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review-corner, 1.6k

Hannah Arendt:

Besuch in Deutschland

Hamburg: 1993

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Buchtitel, 11.0k
Sechzehn Jahre nach ihrer Flucht aus Nazideutschland besucht Hannah Arendt 1949 die gerade gegründete Bundesrepublik. Anlass waren Arbeiten für die Commission on European Jewish Cultural Reconstruktion, als deren Direktorin sie arbeitete. Nebenbei verfasst sie einen kaum vierzig Seiten starken Essay, der unter dem Titel „The Aftermath of Nazi-Rule. Report from Germany“ schon ein Jahr später in den Staaten veröffentlicht wird. Die deutsche Übersetzung erscheint erst 36 Jahre später im Rotbuch Verlag unter dem entschärften Titel „Besuch in Deutschland“, eine weitere 1993. Diese steht ganz im Zeichen einer zweiten „Stunde Null“ (Ende der DDR, Wiedervereinigung). Schon im Vorwort von Henrik M.Broder wird klar, wohin die Reise gehen soll: krude anmutende Vergleiche vom Umgang mit Stasi- und Nazitätern, die auch durch die ansonsten brilliant sarkastische Schreibe von Broder nicht entschuldigt werden kann.
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Meinungen und Tatsachen

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Hannah Arendts Besuch in Deutschland

Gleich zu Beginn ihres Berichtes bemerkt Arendt die Unfähigkeit der Deutschen zur Trauer oder ähnlichen Gefühlsregungen, das Geschehene wird stur ignoriert, bzw. ist die Fähigkeit zur Wahrnehmung desselben verloren gegangen, wenn sie denn jemals besonders ausgeprägt war. „Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. (...) Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen und sich damit abzufinden.“ Schon unnnötig zu sagen, daß die Leiden anderer (Nichtdeutscher) in einer knallharten Schadensbilanz verrechnet werden. Der Gesprächspartnerin wird der große Leidensweg der Deutschen bilderreich dargestellt mit dem Ergebnis, dass entweder sie selbst die eigentlichen Opfer seien oder zumindest der Ausgleich stattgefunden habe und „man nun zu einem ergiebigeren Thema überwechseln könne“. Ähnlich auch der Umgang mit der Kriegsschuld, die dann gerne in einer allgemein menschlichen Disposition – „warum muß die Menschheit immer nur Krieg führen” – gesucht wird oder gleich beim Urschleim der Erbsünde anfängt: „Der Durchschnittsdeutsche sucht die Ursachen des letzten Krieges nicht in den Taten des Naziregimes, sondern in den Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt haben“.
„Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen. Beispielsweise kommt auf die Frage, wer den Krieg begonnen habe – ein keineswegs heiß umstrittenes Thema – eine überraschende Vielfalt von Meinungen zutage. In Süddeutschland erzählte mir eine Frau von ansonsten durchschnittlicher Intelligenz, die Russen hätten mit einem Angriff auf Danzig den Krieg begonnen – das ist nur das gröbste von vielen Beispielen.”
Die Gründe hierfür sucht Hannah Arendt immer wieder und ausschließlich in den Bedingungen totalitärer Herrschaft und ihres Propagandaapparates, die den Menschen die Unterscheidung von Fakten und Meinungen verunmögliche, ergo die Nazis prägten das Bewußtsein der Deutschen, die dadurch der Selbstreflexion nicht mehr fähig waren; diese Aussage vernachlässigt die deutsche Vorgeschichte und entmündigt tendenziell das Individuum, spricht ihm die Schuldfähigkeit ab. Selbst die Beobachtung, daß „ein erstaunliches Desinteresse an der Zurückweisung von Nazidoktrinen bestehe“ reiht Arendt in den gleichen Begründungszusammenhang ein.
Es fällt manchmal schwer, die richtigen von den falschen Analysen, die dann wohl eher historisch zu lesen sind, zu trennen. So beklagt Arendt die Uneffizienz der Entnazifizierung, allerdings dahingehend, daß sie so viele falsche getroffen habe und nicht – wie ich meine – zu wenig richtige. Ebenso steht die einleuchtende Einschätzung, die Geschäftigkeit der Deutschen sei ihre „Hauptwaffe zur Abwehr der Wirklichkeit“ geworden neben der unsinnigen, die Berliner Bevölkerung sei anders als die anderen Deutschen.
heike


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last modified: 28.3.2007