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Interview zur These der Geschichtslosigkeit (siehe CEE IEH #72, S. 44-45, 55-61).
Den folgenden Text entnahmen wir der Zeitschrift Aufbau (America’s only German-Jewish Publication), No. 23, vom 16.11.2000

„Amnesie hilft Wunden heilen“

Gespräch mit dem Historiker Dan Diner

Dan Diner, 1946 geboren, wuchs in Israel und der BRD auf. Seit April 1999 hält er einen Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig inne und leitet das dortige Simon-Dubnow-Institut. Zudem ist er Professor an der Ben Gurion Universität of Negev. Er lehrt dort als Historiker am Department of Politics and Government. Die Zeitschrift Aufbau sprach mit ihm über die aktuelle Lage in Israel.

Seit Jahrzehnten wird in Israel von einem Friedensprozeß gesprochen. Gibt es den überhaupt noch, oder ist er zur Worthülse verkommen?
Solange beide Konfliktparteien noch von einem Friedensprozeß reden, demonstrieren sie nach Außen, dass sie weiterhin an einem Ausgleich interessiert sind. Keiner möchte die Verantwortung dafür übernehmen, den Friedensprozeß für tot erklärt zu haben. Dieser Begriff ist zudem wichtig, weil darin auch die gegenseitige Anerkennung symbolisiert wird.

Es gibt im Moment also keinen Kriegszustand?
So tragisch das angesichts der weit über 100 Toten vor allem auf palästinensischer Seite klingen mag: Beide Parteien haben ihre strategischen Waffen bisher nicht ausgespielt. Die Israelis halten sich im Einsatz der ihnen zur Verfügung stehenden Gewaltmittel relativ zurück, wenn auch der Einsatz von Scharfschützen nicht zu rechtfertigen ist. Aber auch die Palästinenser haben bisher keine Selbstmordkommandos losgeschickt. Gegenwärtig ist der point of no return also noch nicht erreicht

Mit dem Friedensprozeß von Oslo hatte man ein Konzept für ein friedliches Nebeneinander beider Parteien festgeschrieben.
Die Palästinenser waren damals davon ausgegangen, dass die Isrealis bis Ende 2000 die besetzen Gebiete verlassen werden. Es sollte ein Staat Palästina entstehen, mit Jerusalem als Hauptstadt. Von israelischer Seite war man interessiert gewesen, diesen Prozeß hinauszuzögern, in der Hoffnung, die eigene Bevölkerung würde sich an den territorialen Preis des Friedens gewöhnen. Die Jerusalem-Frage werde sich in ferner Zukunft schon wie von selbst lösen. Im September 1993 hatte man nach den Prinzipien der gestreckten Zeit den Osloer Vertrag beschlossen.

Und dann hat Barak einen diplomatischen Fehler gemacht.
Barak hat die letzte aller Fragen, die Jerusalem-Frage und damit den Endstatus unmittelbar auf die Tagesordnung gesetzt. Das war im hohen Maße problematisch, wenn davon ausgegangen werden konnte, man habe es hier mit einem politischen Sprengsatz zu tun. Mit der Frage nach dem Status des Tempelberges waren alle Register des historischen Konfliktes gezogen.

Insofern hat die Auseinandersetzung eine neue Dimension, eine religiöse Komponente hinzugewonnen?
Der Konflikt, der nunmehr explodiert ist, geht um den Tempelberg. Die Palästinenser fordern die volle Souveränität über das Heiligtum. Israel will das nicht zugestehen. Der Heiligkeit des Streitgegenstandes wegen wir der Konflikt allgegenwärtig. Religiöse Konflikte sind im Unterschied zu territorialen nicht eingrenzbar. Damit hat sich die Kompromißfähigkeit der Kontrahenten erheblich reduziert. Man könnte fast sagen: ein geteiltes Heiligtum wäre kein Heiligtum mehr.

Ist dieser Konflikt dann überhaupt lösbar?
Die Lage ist in der Tat sehr komplex. Es gehen mehrere Schichten ineinander über, verstärken sich gegenseitig und erwecken den Anschein, der Konflikt wäre unlösbar.
Zum Beispiel im Hinblick auf die Gleichbehandlungsansprüche der arabischen Bevölkerung in Israel. Will man ihnen nachkommen, müßte sich Israel als Staat neu definieren: nicht mehr als jüdischer Staat, sondern als binationales Gemeinwesen.
Die Palästinenser in den besetzten Gebieten sind nicht nur Palästinenser, sie sind auch Teil der arabischen und muslimischen Welt – das ist eine gewaltige Zahl von Menschen. Insofern ist Israel in einer offensichtlichen Minderheitensituation. Philosophisch ausgedrückt: Die Israelis sind zwar aktuell stark, jedoch historisch schwach. Die Palästinenser aktuell schwach, historisch aber stark.

Was bedeutet die Abtretung von Land für die jüdische Bevölkerung?
Das israelische Selbstverständnis hat sich spätestens seit dem 67er Krieg gewandelt, als das biblische Kernland an Israel fiel. Zuvor war es bei weitem säkularer. Die biblischen Landschaften haben es theologisiert. Zudem ist der Konflikt nicht symmetrisch.
Beide Partner berufen sich auf verschiedene Legitimationen und verschiedene historische Zeiten, um ihren Standpunkt zu rechtfertigen. Das war den Verhandlungsführern in Oslo 1993 bewußt. Deshalb vereinbarten sie, über alles zu reden, nur nicht über die Vergangenheit. Denn redet man über die Vergangenheit, so hebt jede Seite an, ihr Geschichtsbild absolut zu setzen und Identitäten zu definieren. Da kann es freilich keinen Kompromiss geben. Nur in der Gegenwart ist ein Ausgleich möglich.

Wie sieht eines Lösung aus, bei der beide Seiten ihre Essentials wahren können?
Beide Parteien müssen lernen, die Vergangenheit des Konflikts zu vergessen, ihn nur unter den gegenwärtigen Bedingungen zu betrachten. So gesehen, gibt es zwei Parteien, die mit jeweils fünf Millionen Menschen demographisch ungefähr gleich stark sind. Auf der Grundlage nationalstaatlicher Überlegungen müssen sie versuchen, in zwei Territorien miteinander zu leben. Angesichts der vorausgegangenen Analyse mag dies zwar eine Fiktion sein. Aber diese Fiktion ist die einzige Hoffnung. Was theoretisch in der Analyse des Konflikts als asymetrischer richtig ist, kann praktisch falsch sein. Denn oftmals sind Amnesien die einzige Möglichkeit, sich zu einigen.

Welche Rolle kann das Ausland, insbesondere die Vereinigten Staaten, einnehmen, um die Situation zu entschärfen?
Allein Amerika kann auf die Konfliktparteien einwirken. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man den Konfliktpartnern allerdings nur gut zureden. Sanktionen würden, wenn überhaupt, spät, vielleicht zu spät greifen. Außerdem vergeht mindestens ein halbes Jahr bis sich Clintons Amtsnachfolger eingearbeitet hat. In dieser Zeit besteht ein gefährliches Machtvakuum. Wenn die USA in eine passive Zuschauerrolle verfiele, hätte dies hochdramatische Folgen.

Das klingt nach wenig Einflußmöglichkeiten.
In der Tat sind den USA die Hände gebunden. Zu Zeiten des Kalten Krieges haben die beiden Supermächte solche Art von Konflikten untereinander gemanagt. Auch wenn es zu Nahost-Kriegen kam, war allen klar, dass beide Mächte sich umgehend einigen und ihre Klienten stoppen würden. Das ist nicht mehr möglich.
Es gibt keine Klientenstaaten mehr, weil es keinen Dualismus der Supermächte mehr gibt. Das Prinzip von Hammer und Amboss ist hinfällig geworden: eine Supermacht droht, die andere reagiert. Das alte System des Kalten Krieges besteht nicht mehr. Insofern wäre es hochbrisant, käme es zu wirklichen militärischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten.

Herr Diner, Sie sind Israeli und Jude. Wie geht es Ihnen ganz persönlich angesichts der Lage?
Deprimierend. Aber keiner kann seiner eigenen Geschichte ausweichen, einfach ein anderer werden.



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last modified: 28.3.2007