäischen Staaten vollzieht. Die staatliche Sicherung der kapitalistischen Ökonomie, der gerade auch der Sozialstaat dient, ist nicht geeignet, Differenzen zwischen den USA und Europa zu erklären.
Sowohl der Mythos vom „sozialen“ wie auch der vom „zivilen Europa“ gehören zur Verklärung der Politik in der eigenen Heimat, mit der sich das europäische Kollektiv als Konkurrenzmacht konstituiert. Ihm entspricht der Wahn, Europa würde der Welt aufgrund einer höheren kulturellen Qualität des eigenen Strebens zu Zivilität und ewigem Frieden verhelfen. Die Linke vertieft diesen Wahn, denn während auf der Ebene der realen politischen Entscheidungen Faktoren vom gemeinsamen transatlantischen Antiterrorkampf bis zur einflussreich politisch verteidigten Wirtschaftsinterdependenz nicht aufhören, eine Rolle zu spielen, ist sie in ihren Entwürfen einer anderen Welt nicht an solche Überlegungen gebunden.
Ganz folgerichtig bringt eine Linke, die sich auf die alten Welterklärungsmuster stützt, dem modernisierten Nationalstaatsprojekt und der Praxis kapitalistischer Interessenspolitik keinen vernehmbaren Widerstand entgegen, sondern beteiligt sich stattdessen an den Europa gewidmeten Legitimationsdiskursen des gesellschaftlichen Mainstreams. Doch gab es in der Folge der Wiedervereinigung in Deutschland auch schon den Beginn einer anderen Tradition. In den neunziger Jahren ließ sich zumindest für die Radikale Linke die Hoffnung hegen, dass sich Heimat- und Nationenkritik zu einem Standardrepertoire entwickeln würden. Allerdings verlieren diese Erkenntnisse in der konkreten praktischen Orientierung von heute immer mehr an Bedeutung. Selbst dort, wo nationalstaatliche Orientierungen, Antisemitismus und Antiamerikanismus als kennzeichnende Bestandteile der real existierenden Bewegungen analysiert werden, werden von den Antifas der Neunziger heute Bündnisse gegen Globalisierung, Krieg oder Sozialabbau gesucht. Statt über eine deutliche Polarisierung die Position einer radikalen Gesellschaftskritik überhaupt erkennbar zu machen, wirken jene Gruppen in diesen Bündnissen an der Durchsetzung moderner systemaffirmativer Kollektividentitäten mit und werden so, statt zur Vorreiterinnen eines emanzipatorischen Aufbruchs, zu Trägerinnen deutsch-europäischer Ideologien.
Gerade in Deutschland zeigt sich dabei, dass der Bezug auf eine europäische Identität heute die zentrale Klammer zwischen der fortgesetzten Simulation außerparlamentarischer Opposition und dem Hauptstrom nationalstaatlicher Politik ist. So wird ein Großteil der Linken hierzulande zu einem Trittbrettfahrer bei einem Prozess, der Deutschland doppelten Mehrgewinn verspricht. Zum einen scheint über die Schaffung einer europäischen Identität die Modernisierung der Nationalstaatsideologie zu gelingen, welche die Menschen dem flexibilisierenden Verwertungsprozess angepasst an die kapitalistischen Verhältnisse bindet. Darüber hinaus oder besser in diesem Zusammenhang gelingt es Deutschland, die Bedeutung der NS-Verbrechen in bisher nicht gekanntem Ausmaß zu relativieren. Im gesamteuropäischen Erinnern geht die deutsche Schuld verloren und jegliche Ursachenbestimmung verkommt zur Farce.

Jenseits der Bekenntnispolitik

Es ist mit Blick auf die derzeitige Funktion der Friedens- und globalisierungskritischen Bewegungen als Legitimitätsbeschafferinnen für ein deutsch-europäisches Großmachtprojekt und ihre ideologische Verfasstheit heute notwendig, die Kritik an der Linken praktisch werden zu lassen. Doch diese Auseinandersetzung kann nur ein erster Schritt sein. Die Analyse der deutsch-europäischen Großmachtambitionen und der antiamerikanisch/antisemitischen Ideologie, auch außerhalb der Grenzen Europas, ruft nach offensiver Auseinandersetzung durch eine antideutsche und damit notwendigerweise antieuropäisch-kosmopolitische Linke. Der tatsächliche Widerstand gegen Antisemitismus und Antiamerikanismus beschränkt sich bisher weitgehend auf Bekenntnisse. Die Beschäftigung mit der europäischen Realität ist nicht nur ein Vehikel, diesen Bekenntnissen eine Richtung zu geben. Weil sich im transformierenden Europa Antiamerikanismus und Antisemitismus dauerhaft organisieren und beide in der europäischen Identität eine modernisierte Grundlage finden, wird Europa geschichts- und realpolitisch zu einer ebenso dauerhaft zu bekämpfenden Größe.
Die Entwicklung einer Praxis gegen das Projekt einer europäischen Gegenmacht weist dabei über die Beschreibung einer Welt hinaus, in der anti-emanzipatorische Bewegungen die Vorstellung vom ganz Anderen des Kapitalismus genauso dominieren, wie der Kampf der USA und ihrer Verbündeten gegen diese reale Bedrohung das Bild von Freiheit und Emanzipation prägt. Nur in der Auseinandersetzung mit den in und über Europa verfolgten Strategien einer alternativen Weltordnung, nur im offenen Gegensatz zu Antiamerikanismus und Antisemitismus entsteht die Möglichkeit, Emanzipation wieder zu denken.
Das gilt nicht nur für eine antideutsche Linke. Auch für eine antikapitalistische Linke muss es von Interesse sein, die Ablehnung Europas damit zu begründen, dass es sich hierbei um ein modernisiertes Nationalstaatsprojekt handelt. Die herrschende Organisationsform des Kapitalismus wird mit Europa nicht aufgelöst, sondern höchstens Bezugs- und Legitimationsebenen verändert. Auch weiterhin dient die Nation den Interessen des Kapitals, auch weiterhin bleibt sie Rahmen und Begründung für staatliche Unterdrückung, für rassistische Ausschlüsse sowie für die ideologische Nivellierung sozialer Unterschiede. Die vorgestellte und praktizierte Gemeinschaft widerspricht auch im europäischen Rahmen der freien Entfaltung der Menschen. Wie immer diese auch letztendlich aussehen mag, eine europäische Nation wird schon für den Gedanken daran zu einer Grenze, gegen die sich linker Kosmopolitismus wenden sollte.
Die Wirkung des Bezugs auf eine Heimatkonzeption, egal mit welchen Argumentationsmustern er jeweils erfolgt, belegen inzwischen eine ganze Reihe bekannter historischer Vorläufer: von der deutschen Sozialdemokratie bis zur Heimatliebe der Umweltbewegung – am Ende der Orientierung stand nicht mehr die linke Kritik, sondern die Identifikation mit den herrschenden Verhältnissen. Die neue Heimat Europa bildet da keine Ausnahme. So heftig auch die Auseinandersetzungen um ein „soziales Europa“ geführt werden mögen – die emanzipatorische Überwindung des Kapitalismus ist mit dieser Parole bereits ausgeschlossen. Statt einer Radikalisierung des uneinheitlichen Unbehagens an der Entwicklung des Kapitalismus führt der Bezug auf Europa geradewegs in institutionalisierte Interessenvertretung und den Versuch der Neuaushandlung der alten Sozialstaatsübereinkünfte.
Insofern wenden wir uns nicht nur als KritikerInnen nationaler Identität gegen Europa und seine ProtagonistInnen. Als AntikapitalistInnen vertreten wir eine radikale Position, die neben dem Widerspruch zwischen europäischer Sozialstaatsideologie und der neoliberalen Realität auch noch den Zweck der einstigen Klassenkompromisse zu kritisieren weiß. Dieser bestand nicht ausschließlich darin, das schönere Leben möglich zu machen, auch wenn Forderungen individuell natürlich tatsächlich die Verbesserung der Lebenssituation zum Ziel hatten. Vielmehr diente er immer dazu, auch nach Krankheit und Arbeitslosigkeit die Ware Arbeitskraft wieder der Verwertung zuführen zu können und für Ruhe und Ordnung an der Heimatfront, also für die Absicherung des kapitalistischen Betriebsfriedens zu sorgen.

Für eine Linke, die sich weder vom antinationalen und sozialem noch vom zivilen Schein der Europakonzeption, für die es bereits jetzt eine gesellschaftliche Mehrheit gibt, dumm machen lässt, muss es heute darum gehen, gegen den europäisch-antiamerikanischen Konsens Position zu beziehen. Denn es ist sicher, dass Europa kein Projekt emanzipatorischer Veränderungen ist oder sein wird: an keiner Stelle weist es über die Zumutungen kapitalistischer Verhältnisse hinaus. An keiner Stelle verspricht es eine bessere Welt. In der sozialstaatlichen Befriedung von sozialen Widersprüchen, die vermehrt eine ideologische Setzung ohne materielle Entsprechung ist, und der Forderung nach einem „sozialen Europa“ schwingt die Bejahung der Grundlagen der kapitalistischen Organisation und von Staat und Kapital mit. Im Ruf nach einer europäischen Weltordnungspolitik verbergen sich die zivilisatorisch bemäntelten, fatalen Strategien einer Mindermacht, die auf antiemanzipatorische, insbesondere antiamerikanische und antisemitische Kräfte zu setzen bereit ist, um ihre Unterlegenheit auszugleichen. Sich dagegen deutlich zu positionieren, ist unsere Aufgabe.

Links ist da, wo keine Heimat ist.
Keine Nation Europa, kein Deutschland!

BgR Leipzig & Antifaschistischer Frauenblock Leipzig
www.nadir.org/bgr



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last modified: 28.3.2007