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Angesichts des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno hat sich die Redaktion entschlossen, einen seiner mehr als zahlreichen Essays abzudrucken. Der vorliegende Text ist die schriftliche Fassung eines Vortrages, den Adorno am 25.5.1969 im Deutschlandfunk gehalten hat, und wurde erstmals im Rahmen seiner Aufsatzsammlung "Stichworte" veröffentlicht.
dokumentation, 1.1k

Freizeit.


Die Frage nach der Freizeit – was die Menschen mit ihr anfangen, welche Chancen etwa ihre Entwicklung bietet – ist nicht in abstrakter Allgemeinheit zu stellen. Das Wort, übrigens erst jüngeren Ursprungs – früher sagte man Muße, und das war ein Privileg unbeengten Lebens, daher auch dem Inhalt nach wohl etwas qualitativ anderes, Glückvolleres –, weist auf eine spezifische Differenz hin, die von der nicht freien Zeit, von der, welche die Arbeit ausfüllt, und zwar, darf man hinzufügen, die fremdbestimmte. Freizeit ist an ihren Gegensatz gekettet. Dieser Gegensatz, das Verhältnis, in dem sie auftritt, prägt ihr selbst wesentliche Züge ein. Darüber hinaus, weit prinzipieller, wird Freizeit abhängen vom gesellschaftlichen Gesamtzustand. Der aber hält nach wie vor die Menschen unter einem Bann. Weder in ihrer Arbeit noch in ihrem Bewusstsein verfügen sie wirklich frei über sich selbst. Sogar jene konzilianten Soziologien, die den Rollenbegriff als Schlüssel verwenden, erkennen das insofern an, als der dem Theater entlehnte Rollenbegriff darauf hindeutet, dass die den Menschen von der Gesellschaft aufgenötigte Existenz nicht identisch ist mit dem, was sie an sich sind oder was sie sein könnten. Freilich wird man keine einfache Teilung zwischen den Menschen an sich und ihren sogenannten sozialen Rollen vornehmen dürfen. Diese reichen in die Eigenschaften der Menschen selber, ihre innere Zusammensetzung tief hinein. Im Zeitalter wahrhaft beispielloser sozialer Integration fällt es schwer, überhaupt auszumachen, was an den Menschen anders wäre als funktionsbestimmt. Das wiegt schwer für die Frage nach der Freizeit. Es besagt nicht weniger, als dass, selbst wo der Bann sich lockert und die Menschen wenigstens subjektiv überzeugt sind, nach eigenem Willen zu handeln, dieser Wille gemodelt ist von eben dem, was sie in den Stunden ohne Arbeit loswerden wollen. Die Frage, welche dem Phänomen der Freizeit heute gerecht würde, wäre wohl die, was aus ihr bei steigender Produktivität der Arbeit, aber unter fortdauernden Bedingungen von Unfreiheit wird, also unter Produktionsverhältnissen, in welche die Menschen hineingeboren werden und die ihnen heute wie ehemals die Regeln ihres Daseins vorschreiben. Schon jetzt ist die Freizeit überaus angewachsen; dank der wirtschaftlich noch keineswegs voll verwerteten Erfindungen in den Bereichen der Atomenergie und der Automation dürfte sie sich immens erhöhen. Suchte man die Frage ohne ideologische Beteuerungen zu beantworten, so ist unabweislich der Verdacht, Freizeit tendiere zum Gegenteil ihres eigenen Begriffs, werde zu dessen Parodie. In ihr verlängert sich Unfreiheit, den meisten der unfreien Menschen so unbewusst wie ihre Unfreiheit selbst.
Ich möchte, um das Problem zu erläutern, eine geringfügige eigene Erfahrung benutzen. Immer wieder wird man, in Interviews und Erhebungen, danach gefragt, was für ein Hobby man habe. Wenn die illustrierten Zeitungen über einen jener Matadore der Kulturindustrie berichten, von denen zu reden wiederum eine Hauptbeschäftigung der Kulturindustrie ausmacht, so lassen sie es sich selten entgehen, über die Hobbies der Betreffenden mehr oder minder Anheimelndes zu erzählen. Ich erschrecke über die Frage, wenn sie auch mir widerfährt. Ich habe kein Hobby. Nicht dass ich ein Arbeitstier wäre, was nichts anderes mit sich anzufangen wüsste, als sich anzustrengen und zu tun, was es tun muss. Aber mit dem, womit ich mich außerhalb meines offiziellen Berufs abgebe, ist es mir, ohne alle Ausnahme, so ernst, dass mich die Vorstellung, es handele sich um Hobbies, also um Beschäftigungen, in die ich mich sinnlos vernarrt habe, nur um Zeit totzuschlagen, schockierte, hätte nicht meine Erfahrung gegen Manifestationen von Barbarei, die zur Selbstverständlichkeit geworden sind, mich abgehärtet. Musik machen, Musik hören, konzentriert lesen ist ein integrales Moment meines Daseins, das Wort Hobby wäre Hohn darauf. Umgekehrt ist meine Arbeit, die philosophische und soziologische Produktion und das Lehren an der Universität, mir bislang so glückvoll gewesen, dass ich sie nicht in jenen Gegensatz zur Freizeit zu bringen vermöchte, den die gängige messerscharfe Einteilung von den Menschen verlangt. Allerdings bin ich dessen mir bewusst, dass ich als Bevorzugter spreche, mit dem Maß an Zufälligkeit und Schuld, das darin liegt; als einer, der die seltene Chance hatte, seine Arbeit wesentlich nach den eigenen Intentionen auszusuchen und einzurichten. Nicht zuletzt darum steht vorweg das, was ich außerhalb der umzirkelten Arbeitszeit tue, nicht in striktem Gegensatz zu jener. Würde Freizeit wirklich einmal der Zustand, in dem, was einmal Vorrecht war, allen zugute kommt – und etwas davon ist der bürgerlichen Gesellschaft im Vergleich zur feudalen gelungen –, so stellte ich sie mir nach dem Modell dessen vor, was ich an mir selbst beobachte, obwohl dies Modell in veränderten Verhältnissen seinerseits sich änderte. Unterstellt man einmal den Gedanken von Marx, in der bürgerlichen Gesellschaft sei die Arbeitskraft zur Ware geworden und deshalb Arbeit verdinglicht, so läuft der Ausdruck Hobby auf das Paradoxon hinaus, dass jener Zustand, der sich als das Gegenteil von Verdinglichung, als Reservat unmittelbaren Lebens in einem gänzlich vermittelten Gesamtsystem versteht, seinerseits verdinglicht ward gleich der starren Grenze zwischen Arbeit und Freizeit. In dieser setzen sich die Formen des nach dem Profitsystem eingerichteten gesellschaftlichen Lebens fort.
Schon ist die Ironie im Ausdruck Freizeitgeschäft so gründlich vergessen, wie man das show business seriös nimmt. Allbekannt, aber darum nicht weniger wahr, dass spezifische Freizeitphänomene wie der Tourismus und das Camping um des Profits willen angedreht und organisiert werden. Zugleich ist dem Bewusstsein und Unbewusstsein der Menschen der Unterschied von Arbeit und Freizeit als Norm eingebrannt worden. Weil, nach der herrschenden Arbeitsmoral, die von Arbeit freie Zeit die Arbeitskraft wiederherstellen soll, wird die der Arbeit ledige Zeit, gerade weil sie bloßes Anhängsel der Arbeit ist, mit puritanischem Eifer von dieser getrennt. Man stößt hier auf ein Verhaltensschema des bürgerlichen Charakters. Auf der einen Seite soll man bei der Arbeit konzentriert sein, nicht sich zerstreuen, keine Allotria treiben; darauf beruhte einst die Lohnarbeit, und ihre Gebote haben sich verinnerlicht. Andererseits soll die Freizeit, vermutlich damit man danach um so besser arbeiten kann, in nichts an die Arbeit erinnern. Das ist der Grund des Schwachsinns vieler Freizeitbeschäftigungen. Unter der Hand wird freilich die Kontrebande von Verhaltensweisen aus der Arbeit, welche die Menschen nicht loslässt, doch eingeschmuggelt. Auf dem Schulzeugnis des Kindes gab es früher Noten für Aufmerksamkeit. Dem entsprach die subjektiv vielleicht sogar wohlmeinende Sorge der Älteren, die Kinder möchten in der Freizeit nicht zu sehr sich anstrengen: nicht zuviel lesen, abends nicht zu lange das Licht brennen lassen. Insgeheim wittern Eltern dahinter eine Ungebärdigkeit des Geistes, oder auch eine Insistenz auf dem Vergnügen, die mit der rationellen Einteilung der Existenz sich nicht verträgt. Ohnehin ist alles Gemischte, nicht eindeutig, säuberlich Unterschiedene dem herrschenden Geist verdächtig. Straffe Zweiteilung des Lebens preist jene Verdinglichung an, die unterdessen die Freizeit vollständig fast sich unterworfen hat.
Man kann das an der Hobby-Ideologie einfach sich klarmachen. In der Selbstverständlichkeit der Frage, welches Hobby man habe, klingt mit, dass man eines haben müsse; womöglich auch schon eine Auswahl zwischen Hobbies, die übereinstimmt mit dem Angebot des Freizeitgeschäfts. Organisierte Freiheit ist zwangshaft: wehe, wenn du kein Hobby, keine Freizeitbeschäftigung hast; dann bist du ein Streber oder ein altmodischer Mensch, ein Unikum, und verfällst der Lächerlichkeit in der Gesellschaft, welche dir aufdrängt, was deine Freizeit sein soll. Solcher Zwang ist keineswegs nur einer von außen. Er knüpft an die Bedürfnisse der Menschen unter dem funktionalen System an. Camping – in der älteren Jugendbewegung liebte man zu kampieren – war Protest gegen bürgerliche Langeweile und Konvention. Man wollte heraus, im doppelten Sinn. Das Unter-freiem-Himmel-Nächtigen stand ein dafür, dass man dem Haus: der Familie entronnen sei. Dies Bedürfnis ist nach dem Tod der Jugendbewegung von der Campingindustrie aufgegriffen und institutionalisiert worden. Sie könnte die Menschen nicht dazu nötigen, Zelte und Wohnwagen samt ungezählten Hilfsutensilien ihr abzukaufen, verlangte nicht etwas in den Menschen danach; aber deren eigenes Bedürfnis nach Freiheit wird funktionalisiert, vom Geschäft erweitert reproduziert; was sie wollen, nochmals ihnen aufgenötigt. Deshalb gelingt die Integration der Freizeit so reibungslos; die Menschen merken nicht, wie sehr sie dort, wo sie am freiesten sich fühlen, Unfreie sind, weil die Regel solcher Unfreiheit von ihnen abstrahiert ward.
Wird der Begriff der Freizeit, im Unterschied von der Arbeit, so strikt genommen, wie es zumindest einer älteren, heute vielleicht schon überholten Ideologie entspricht, so nimmt sie etwas Nichtiges – Hegel hätte gesagt: Abstraktes – an. Prototyp ist das Verhalten jener, die in der Sonne sich braun braten lassen, nur um der braunen Hautfarbe willen, und obwohl der Zustand des Dösens in der prallen Sonne keineswegs lustvoll ist, möglicherweise physisch unangenehm, gewiss die Menschen geistig inaktiv macht. Der Fetischcharakter der Ware ergreift in der Bräune der Haut, die ja im übrigen ganz hübsch sein kann, die Menschen selber; sie werden sich zu Fetischen. Der Gedanke, dass ein Mädchen, dank seiner braunen Haut, erotisch besonders attraktiv sei, ist wahrscheinlich nur noch eine Rationalisierung. Bräune ist zum Selbstzweck geworden, wichtiger als der Flirt, zu dem sie vielleicht einmal verlocken sollte. Kommen Angestellte aus dem Urlaub zurück, ohne die obligate Farbe sich erworben zu haben, so dürfen sie dessen versichert sein, dass Kollegen spitz fragen: „Sind Sie denn gar nicht in Urlaub gewesen?“ Der Fetischismus, der in der Freizeit gedeiht, unterliegt zusätzlicher sozialer Kontrolle. Dass die Kosmetikindustrie mit ihrer überwältigenden und unausweichlichen Reklame das Ihre dazu beiträgt, ist ebenso selbstverständlich, wie die willfährigen Menschen es verdrängen.
Im Zustand des Dösens kulminiert ein entscheidendes Moment der Freizeit unter den gegenwärtigen Bedingungen: die Langeweile. Unersättlich ist denn auch der hämische Spott über die Wunder, welche Menschen von Ferienreisen und anderen freizeitlichen Ausnahmesituationen sich versprechen, während sie doch, auch hier, aus dem Immergleichen nicht herausgelangen; nicht länger ist es, wie noch für Baudelaires ennui, in weiter Ferne anders. Spott über die Opfer ist den Mechanismen, welche sie dazu machen, regelmäßig gesellt. Schopenhauer formulierte früh eine Theorie über die Langeweile. Seinem metaphysischen Pessimismus gemäß lehrt er, dass entweder die Menschen an der unerfüllten Begierde ihres blinden Willens leiden oder sich langweilen, sobald sie gestillt ist. Die Theorie beschreibt recht gut, was aus der Freizeit der Menschen unter jenen Bedingungen wird, die Kant solche von Heteronomie würde genannt haben und die man im Neudeutschen Fremdbestimmtheit zu nennen pflegt; auch das hochmütige Wort Schopenhauers von den Menschen als Fabrikware der Natur trifft in seinem Zynismus etwas von dem, wozu die Totalität des Warencharakters die Menschen tatsächlich macht. Der zornige Zynismus lässt ihnen immer noch mehr an Ehre widerfahren als weihevolle Beteuerungen, die Menschen hätten einen unverlierbaren Kern. Trotzdem ist die Schopenhauersche Lehre nicht zu hypostasieren, nicht als schlechthin gültig, womöglich als Urbeschaffenheit der Gattung Mensch zu betrachten. Langeweile ist Funktion des Lebens unterm Zwang zur Arbeit und unter der rigorosen Arbeitsteilung. Sie müsste nicht sein. Wann immer das Verhalten in der freien Zeit wahrhaft autonom, von freien Menschen für sich selbst bestimmt ist, stellt Langeweile schwerlich sich ein; dort ebensowenig, wo sie ihrem Glücksverlangen ohne Versagung folgen, wie dort, wo ihre Tätigkeit in der freien Zeit selbst vernünftig als ein an sich Sinnvolles ist. Noch Blödeln braucht nicht stumpf zu sein, kann selig als Dispens von den Selbstkontrollen genossen werden. Vermöchten die Menschen über sich und ihr Leben zu entscheiden; wären sie nicht ins Immergleiche eingespannt, so müssten sie sich nicht langweilen. Langeweile ist der Reflex auf das objektive Grau. Ähnlich verhält es sich mit ihr wie mit der politischen Apathie. Deren triftigster Grund ist das keineswegs unberechtigte Gefühl der Massen, dass sie durch jene Teilnahme an der Politik, für welche die Gesellschaft ihnen Spielraum gewährt, an ihrem Dasein, und zwar in allen Systemen auf der Erde heute, wenig ändern können. Der Zusammenhang zwischen der Politik und ihren eigenen Interessen ist ihnen undurchsichtig, deshalb weichen sie vor der politischen Aktivität zurück. Eng gehört zur Langeweile das berechtigte oder neurotische Gefühl der Ohnmacht: Langeweile ist objektive Verzweiflung. Zugleich aber auch der Ausdruck von Deformationen, welche die gesellschaftliche Gesamtverfassung den Menschen widerfahren lässt. Die wichtigste ist wohl die Diffamierung der Phantasie und deren Schrumpfung. Phantasie wird ebenso als sexuelle Neugier und Verlangen nach Verbotenem beargwöhnt wie vom Geist einer Wissenschaft, die kein Geist mehr ist. Wer sich anpassen will, muss in steigendem Maß auf Phantasie verzichten. Meist kann er sie, verstümmelt von frühkindlicher Erfahrung, gar nicht erst ausbilden. Die gesellschaftlich eingepflanzte und anbefohlene Phantasielosigkeit macht die Menschen in ihrer Freizeit hilflos. Die unverschämte Frage, was denn das Volk mit der vielen Freizeit anfangen solle, die es nun habe – als ob sie ein Almosen wäre und kein Menschenrecht –, beruht darauf. Dass tatsächlich die Menschen mit ihrer freien Zeit so wenig anfangen können, liegt daran, dass ihnen vorweg schon abgeschnitten ist, was ihnen den Zustand der Freiheit lustvoll machte. So lange wurde er ihnen verweigert und verunglimpft, dass sie ihn schon gar nicht mehr mögen. Der Zerstreuung, wegen deren Flachheit sie vom Kulturkonservativismus begönnert oder geschmäht werden, bedürfen sie, um in der Arbeitszeit die Anspannung aufzubringen, welche die vom Kulturkonservativismus verteidigte Einrichtung der Gesellschaft ihnen abverlangt. Nicht zuletzt dadurch sind sie an ihre Arbeit und an das System gekettet, das sie zur Arbeit dressiert, nachdem es dieser weitgehend bereits nicht mehr bedürfte.
Unter den herrschenden Bedingungen wäre es abwegig und töricht, von den Menschen zu erwarten oder zu verlangen, dass sie in ihrer Freizeit etwas Produktives vollbrächten; denn eben Produktivität, die Fähigkeit zum nicht schon Dagewesenen, wird ihnen ausgetrieben. Was sie dann in der Freizeit allenfalls produzieren, ist kaum besser als das ominöse Hobby, die Nachahmung von Gedichten oder Bildern, die, unter der schwer widerruflichen Arbeitsteilung, andere besser herstellen können als die Freizeitler. Was sie schaffen, hat etwas Überflüssiges. Diese Überflüssigkeit teilt sich der minderen Qualität des Hervorgebrachten mit, die wieder die Freude daran vergällt.
Auch die überflüssige und sinnlose Tätigkeit in der Freizeit ist gesellschaftlich integriert. Abermals spielt ein gesellschaftliches Bedürfnis mit. Gewisse Formen der Dienstleistungen, insbesondere die von Hausangestellten, sterben aus, die Nachfrage ist außer Verhältnis zum Angebot. In Amerika können nur noch wirklich Wohlhabende Dienstmädchen sich halten, Europa folgt rasch nach. Das veranlasst viele Menschen, subalterne Tätigkeiten auszuüben, die froher delegiert waren. Daran knüpft die Parole „Do it yourself“, tue es selbst, als praktischer Rat an; allerdings auch an den Überdruss, den die Menschen vor einer Mechanisierung empfinden, die sie entlastet, ohne dass sie – und nicht diese Tatsache ist zu bestreiten, nur ihre gängige Interpretation – Verwendung hätten für die gewonnene Zeit. Deshalb werden sie, wiederum im Interesse von Spezialindustrien, dazu animiert, das selbst zu tun, was andere besser und einfacher für sie tun könnten und was sie zutiefst ihrerseits eben darum verachten müssen. Im übrigen gehört es zu einer sehr alten Schicht des bürgerlichen Bewusstseins, dass man das Geld, das man in der arbeitsteiligen Gesellschaft für Dienstleistungen ausgibt, sparen könne, aus sturem Eigeninteresse blind dagegen, dass das ganze Getriebe sich nur durch den Tausch spezialisierter Fertigkeiten am Leben erhält. Wilhelm Tell, das abscheuliche Urbild einer knorrigen Persönlichkeit, verkündet, dass die Axt im Haus den Zimmermann erspart, wie denn aus Schillers Maximen eine ganze Ontologie des bürgerlichen Bewusstseins sich kompilieren ließe.
Das Do it yourself, ein zeitgemäßer Typus des Verhaltens in der Freizeit, fällt jedoch in einen weit umfassenderen Zusammenhang. Ich habe ihn schon vor mehr als dreißig Jahren als Pseudo-Aktivität bezeichnet. Seitdem hat Pseudo-Aktivität erschreckend sich ausgebreitet, auch und gerade unter solchen, die sich als Protestierende gegen die Gesellschaft fühlen. Man wird allgemein in der Pseudo-Aktivität ein zurückgestautes Bedürfnis nach Änderung der versteinerten Verhältnisse vermuten dürfen. Pseudo-Aktivität ist fehlgeleitete Spontaneität. Fehlgeleitet aber nicht zufällig, sondern weil die Menschen dumpf ahnen, wie schwer sie ändern könnten, was auf ihnen lastet. Lieber lassen sie in scheinhafte, illusionäre Betätigungen, in institutionalisierte Ersatzbefriedigungen sich abdrängen, als dem Bewusstsein sich zu stellen, wie versperrt die Möglichkeit heute ist. Die Pseudo-Aktivitäten sind Fiktionen und Parodien jener Produktivität, welche die Gesellschaft auf der einen Seite unablässig fordert, auf der anderen fesselt und in den Einzelnen gar nicht so sehr wünscht. Produktive Freizeit wäre möglich erst mündigen Menschen, nicht solchen, die unter der Heteronomie auch für sich selber heteronom geworden sind.
Freizeit steht indessen nicht nur im Gegensatz zur Arbeit. In einem System, wo Vollbeschäftigung an sich zum Ideal geworden ist, setzt Freizeit schattenhaft die Arbeit unmittelbar fort. Noch fehlt es an einer eindringenden Soziologie des Sports, zumal der Sportzuschauer. Immerhin leuchtet die Hypothese, neben anderen, ein, dass durch die Anstrengungen, welche der Sport zumutet, durch die Funktionalisierung des Körpers im Team, die gerade in den beliebtesten Sportarten sich vollzieht, die Menschen sich, ohne es zu wissen, einschulen auf die Verhaltensweisen, die, mehr oder minder sublimiert, im Arbeitsprozess von ihnen erwartet werden. Die alte Begründung, man betreibe Sport, um fit zu bleiben, ist unwahr nur, weil sie die fitness als eigenständiges Ziel ausgibt; fitness für die Arbeit indessen ist wohl einer der geheimen Zwecke des Sports. Vielfach wird man im Sport erst sich selber einmal antun, und dann als Triumph der eigenen Freiheit genießen, was man sich unter gesellschaftlichem Druck antun und sich schmackhaft machen muss.
Lassen Sie mich noch ein Wort sagen über das Verhältnis von Freizeit und Kulturindustrie. Über diese als Mittel von Beherrschung und Integration ist, seitdem Horkheimer und ich vor mehr als zwanzig Jahren den Begriff einführten, so viel geschrieben worden, dass ich ein spezifisches Problem herausgreifen möchte, das wir damals nicht übersehen konnten. Der Ideologiekritiker, der mit der Kulturindustrie sich abgibt, wird, ausgehend davon, dass die Standards der Kulturindustrie die eingefrorenen der alten Unterhaltung und niederen Kunst sind, zur Ansicht neigen, die Kulturindustrie beherrsche und kontrolliere tatsächlich und durchaus das Bewusstsein und Unbewusstsein derer, an die sie sich richtet und von deren Geschmack aus der liberalen Ära sie herstammt. Ohnehin ist Grund zur Annahme, dass die Produktion den Konsum wie im materiellen Lebensprozess so auch im geistigen reguliert, zumal dort, wo sie so sehr der materiellen sich angenähert hat wie in der Kulturindustrie. Man sollte also meinen, die Kulturindustrie und ihre Konsumenten seien einander adäquat. Da aber unterdessen die Kulturindustrie total wurde, Phänomen des Immergleichen, von dem die Menschen temporär abzulenken sie verspricht, ist daran zu zweifeln, ob die Gleichung von Kulturindustrie und Konsumentenbewusstsein aufgehe. Vor ein paar Jahren haben wir im Frankfurter Institut für Sozialforschung eine Studie durchgeführt, welche diesem Problem gewidmet war. Leider musste die Auswertung des Materials hinter dringlicheren Aufgaben zurückstehen. Immerhin lässt dessen unverbindliche Durchsicht einiges erkennen, was für das sogenannte Freizeitproblem relevant sein mag. Die Studie schloss sich an die Hochzeit der niederländischen Prinzessin Beatrix mit dem deutschen Jungdiplomaten Claus von Amsberg an. Ausgemacht sollte werden, wie die deutsche Bevölkerung auf jene Hochzeit reagierte, die, von allen Massenmedien ausgestrahlt und in den illustrierten Zeitungen endlos breitgetreten, in der Freizeit konsumiert wurde. Da die Art der Präsentation ebenso wie die Artikel, die man über das Ereignis schrieb, ihm ungewöhnliche Wichtigkeit beimaßen, erwarteten wir, dass es auch Zuschauer und Leser ebenso wichtig nähmen. Wir glaubten insbesondere, dass die heute bezeichnende Ideologie der Personalisierung wirksam werde, die darin besteht, dass man, offenbar als Kompensation der Funktionalisierung der Wirklichkeit, Einzelpersonen und private Beziehungen gegenüber dem gesellschaftlich tatsächlich Maßgebenden maßlos überschätzt. Mit aller Vorsicht möchte ich sagen, dass derlei Erwartungen zu simpel waren. Die Studie bietet geradezu einen Schulfall dafür, was kritisch-theoretisches Denken von der empirischen Sozialforschung lernen, wie es an ihr sich berichtigen kann. Symptome eines gedoppelten Bewusstseins zeichnen sich ab. Einerseits wurde das Ereignis genossen als ein Jetzt und Hier, wie es das Leben den Menschen sonst vorenthält; es sollte, mit einem beliebten Cliché der neudeutschen Sprache, „einmalig“ sein. Soweit fügte die Reaktion der Betrachter dem bekannten Schema sich ein, das auch die aktuelle und womöglich politische Neuigkeit auf dem Weg über die Information in ein Konsumgut verwandelt. Wir hatten aber in unserem Interviewschema die auf unmittelbare Reaktionen zielenden Fragen zur Kontrolle durch solche ergänzt, die darauf gingen, welche politische Bedeutung nun die Befragten dem hochgespielten Ereignis beimaßen. Dabei zeigte sich, dass viele – die Repräsentanz mag auf sich beruhen – plötzlich sich ganz realistisch verhielten und die politische und gesellschaftliche Wichtigkeit desselben Ereignisses, das sie in seiner wohlpublizierten Einmaligkeit atemlos am Fernsehschirm bestaunt hatten, kritisch einschätzten. Was also die Kulturindustrie den Menschen in ihrer Freizeit vorsetzt, das wird, wenn meine Folgerung nicht zu voreilig ist, zwar konsumiert und akzeptiert, aber mit einer Art von Vorbehalt, ähnlich wie auch Naive Theaterereignisse oder Filme nicht einfach als wirklich hinnehmen. Mehr noch vielleicht: es wird nicht ganz daran geglaubt. Die Integration von Bewusstsein und Freizeit ist offenbar doch noch nicht ganz gelungen. Die realen Interessen der Einzelnen sind immer noch stark genug, um, in Grenzen, der totalen Erfassung zu widerstehen. Das würde zusammenstimmen mit der gesellschaftlichen Prognose, dass eine Gesellschaft, deren tragende Widersprüche ungemindert fortbestehen, auch im Bewusstsein nicht total integriert werden kann. Es geht nicht glatt, gerade in der Freizeit nicht, die die Menschen zwar erfasst, aber ihrem eigenen Begriff nach sie doch nicht gänzlich erfassen kann, ohne dass es den Menschen zuviel würde. Ich verzichte darauf, die Konsequenzen auszumalen; ich meine aber, dass darin eine Chance von Mündigkeit sichtbar wird, die schließlich einmal zu ihrem Teil helfen könnte, dass Freizeit in Freiheit umspringt.

Theodor W. Adorno


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last modified: 28.3.2007