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Die Streik-AG


Über die offenbare Befangenheit der Studentenproteste im ideologischen Sumpf der Totalität

Seit dem Herbst vergangenen Jahres finden nicht nur hierzulande Proteste und Streiks von Studierenden an Universitäten, gegen die geplante Einführung von Studiengebühren für das Erststudium und die allgemeine Verteuerung der universitären Ausbildung statt. Auch in Leipzig schmückte man sich bei den bisherigen Aktionen gegen den „Bildungsklau“ – wie es im Studentenprotestjargon heißt – mit dem Pathos des Widerstands und der Alternative zum vorgegebenen Bildungssystem. Jedoch scheint die Studentenschaft weder etwas von der Funktion des Bildungssystems und dessen Einbettung in die gesellschaftliche Wirklichkeit verstanden zu haben, noch kann sie somit diesem wie jener wirklich etwas entgegensetzen. Das Ergebnis der Studentenrevolte ist schon vorprogrammiert: Es wird keins geben.
Aus gesellschaftskritischer Perspektive ergibt sich allerhöchstens das Problem einer weiteren Verfestigung des etablierten Bewusstseins im Denken einiger bislang noch naiver Studenten.
Der an der Leipziger Universität propagierte und durchgeführte „konstruktive Streik“ ist eher zu einem Synonym für eine konformistische Pseudo-Praxis geworden, als dass er ein Sinnbild für eine wahrhaft kritische Auseinandersetzung mit studentischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit wäre. Diese Protestform wurde gewählt, um neben dem Streik trotzdem noch den Universitätsbetrieb ungestört (!) weiterlaufen zu lassen und so am Streik wie auch an der Lehre gleichzeitig teilnehmen zu können. D.h. also: Zusätzlich zum Studiumsstress noch Streikarbeit. Als wäre es nicht schon anstrengend genug, ein Studium pflichtgemäß zu absolvieren, soll der flexible Student von heute – ganz gemäß der gängigen Lebensweise – nicht einfach mal nicht mitmachen, sich seiner Aufgabe und seinen Obliegenheiten verweigern und dafür Muße walten lassen, sondern er soll mehrere Jobs gleichzeitig erledigen.
Neben einer Aversion gegen soviel Arbeitseifer, wird man das Gefühl der Sinn- und Wirkungslosigkeit des ganzen konstruktiven Unternehmens nicht los. Der Protest glich bis dato mehr einem inszenierten Klamauk, als einem widerständigen Streik, der wirkliche Alternativen aufzeigen könnte. Mit öffentlichen Aktionen wie: „Die Bildung geht baden“ – wobei die teilnehmenden Proteststudenten im tiefsten Winter in das umgekippte Gewässer des Pleißegrabens sprangen – oder Aktionen wie: „Wir basteln eine Telefonkette gegen Studiengebühren“ bewies Student eindrucksvoll, wie es um sein Bewusstsein bestellt ist. Der Protest wird angesichts dieser „tollen“ Aktionen und dem dahinterstehenden Mangel an inhaltlicher Brisanz – die sich mit studentischer Reflexionsunfähigkeit paart – ausgehen wie das Hornberger Schießen. Er wird im Sande verlaufen und irgendwann vielleicht noch irgendwelche Soziologiestudenten interessieren, die eine wissenschaftliche Forschungsarbeit schreiben müssen, welche sich dann natürlich ganz wertneutral so wichtigen Fragestellungen widmet wie: „Hat die Erhöhung der Tabaksteuer einen Einfluß auf die Entstehung, die Wirkungen und die Länge von sozialen und politischen Protesten oder nicht?“
Die konstruktiv streikenden Studenten ahnen vermutlich, dass ihnen die Möglichkeit verändernder Praxis verstellt bleiben wird und greifen deshalb zu dem Surrogat des Spektakels. So trugen Studenten in einer öffentlichen Prozession auf dem Augustusplatz in Leipzig „Die Bildung zu Grabe“ und belustigten damit allerhöchstens sich selbst und ein paar ältere Damen, die da gerade rumstanden. So ließ man sich auch gerne als streikender Studi zig mal zur Vollversammlung auf dem Uni-Innenhof – zwecks des Beschlusses sinnfreier Anträge – hin und her scheuchen. Einige Studenten drehten sogar einen Softporno, der dann von allen gesehen werden wollte, denn von solch kreativen Streikbeiträgen könnte man ja später mal im Arbeitsleben seinen Kollegen berichten. Vielleicht spekulieren die Protagonisten dieses Treibens damit, die Zeugnisse ihrer Blödheiten als Referenzen für ihre spätere Bewerbungsmappe benutzen zu können. Nichts scheint zu doof zu sein, dass es nicht als Aktionsform auf die Tagesordnung der Streikkomitees geraten könnte. Die Hauptsache ist, alle machen mit. Bei soviel „UNiMUT“ kann einem eigentlich nur schlecht werden.
Der fleißige, affirmative und spektakulär-langweilige Streik der Studenten ist offensichtlich nicht an der Kritik und Zerstörung der Verhältnisse interessiert, welche erst die derzeitige Krise der Universitäten und des Bildungssektors hervorrufen. Es geht wohl hier eher um die Identifikation mit dem Angreifer und das Bündnis oder die Versöhnung mit der als gut erachteten Autorität Staat. Man möchte sich ausschließlich im Rahmen des Gesetzlichen bewegen und deshalb besteht auch der mutigste Radikalismus darin, eine Art Schauspiel zu inszenieren.
Die Einsicht in eine totale kapitalistische Vergesellschaftung, die ihnen ihre missliche Lage eingebrockt hat, bleibt den Studenten indes verwehrt. Sie tun es dem großen Wissenschaftsbetrieb gleich und zerlegen das zu begreifende Ganze in idealtypische Einzelphänomene und verkennen so den ökonomischen Kontext, in dem Kürzungen und Sparmaßnahmen nun einmal stehen. Auf diese Weise können oder wollen die Studenten keinen Zusammenhang zwischen dem gesamten Produktionsapparat, dessen Zwängen und Notwendigkeiten und ihrer eigenen Lage herstellen. Das kann nur geschehen, wenn man, wie Fourier es schon nannte, in „methodischer Gedankenlosigkeit“, Offensichtliches ignoriert.
Nachdem sich die Wissenschaft schon längst von objektiven Einsichten in die gesellschaftlichen Zusammenhängen verabschiedet hat, ist die heutige, angeblich rebellierende jugendliche geistige Elite dieser Degression schon längst gefolgt. Sobald man den bescheidwisserischen Studenten den Vorschlag macht, mal über die kapitalistische Vergesellschaftung nachzudenken, wird man sofort als Marxist entlarvt und, da sich der Marxismus geschichtlich als falsch erwiesen habe, abgewürgt. Wenn man dann beklagt, doch gar kein Marxist zu sein, und beteuert, mit seinem Einwand lediglich gemeint zu haben, dass Wissenschaft, Staat und kapitalistische Produktionsweise zusammenhängen und es sich lohnen könnte – wenn man schon von freier Bildung redet – über die Vermittlung der drei Instanzen nachzudenken, ist man ja schon vorher kategorisiert und abgestempelt worden und deshalb kommt das Vorgeschlagene nicht in Betracht. Politisch geschulte Studenten erkennen eben, in diskurstheoretischer Manie(r), an den verwendeten Begriffen blitzschnell, ob das Gesagte lebensweltliche Relevanz besitzt. D.h. aber nichts weiter, als dass das von ihnen vertretene Wissen stichhaltig und damit auf Marktfähigkeit geprüft ist. Dieses Wissen wurde ihnen in ihrer geliebten Instanz, in der es noch auf die Überredungskunst des Verkäufers anzukommen scheint, mit „demokratischer Verkäuferideologie“ (Adorno) beigebracht. Der Rest an intellektueller Autonomie, der ihnen geblieben ist, befähigt die jungen Wissenschaftler gerade mal dazu, zwischen den verschiedene Ansätzen zu wählen und mit dem Gewählten dann Wissenschaftspolizei zu spielen.
Die scheinbare und nur vorübergehende Trennung des Studenten von der marktförmigen Apparatur erzeugt in ihm eine solche Angst, dass er sich und dem Ganzen ständig die Nützlichkeit seines Wissens beweisen muss. Deshalb quält den Qualifikationswilligen ständig der Zweifel, ob das, was er studiert, auch das Richtige ist. Eben dieser Zweifel, die Ahnung der eigenen Überflüssigkeit und Ohnmächtigkeit gegenüber dem Ganzen, müsste doch die Aufmerksamkeit des Studenten erheischen. Doch vom vielen wissenschaftlichen Lesen halblind und vom Diskussionslärm schwerhörig, entgeht den protestierenden Studenten, dass die gegenwärtige Krise im universitären Bereich einer unberechenbaren Gesellschaftordnung geschuldet ist, in der von jeder Besonderheit der Menschen abgesehen wird und sie zu bloßen Agenten und Trägern des Warentauschs reduziert werden.
Die Studenten glauben vorwiegend, dass einige „da oben“ ihnen die Bildung nur aus Willkür wegnehmen wollen, und dadurch hoffen sie auf einen Ausweg aus dem Kürzungsdilemma in den Bahnen der vorherrschenden Politik. Nicht einmal die Tatsache, dass eine Partei wie die PDS in einem Bundesland (Sachsen) gegen die Einführung von Studiengebühren ist und in einem anderen Bundesland (Berlin) die geplanten Sparmaßnahmen mit durchführt, macht die Studenten stutzig. Das Augenfällige, dass der Anpassungs- und Rationalisierungsprozess des universitären Geschäfts, ein den Zwängen des gegenwärtigen Kapitalismus und damit der ökonomischen Struktur der Gesellschaft geschuldeter Vorgang ist, kapieren selbst die BWLer unter ihnen nicht. Der Stachel, welcher der Studentenbewegung gerade im Hintern steckt, treibt sie nur dazu, aus dem Bauch heraus Routinen zu vollziehen, anstatt den Kopf einzuschalten und die antrainierten Reflexe und das gesellschaftliche Ganze, welches diese Reflexe produziert, zu hinterfragen. Die Proteststudenten bleiben sowohl theoretisch als auch aktionistisch da stehen, wo sie sich gesellschaftlich befinden: in der Vorbereitung auf die Verwertung. Sie kritisieren weder ihren eigenen jämmerlichen Standpunkt, noch die Verwertung selbst. Sie haben lediglich Angst um ihre Zukunft als Lohnarbeiter. Anstatt den armseligen Charakter ihres vermeintlich sicheren Schicksals anzugreifen – das die zukünftige Reduktion ihres Lebens auf einen spezialisierten Fachidioten ist – affirmieren sie dieses Schicksal blind. Ihrer Meinung nach genügt es, wenn die Kürzungen an den Universitäten ausbleiben und sie sich wieder gänzlich ungehindert wie bisher dem durchrationalisierten Studium widmen können. Ihr Protest wiederholt die abgeschmackten Ideale einer widrigen Gesellschaft. Mit kreativen Lösungsvorschlägen möchte man die Zumutungen konstruktiv mitgestalten. Man akzeptiert dabei, weiterhin an den Fäden der Instanzen zu zappeln und unmündig wie ein Kind behandelt zu werden.
Die Studenten echauffieren sich bei der als kritisch missverstandenen Reproduktion der Gesellschaft lediglich über die von den Oberverwaltern angedrohte Verteuerung der Ausbildung, erneut nicht über die Ausbildung selbst. Eine Ausbildung, die sie als Spezialisierte später einmal in die Lage versetzen wird, weiterhin nur wieder eine Verwaltung der Knappheit betreiben zu können. Dabei müsste Student schon allein in Anbetracht der Masse seinesgleichen und damit der Masse an universitären Abschlüssen klar werden, dass die Aussichten auf einen gutbezahlten Job an der Spitze der Gesellschaft äußerst gering sind und die Chancen auf eine Arbeit, in der man „sich selbst verwirklichen kann“, gleich null. Weit davon entfernt, diesen Zustand anzuklagen, sind die Studenten auf den Mythos des ewigen Fortschreitens hereingefallen und fordern deshalb mehr Bürokratie, Organisation, Unmündigkeit und Autorität in Form eines sie alimentierenden und reglementierenden Staates. Nicht, dass staatliche Alimentierung heutzutage per se schlecht ist, aber die Studenten beweisen durch ihre Organisationswut, wie ernst es ihnen mit der Erreichung eines Zustandes der Unmündigkeit und nicht der freien Bildung ist.
Sicherlich, mit vollem Bauch studiert sich’s besser. Aber das heißt noch lange nicht, dass mit der Garantie von Studiengebührenfreiheit und der Einstellung der Kürzungsprogramme plötzlich alle Studenten freie, selbstbestimmte Individuen sind. Doch so steht es überwiegend in den Konzeptpapieren der Nachwuchspolitiker. Solange, bis aber die hilfswerklerischen Forderungen noch nicht erreicht sind, zeigt man den Verantwortlichen, wie Armutsverwaltung so funktionieren kann, dass auch noch der Ärmste nicht patzig wird. Man beschäftigt und organisiert sich mit soviel zusätzlichem Elan konstruktiv, dass sich selbst die schon bald pensionierten und als Kapitalismuskritiker missverstandenen Kulturrevoluzzer von 68 in den Zeitungen über den lauen Charakter des Streiks beschweren.
Die deutschen Studenten und deren Avantgarde sind weit davon entfernt, auf die Unterwerfung des Bildungssektors unter die Anforderungen des Warensystems zu reflektieren. Deshalb können sie neben Straßentheater und endlosen organisatorischen Hickhack nur noch Lobbypolitik betreiben. Dieses vorerst legitime „Sich-Für-Seine-Eigenen-Interessen-Einsetzen“ verkommt zu allem Übel noch sehr schnell zu einer Debatte für den Standort. Den Aufrufen einiger offizieller politischer Instanzen wie JUSOS oder GEW folgend, argumentiert man hier und da damit, dass es in Zukunft für Deutschland ohne ordentlich ausgebildete Elite schlecht aussieht. Mit dieser positiven Bezugnahme auf die Nation und der eigenen Degradierung zum Diensleistungslieferanten für den deutschen Standort haben die wenigsten Proteststudenten ein Problem. Sie gehen problemlos der Halluzination einer großen deutschen Sozialgemeinschaft auf den Leim.
Die zu einer wirklichen Gegenstimme zum herrschenden System – und somit auch zum Bildungssystem – notwendigen Reflexionen über die Verhältnisse, die ihnen die fetischisierte Produktion vor die Nase setzt, bleiben in den studentischen Protestaufrufen und -beiträgen aus. Die protestierenden Studenten beziehen sich positiv auf das – letzten Endes immer wieder auf den Tauschwert hinauslaufende – universitäre Wissen und verklären dieses als ein zum Widerstand geeignetes Mittel. In ihnen herrscht der Irrglaube, Bildung sei solange „frei“, solange man nichts dafür bezahlen müsse. Aber die vorherrschende akademische Wissenschaft ist nur eine – als ideologiefreie Bildung verkleidete – ideologische Verlängerung des notwendig falschen Bewusstseins der Gesellschaft in die Hörsäale hinein. Die akademische Bildung schafft es aber, von dieser Verlängerung ein großes Stück weit abzulenken, denn die universitäre Wissenschaft entfernt sich scheinbar am weitesten von dem real vorherrschenden Gesetz der Verwertung. Jedoch dient einerseits – wie schon Marx erkannte – die Wissenschaft selbst als Produktivkraft der Arbeit, andererseits stellt sie (die Wissenschaft) sich ihr (der Arbeit) gegenüber und dient zu deren ideologischer Rechtfertigung.
Der Wissenschaftler kann das Konkrete seines Gegenstandes deshalb nicht wahrnehmen, weil er ihn – dem abstrakten Produktionsprozess und dem gängigen Wissenschaftsideal entsprechend – nur als serielles Exemplar seiner Gattung ansieht und bearbeitet. Als Experte kann er mit seinem „methodologischen Scheuklappen“ nicht auf das gesellschaftliche Ganze schauen und sucht deshalb die Lösungen immer nur auf bestimmten Gebieten. Der konstruktiv streikende Jungwissenschaftler vertraut diesem Expertentum und glaubt mit Expertenlösungen seiner Malaise zu entkommen. Er lädt sich Experten zu „Rund um die Uhr“-Vorlesungen ein, um dann AG’s zu gründen, um dann Konzepte erarbeiten zu können, um dann in „Koordinationskomitees“ die Konzepte wiederum aufeinander abstimmen zu können, um dann mit Arbeitskreisen die Konzepte durchsetzen zu können, um dann die Situation verbessern zu können, um dann schließlich von der Politik gesagt zu bekommen, dass es nicht geht. Diese Protestphilosophie hat eigentlich nur Hohn, Spott und eine Nachruf verdient.

Es bleibt die Hoffnung, dass die Pseudostreikenden die Sinnlosigkeit ihrer Unternehmungen endlich einsehen und mit der Kritik an den akademischen Wissenschaften und damit mit der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen beginnen. Dazu müssten sie sich aber nicht wie bisher über die ihrer Bewegung zugrunde liegenden Faktoren hinwegtäuschen, sondern diese erkennen und kritisieren und ihre sinnlose Pseudo-Praxis letzten Endes in Non-Konformismus umwandeln.

Carsten


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last modified: 28.3.2007