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#271, Februar 2022
#272, März 2022
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Aktuelles Heft

INHALT #272

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Editorial
Vortrag und Lesung: Angry Workers
Buchvorstellung: Dirk Braunstein / Christoph Hesse - Schiffbruch beim Spagat: Wirres aus Geist und Gesellschaft 1
Buchvorstellung: Vladimir Ze'ev Jabotinsky - Die jüdische Kriegsfront
Buchvorstellung mit Protagonist:innen und Redaktion: Auf dem Klo habe ich noch nie einen Schwan gesehen – Erinnerungen aus 30 Jahren Conne Island
»Herumtreiberinnen« von Bettina Wilpert
• doku: Kritische Theorie, Psychoanalyse und die Geschlechterbeziehung
• doku: Die Tyrannei der unstrukturierten Gruppen
• das letzte: Ein brauner Schatten über Connewitz

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Kritische Theorie, Psychoanalyse und die Geschlechterbeziehung

Die Kritische Theorie, auch bekannt als Frankfurter Schule, wollte als kritische Gesellschaftstheorie ergründen, weshalb sich die bestehende Gesellschaft stets aufs Neue als eine ungleiche und hierarchische produziert. Antrieb der Sozialforschung des Zirkels um Adorno, Horkheimer, Fromm und Co. war demgemäß die Frage, aus welchen Gründen sich die Menschen zu ihrem Unglück und zu ihrem Schaden, ohne sichtlichen Zwang der eigenen Unterdrückung fügten oder vielmehr, scheinbar aktiv daran mitwirkten.

Die ökonomischen Analysen Marx´scher Manier hatten vorausgesagt, der Kapitalismus und mit ihm andere Unterdrückungsverhältnisse, schaufelten früher oder später ihr eigenes Grab. Als diese Entwicklung ausblieb und eine herrschaftsfreie Gesellschaft in immer weitere Ferne rückte, wandte sich die Kritische Theorie neben ihren sozioökonomischen Studien der Freud´schen Psychoanalyse und mit ihr den subjektiven Bedingungen von Herrschaft und Ungleichheit zu. Die Psychoanalyse als Theorie des Unbewussten sollte greifbar(er) machen, wie sich gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse in die Innenwelt der Subjekte einschreibt, libidinöse Kräfte der Psyche sie an Herrschaftsverhältnisse bindet und aus den Kellern des Unbewussten, entgegen ihrer Ratio, steuert.

Kritische Theorie und männliche Herrschaft

Die frühe Kritische Theorie hat sich in ihren subjekttheoretischen Analysen, entgegen der Auffassung manch feministischer TheoretikerInnen, auch mit dem Geschlechterverhältnis und der Herrschaft und Gewalt in jenen Beziehungen beschäftigt, die gemeinhin als privat gelten, etwa die familiären und ferner die Liebes- und Intimbeziehungen. In ihren Studien nahm sie insbesondere die Familie als »psychologische Agentur der Gesellschaft« (Fromm, 1936: 142) und Ausgangspunkt der menschlichen Entwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft in den Blick.

Übereinstimmend mit psychoanalytischen Erkenntnissen galt die Kindheit als Moment der spezifischen Konfrontation mit der gesellschaftlichen Ordnung, vermittelt durch die Eltern und deren Unbewusstes. Die Eltern wurden indes keineswegs als individuelle, gar unabhängige ErzieherInnen verstanden, sondern primär als »Produkte dieser Gesellschaft“, die der falschen Einrichtung derselben wegen »ihre Male« (Adorno 1966: 688, nach Umrath 2019: 267) tragen. »Die Gründe für [(männliche) Herrschaft und Gewalt] sind insofern nicht isoliert in der Familie, sondern in der Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft zu suchen« (Umrath 2019: 267), welche sich als Folge von psychodynamischen Vermittlungsprozessen der sozialen Ordnung in der individuellen Struktur der Subjekte widerspiegelt.

Patriarchale Struktur der bürgerlichen Gesellschaft

Diese Grundstruktur, die Einrichtung und Organisation der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, kann bezogen auf das Geschlechterverhältnis als patriarchal definiert werden: Die Spaltung in einen produktiven und einen reproduktiven Sektor, samt der Werte, die die jeweiligen Sphären kennzeichnen, sind historisch untrennbar mit kulturell-symbolischen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit(1) verknüpft. Das Weibliche wird mit der Pflege, Fürsorge und der Reproduktion menschlichen Lebens verknüpft, ergo mit Natur, während das Männliche für Leistung, Konkurrenz und Unterwerfung der Natur, ergo Kultur oder Gesellschaft steht (Umrath:2019). Diese Werte stehen gleichzeitig in einer asymmetrischen Beziehung zueinander und bedingen die hierarchische Geschlechterordnung, indem bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten naturalisierend den Geschlechtern zugeordnet werden und sie damit in ein Herrschaftsverhältnis zueinander rückt.

Familie und autoritärer Sozialcharakter

In den berühmten Studien zur Autorität und Familie machte die Kritische Theorie bereits in den 1930ern darauf aufmerksam, dass es sich bei der Familie keineswegs um etwas nur ›Privates‹ handelt, sondern um einen grundlegenden ›gesellschaftlichen Nexus‹, wo ökonomische, kulturelle und psychische Kräfte zusammenfließen – und wirken. Diese spezifische Ausgangslage legt den Grundstein für entsprechend innerpsychische Dispositionen zur Entwicklung eines gesellschaftlichen Charakters, der jedoch als individueller erscheint (Umrath: 269). Anders gesagt fand die Kritische Theorie als Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Beteiligung der Individuen an der eigenen Unterdrückung eine affektiv-libidinöse Bindung an Autoritäten in der Familie - als Vorbild für spätere Autoritätsfiguren - und die Unterwerfung unter jene, bedingt durch die autoritäre Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft. Erich Fromm als Psychoanalytiker und Sozialpsychologe der Kritischen Theorie formulierte anhand dieser Erkenntnisse die Theorie des autoritären oder auch sadomasochistischen Charakters, der die hierarchische Spaltung der gesellschaftlichen Organisation auf individueller Ebene entsprechend verarbeitet. Aus geschlechtertheoretischer Perspektive muss einschränkend hinzugefügt werden, dass Fromm in seiner Konzeption zwar die patriarchale Struktur der Familie ermittelte, in der sich die gesamtgesellschaftliche männliche Herrschaft und die der männlich konnotierten Werte widerspiegelt, auf geschlechtsspezifische Unterschiede in der Entwicklung und folglich Differenzen in der psychosozialen Struktur der Subjekte fehlt er dennoch explizit einzugehen.

In den folgenden Abschnitten soll die Genese des autoritären Charakters in der bürgerlich-patriarchalen Familie, wie sie die Kritische Theorie vor Augen hatte, für beide Geschlechter kurz skizziert werden. Im Anschluss daran werden die heutigen Sozialisationsbedingungen unter spätbürgerlichen Verhältnissen, sowie grob Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der familiären Situation herausgearbeitet und mögliche Schlüsse über den dominanten Sozialcharakter, insbesondere über dessen Selbstverhältnis und Bindungsverhalten, gezogen. Mit der feministischen Revision der Psychoanalyse nach Jessica Benjamin wollen wir alsdann die sogenannte Differenzierungsphase und den Autonomie-Abhängigkeitskonflikt näher beleuchten, um zu ergründen, wann und wie Geschlecht in die Subjekte gelangt und weshalb und auf welche Weise das ungleiche Geschlechtsverhältnis auf subjektiver Ebene potenziell reproduziert wird. Anders gefragt: Warum stellen sich trotz aller Modernisierungen und vergangener Emanzipationsbewegungen die Geschlechterbeziehungen noch immer häufig als Herrschafts- und Abhängigkeitsbeziehungen und nicht als Beziehungen unter Gleichen mit Gleichen heraus?(2)

Autoritärer Charakter – männlicher Ödipus-Komplex

Bei Fromm wird die männliche ödipale Phase als allgemeine gesetzt, ohne auf die geschlechtliche Dimension in der Konstitution des autoritären Charakters näher einzugehen. Da die ödipale Phase und der Ödipus-Komplex für das Verständnis der Entwicklung herrschaftsförmiger (geschlechtlicher) Subjekte und der Verwobenheit mit dem Begehren dennoch wichtig sind, übernehmen wir hier zunächst, schematisch vereinfacht, die ödipale Theorie für den idealtypischen männlichen Verlauf: Die klassische Ödipus-Theorie nach Freud besagt, dass der Junge im Ödipus-Komplex die Mutter als erste Objektliebe begehrt. Der Vater wird somit zum Rivalen gegen den Sohn. Da der Vater aber nicht gehasst werden darf und aus Furcht vor der väterlichen Autorität wird die väterliche Moral als Über-Ich in das Selbst integriert. Dadurch kann auf die libidinöse Fixierung der Mutter verzichtet werden. Der Vater als Autorität vermittelt nicht nur die individuelle Moral, sondern repräsentiert symbolisch die gesellschaftliche Autorität, wodurch die ambivalente Beziehung zu gesellschaftlichen Autoritäten als psychische Disposition angelegt wird. Somit wird bewusst eine frühkindliche Idealisierung des Vaters beibehalten, während die Ambivalenz und die Aggression verdrängt und auf vermeintlich Schwächere projiziert werden.

Sadomasochistische Objektbeziehungen(3)

»Die hier angelegte sadomasochistische innere Trieb-und Begehrensstruktur geht Fromm zufolge mit einer bestimmten Form der Objektbeziehungen einher, mit einer »typische[n] Einstellung zu Menschen«. Der autoritäre Charakter begegne Stärkeren primär mit Verehrung und Liebe, hinter der sich zumeist aber verdrängte Spuren von Furcht, Hass und Neid ausmachen lassen, Schwächeren vor allem mit Verachtung, Hass und Grausamkeit.« (Fromm 1936a: 115, Fromm 1936a: 115f, nach Umrath: 223) Diese Beziehungsform lässt sich auf die Geschlechterbeziehung übertragen: Schwächere sind in der herrschenden Geschlechterordnung auch Frauen, in der die Mutter symbolisch für Weiblichkeit steht und als erste Objektliebe die Antithese zur väterlichen Autorität und Subjektivität bildet. So ist die Abwertung des Weiblichen, bei gleichzeitigem Begehren (im idealtypischen ödipalen Verlauf), von früher Kindheit an in die männliche Subjektivität eingeschrieben.

Patriarchale Objektbeziehungsstruktur

Die (Objekt-)Beziehungsstruktur in der bürgerlichen Gesellschaft lässt sich analog zu oben als sadomasochistisch, patriarchal und damit herrschaftsförmig charakterisieren. Diese patriarchale Strukturierung bringt zur jeweiligen Zeit spezifisch hegemoniale Sozialcharaktere mit ihrer jeweils binären geschlechtlichen Prägung hervor. In welchem Ausmaß und in welcher Form die Familie oder die Intimbeziehung patriarchal ist, das heißt welche Werte ideologischer Männlichkeit mit Autorität und Herrschaft einhergehen und inwiefern die Sphären Männlichkeit und Weiblichkeit als subjektives Pendant zur gesellschaftlichen Organisation, als rigide getrennte Bereiche und Wesenseigenheiten empfunden werden, ist zum einen bedingt durch die jeweilige Klassenzugehörigkeit, als auch dem graduellen Wandel der kapitalistischen Produktion und ihren erwünschten Charakteren unterworfen.

Autoritärer Charakter – weiblicher Ödipus Komplex

In der klassischen Psychoanalyse wird der Ödipus-Komplex beim Mädchen durch die Wahrnehmung des anatomischen Geschlechtsunterschieds, dem sogenannten Penisneid eingeleitet. Das Mädchen erkennt, dass es keinen Penis haben kann (Kastrationskomplex) und wendet sich aus Mangel an Alternativen dem Vater zu, um über den indirekten Weg, nämlich über das Begehren des Vaters, über ein Kind vom Vater, doch noch zur ersehnten Männlichkeit zu gelangen. Da die Mutter keinen Penis hat, wird sie ebenfalls als mangelhaft wahrgenommen (Freud 1923: 2014).

Mit objektbeziehungstheoretischen Überlegungen werden wir ausführen, warum wir glauben, dass für die psychische Etablierung des Geschlechtsunterschiedes - in Form von Männlichkeit als Ideal und Weiblichkeit als Mangel - nicht so sehr der anatomische Geschlechtsunterschied entscheidend ist, sondern die Qualität der frühkindlichen Beziehungen. Durch die Identifikation mit bestimmten Anteilen der primären Bezugspersonen und jenen unbewussten Bildern von Geschlecht, die diese repräsentieren und vermitteln- real und kindlich-imaginiert – wird Geschlecht als Selbstkonzept verinnerlicht. Der Penis als Repräsentant der Macht ist symbolisch jedoch dennoch wirkmächtig.

Die weiblich-autoritäre Verstrickung

Der weiblich-soziale Charakter ist ebenso autoritätsgebunden wie der männliche. Da die polare Geschlechterordnung jedoch vorsieht, dass der idealtypische männliche/weibliche Charakter die jeweils gegengeschlechtlichen Eigenschaften abspaltet und projiziert ist der Inhalt der weiblichen Projektion verschieden. Während der männliche Charakter den Hass, die Aggression und Grausamkeit gegenüber denen, die er für schwach befindet, offen ausleben kann, gesteht der weibliche Charakter sich diese Aggression entweder nur indirekt zu und lebt sie beispielsweise über einen männlichen Partner aus oder aber sucht sich als Triebziel ein noch schwächeres, weniger wehrhaftes Gegenüber.

Hier offenbart sich die weibliche Verstrickung in das eigene Herrschaftsverhältnis. Fromm sagt dazu, dass potenziell alle Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft sadomasochistisch strukturiert sind. Das heißt, während man unter einem Unterdrückungsverhältnis leidet, kann man an anderer Stelle seinen sadistischen Trieben nachgehen. Auch genannt die Radfahrer-Persönlichkeit – nach oben bücken und nach unten treten. So kann eine Frau unter ihrem patriarchalen Mann leiden, während sie ihre eigene Aggression an noch Schwächeren, etwa ihren Kindern, auslassen kann. Dieser Umstand soll keineswegs männliche Herrschaft und Gewalt in irgendeiner Weise rechtfertigen. Klar ist auch, dass bestimmte Charakterdispositionen mit einem Mehr an aggressiven Strebungen, Dominanz und Macht einhergehen als andere. Dennoch sind alle Subjekte gesellschaftlich geprägt – mal offensichtlich und extrem, mal subtiler. Individuen, die außerhalb dieser totalitären Ordnung stehen, gibt es bisher nicht. Ebenso wenig gibt es Beziehungen, die nicht in der einen oder anderen Weise die polare Geschlechterbeziehung repräsentieren und reproduzieren. Diesen Gesamtzusammenhang von gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion, der idealtypischen Subjektivierung von Geschlecht und dem entsprechenden Beziehungsstil gilt es in diesem Text aufzuzeigen.

Autoritärer (männlicher) Charakter heute?

In der Spätphase des Kapitalismus, in der wie uns gegenwärtig befinden, wurden gesellschaftliche Institutionen fortlaufend modernisiert und Rechts- und Gesetzgebung langsam, aber stetig an feministische Forderungen angepasst. Innerhalb der Familie bröckelte das Bild des männlich herrschsüchtigen und gewalttätigen Patriarchen(4). Allen dissoziierenden Tendenzen institutioneller männlicher Herrschaft im klassischen Patriarchat zum Trotz ist die patriarchale Spaltung der Arbeit und der Geschlechtscharaktere nicht aufgehoben. Es scheint (ähnlich auch schon in den 1950ern von der Kritischen Theorie vermutet), als würde die männliche Dominanz unter subtileren, also neopatriarchalen Vorzeichen, fortgeführt und gerade durch die Erosion ihres äußerlich-institutionellen Fundaments eine zunehmende Verlagerung in die psychische Verfasstheit der Subjekte und auf die Ebene der intimen Beziehungen - den romantischen, sexuellen oder jene zu den eigenen Kindern - erfahren (Chodorow 1985, ähnlich auch Illouz 2018). Weiter vermuten wir, dass der neue autoritäre Charakter im Unterschied zum klassisch-autoritären subtilere Strategien anwendet, um nach unten zu treten, jedoch nicht minder autoritätsgebunden und in sich gespalten ist. Der moderne autoritäre Charakter ist der neoliberale Charakter, der im Gewand des bindungsunwilligen, nach Selbstverwirklichung strebenden, unverfügbaren männlichen Charakters, nur eine moderne Version männlicher Angst vor der Begegnung mit den abgespaltenen Gefühlen und Selbstanteilen ist.

Die gegenwärtige hegemoniale Familienstruktur ist trotz aller Modernisierungen nach wie vor patriarchal, als auch die Struktur der spätbürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen noch immer eine patriarchale ist. Dies bedeutet, weder ist die Spaltung der Produktion und Reproduktion noch die hierarchische Beziehung zwischen diesen beiden Sphären obsolet. So bleibt Geschlecht als Ideologie noch immer notwendig und die Geschlechterbeziehung reproduziert sich als Asymmetrische. Die neopatriarchale Familiensituation ist tendenziell weniger durch direkte väterliche Autorität als durch eine - insbesondere im Vergleich mit den Müttern - höhere Abwesenheit der Väter charakterisiert, die ungleich mehr mit der eigenen Selbstverwirklichung, der Karriere oder den eigenen Hobbies beschäftigt sind. Das Mehr an Abwesenheit und Distanz beschert dem Vater ungebrochen den Pol der Autorität, die sich zwar anders gestaltet als die des klassisch autoritären Patriarchen, sich jedoch ähnelt im Ergebnis: Eigenschaften wie Dominanz, Durchsetzungsvermögen, Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit werden mit dem Vater, ergo Männlichkeit assoziiert, während die Mutter mit den gegenteiligen Eigenschaften, demnach mit Abhängigkeit, Passivität und Nähe, verbunden wird.

Wird das Kind früh in öffentliche Betreuung gegeben, so ist dort die Pflege und Betreuungsarbeit ebenfalls vorrangig weiblich geprägt. Die Beziehung zum neopatriarchalen Vater ist vermutlich weniger von offener physischer Gewalt und Härte(5) gezeichnet, sondern tendenziell eher durch indirekte Gewalt: physische oder emotionale Absenz, das Fehlen von emphatischer Zuwendung und Kenntnisnahme der kindlichen Bedürfnisse, sowie die Neigung die eigenen Bedürfnisse vor die des Kindes zu setzen. Das männliche Selbst- und Weltverhältnis, sowie die Beziehungsweise, so die Annahme, bleibt ähnlich rudimentär und einseitig wie in der traditionell patriarchal-autoritären Version (Benjamin 1993, Strömquist 2018). Selbstverständlich kann nicht in allen Biografien von einer absoluten Kohärenz dieser Muster ausgegangen werden, diese Annahmen implizieren wie immer eine idealtypische Konstruktion symbolisch-kultureller Männlichkeit und Weiblichkeit.(6)

Männliche Lässigkeit und weibliche Gehemmtheit

Madeleine Tietge bestätigt diese Thesen in ihrer empfehlenswerten Studie zur Heteronormativität in Paarbeziehungen: Quer durch alle interviewten Paare, unabhängig davon für wie progressiv(7) sich diese hielten, für wie heterosexuell sie sich einschätzten – der männliche Beziehungstypus sucht sich Wege, um seinem verinnerlichten Bedürfnis nach Kontrolle und Dominanz nachzukommen. In vorsätzlich progressiven Beziehungen ist dies nicht immer so offensichtlich wie in traditionelleren Partnerschaften. So zeigt sich in Beziehungen, in denen das Machtverhältnis oberflächlich umgekehrt scheint, beispielsweise tradierte männliche Werte wie Karriere und finanzielle Unabhängigkeit bei der Frau zu finden sind, dass diese Werte eine Bedeutungsverschiebung erfahren. In einem von Tietge angeführten Beispiel wird die finanzielle Sicherheit zur Spießigkeit umgedeutet, während der Mann sich als Abenteurer und ja, als der coole, unabhängige Typ inszeniert, der frei von materiellem Sicherheitsstreben ist. Bei wiederum faktischer Abhängigkeit von seiner Frau, finanziell wie auch emotional. Diese Demonstration männlicher pseudo-Unabhängigkeit passt zum neoliberalen Charakter. Wir sehen also: Der männliche Anspruch auf Macht und Dominanz ist flexibel im Ausdruck, beweist als Spiegel der sozialen Verhältnisse aber außerordentliche »psychologische Zählebigkeit« (Benjamin: 14).

Patriarchale Kontinuität

Ob nun klassisch patriarchaler Vater oder neopatriarchaler Vater: Der Subjektentwicklung gemein bleibt die frühkindliche Idealisierung des Vaters als Repräsentant von Macht und/oder Repräsentant der Außenwelt und damit Bindeglied zu Freiheit und Subjektivität. Ohne das spezifisch ödipale Gefühlsgemisch aus Idealisierung, aber ebenso »Furcht, Hass und Neid« (Umrath: 234), fällt möglicherweise die irrationale Verklärung von (gesellschaftlichen) Autoritäten und der projektive Hass auf die vermeintlich Schwächeren, hier Frauen, weniger drastisch und explosiv aus. Die Ambivalenz gegenüber dem Weiblichen und die notwendige Abspaltung unerwünschter Eigenschaften sowie deren Projektion, insbesondere in Intimbeziehungen, bleibt jedoch bestehen. Die väterliche Autorität wird in der neopatriarchalen Version weniger aus Angst internalisiert, als vielmehr die Identifikation mit der väterlichen Macht aktiv angestrebt und begehrt wird, um kindlich-narzisstische Allmachtsfantasien nicht aufgeben zu müssen.

Insofern teilen wir auch nur bedingt Diagnosen einer ›vaterlosen Gesellschaft‹ und deren indirekten Ruf nach männlicher Autorität (z.B. Lasch 1979; im Ansatz auch Teile der Kritischen Theorie). Diese lautet grob: der fehlende Vater als klassische Autorität verhindere den Aufbau eines stabilen Über-Ichs und die Bewältigung des Ödipus-Komplexes und mache somit anfällig(er) für sadomasochistische Objektbeziehungen. Jessica Benjamin kritisiert aus feministischer Perspektive hier, unseres Erachtens zu Recht, dass derartige Analysen lediglich die patriarchale Autorität in Form von funktionaler Rationalität idealisieren und die Abspaltung von Bindungswünschen, Emotionalität und Abhängigkeit als gesunder Bestandteil männlicher Entwicklung verstanden, sowie die Identifikation mit ideologischer Männlichkeit, als höchste Reifestufe der Persönlichkeit rationalisiert wird (Benjamin 1993).

Ohne die Integration der passiven und emotionalen Ich-Anteile kann dieses Ich niemals vollständig sein, es bleibt ideologisch gespalten. Auch die hierarchische Beziehung von Männlichkeit und Weiblichkeit bleibt unkritisiert und unverändert. Diese Analyse sitzt dem bekannten Fehler auf, Emotionalität mit Irrationalität und funktionale Rationalität und Pseudo-Unabhängigkeit, wie sie mit der männlichen Entwicklung einhergeht, mit echter Autonomie, objektiver Autorität und dem Realitätsprinzip in Eins zu setzen. Nicht nur ist es ein misogynes Muster Weiblichkeit mit Irrationalität und Regression zu assoziieren, verkannt wird auch die gegenseitige Bedingtheit dieser zwei Seiten einer Medaille, gleichwohl die Bedeutung beider Pole, um ein ganzer Mensch zu werden.

Das bekannte Diktum Freuds »Wo Es war, soll Ich werden« ist mitnichten erfüllt, wird doch nur eine Seite des Ichs überentwickelt und mit Absolutheit behauptet, während der andere Teil mit Gewalt verdrängt wird und damit unterentwickelt bleibt. Rationalität und Autonomie in der derzeitigen Form sind nichts Anderes als männliche Ideologie. Die spezifischen Anforderungen an diese Männlichkeit mögen sich wandeln. Man sollte aber nicht zu früh frohlocken, sind dies doch vielmehr graduelle Wandlungen an der Oberfläche. Wirkliche Emanzipation würde gänzlich andere und herrschaftsfreie Subjektivierungs- und Beziehungsweisen erfordern, die nicht Teile der menschlichen Entwicklung und Bedürfnisse leugnen müssten.

Pseudomaskulinität & Pseudofeminität

Theodor W. Adorno, E Else Frenkel-Brunswik, R. Newitt Sanford und Daniel J. Levinson haben in ihren empirischen Studien zu The Authoritarian Personality (1950), anders als Fromm, Geschlecht als Ungleichheits- und Herrschaftskategorie umfassender einbezogen. Die Beziehung zu den Elternfiguren, die von Idealisierung bei gleichzeitig unbewusster Feindseligkeit geprägt ist, führt zu einer Unfähigkeit Ambivalenzen im Subjekt auszuhalten. Diese Unfähigkeit führt weiter zur Verinnerlichung einer dichotomen und traditionellen Vorstellung von Geschlecht und der typisch innerlichen Gespaltenheit. Je autoritärer der Charakter, desto eifriger muss die Betonung eigengeschlechtlicher Attribute ausfallen, umso rigider die vehemente Zurückweisung aller Eigenschaften ausfallen, die in der kulturellen Ordnung dem Gegengeschlecht zugeordnet werden.

Was als Männlichkeit und Weiblichkeit in Reinform erscheint, wird in der Studie als ›Pseudomaskulinität‹ und ›Pseudofeminität‹ gefasst, gerade weil die Verkörperung kultureller Stereotype nur scheinbar die natürlich angeborenen Eigenschaften der jeweiligen Personen sind. Je patriarchaler die Familie, desto autoritärer die Charaktere und umso starrer die Rollenverteilung in der Familie. Je patriarchaler die Beziehungen, desto destruktiver die Beziehungsdynamik und umso feindseliger die unbewussten Externalisierungen, sowie die notwendige Demonstration und Behauptung stereotyper Männlichkeit wie Weiblichkeit. Diese komplementäre Geschlechtlichkeit ist aber nur unter großer Verdrängungsleistung nicht ins Bild passender Wünsche, Sehnsüchte, Bedürfnisse und Triebregungen zu haben. Die verdrängte Feindseligkeit verhindert eine Beziehung, welche von Liebe, Zärtlichkeit und Gleichheit geprägt ist, entgegen den bewussten Beziehungswünschen.

Wie oben beschrieben, erfahren die jeweiligen Anforderungen an Männlichkeit und Weiblichkeit gewisse Modifizierungen. In idealtypischer Form führt die ödipale Phase jedoch dazu, dass ein pseudo-männliches Subjekt ein pseudo-weibliches Objekt sucht. Wir halten noch einmal fest; je mehr die Elternfiguren im Begehren und Handeln dem kulturellen Stereotyp entsprechen -und sofern es keine korrigierenden Erfahrungen gibt - desto eher werden deren Nachkommen als Erwachsene diese polare Beziehung unbewusst reproduzieren und die innerpsychische Pseudo-Mutter oder den Pseudo-Vater im Außen suchen.

Objektwahl zwischen Abwertung und Idealisierung

Die Verinnerlichung der männlichen Prinzipien und die heterosexuelle Objektwahl durch den Ödipus-Komplex gehen beim Jungen damit einher, dass das eigene männliche Selbst als dem Weiblichen überlegen gesetzt wird. Wohingegen die klassisch weibliche Objektwahl genau das Gegenteil anstrebt, nämlich eine Objektwahl, die von der Idealisierung des Vaters – des Männlichen – gesteuert wird. Diese Beziehungsform kann als narzisstisch bezeichnet werden, da sie dazu dient das eigene Selbst aufzuwerten und im Außen das zu suchen, das einmal Teil des eigenen Selbst war, aber aufgrund der herrschenden Geschlechterordnung externalisiert werden muss.

Der männliche Narzissmus geht damit einher in irgendeiner Weise mutterähnliche Objekte als Liebesobjekt zu suchen und zu begehren. Seine fragile Männlichkeit fordert gleichzeitig diese offensichtlich oder subtil abzuwerten, immer wieder Distanz herzustellen und wirkliche Intimität und Nähe zu verhindern, um sich so der Ablösung von der Mutter zu versichern. Die Frau wird vordergründig idealisiert, sofern sie dem kindlichen Bild der verlorenen Mutter möglichst nahekommt. Denn die Mutter ist zugleich auch die erste Liebe und symbolisiert das Paradies inniger Nähe, das verlassen werden musste und nur in den Intimbeziehungen annähernd wiederhergestellt werden kann.

Es werden also oftmals Frauen vordergründig auf ein Podest gehoben, die dem (immer schon patriarchalen und misogynen) Ur-Bild von Mütterlichkeit besonders entsprechen, sich überempathisch, besonders gefühlvoll und kindlich-passiv(8) geben. Zu betonen ist auch, dass die reale Mutter nicht in allen Facetten jener Mutter der kindlichen Fantasie gleicht. Die spezifische Art der Mutter-Kind-Beziehung begünstigt die Verankerung eines mütterlichen Bildes, das den kulturellen Schablonen von Mütterlichkeit und Weiblichkeit entspricht. Trotz möglicher Idealisierung der geschlechtlich normkonformen Frau bleibt die Ambivalenz gegenüber dem Weiblichen im männlichen heterosexuellen Subjekt psychisch manifest als spezielles ödipales widersprüchliches Gefühlsgemisch. Die Gleichzeitigkeit von Idealisierung und Abwertung, sowie die manifest bestehende Abhängigkeit - von der Mutter und von Frauen - und die dadurch immer wieder notwendige Demonstration der Unabhängigkeit, um sich der Männlichkeit, sowie des Subjektseins zu versichern, macht intime Beziehungen so unberechenbar und anstrengend. Für diese „Analyse“ muss man nicht einmal feministische Psychoanalyse wälzen, es reicht die Dramen in vielen Akten des Freundeskreises zu rezipieren.

Die typisch weibliche Objektwahl geht nun mangels anderer Möglichkeiten den indirekten Weg Anteil an männlicher Macht zu erhalten. Man kann davon ausgehen, dass das Mädchen zunächst ebenfalls versucht sich mit dem Vater zu identifizieren, sofern es damit jedoch scheitert, ersetzt der Wunsch vom Vater begehrt zu werden den Wunsch wie der Vater zu sein. In ihrem späteren Leben wird das Begehren der Frau von der frühen Idealisierung des Männlichen gesteuert. Sie hat ihr Ideal nach Außen projiziert und will fortan über das Begehrt- und Geliebt werden eines vaterähnlichen Ideals Anteil an der erstrebten Macht haben, die ihr in ihrer frühen Selbstentwicklung verwehrt wurde. Kongruent zur männlichen Objektwahl ist die Idealisierung des Vaters und späterer Liebespartner von der soziokulturell dominanten Vorstellung von Männlichkeit geleitet. Man kann sich das in etwa so vorstellen: Entweder besitzt der Vater tatsächlich diese Eigenschaften, sodass sie als Ideal projiziert werden können oder der Vater fehlt absolut als Identifikationsfigur, sodass das Ideal als die Antithese zur Mütterlichkeit entworfen wird.

Ähnlich im Fall der Mutter: Entweder die Mutter entspricht tatsächlich dem gesellschaftlich-sexistischen Ideal von Mütterlichkeit oder aber sie ist zu viel oder zu wenig, sodass die ideale Mutter erst noch gesucht werden muss oder sich noch vehementer und immer wieder in Beziehungen zu Frauen von ihr befreit werden muss(9). Wir merken, die Mutter kann es nicht richtigmachen, denn dies geschieht alles vor dem Hintergrund einer misogynen Kultur. Das mütterliche Ideal an sich ist misogyn, so steht das weibliche Ideal für Selbstaufopferung und das väterliche Gegenstück existiert nicht, steht nur für Männlichkeit an sich, für Selbstwerdung: Das väterliche Ideal ist der Nicht-Vater. Kern dieser Problematik ist die Identifikation mit den Eltern und deren Begehren als Repräsentanten einer polaren hierarchischen Geschlechterordnung(10).

Die Objektwahl kann bei beiden Idealtypen als narzisstisch charakterisiert werden: Die Objektwahl ist geleitet von einem Vater-oder-Mutter-Ideal, das Eigenschaften besitzt, welche entweder Teil des eigenen Ichs waren (männlicher Narzissmus) oder werden sollten (weiblicher Narzissmus), oder an frühkindliche Beziehungen/Konflikte erinnern (Mutter-Kind-Beziehung). Gleichwohl ist die Beziehung zwischen diesen beiden eine ungleiche in dem Sinn, dass Männlichkeit und Weiblichkeit keine symmetrische Werteordnung repräsentieren, sondern die männliche Position immer auch mit Macht und Überlegenheit einhergeht. Die Beziehung zur Mutter und den mütterlichen Objekten enthält unausweichlich - und mag dies überaus subtil sein - die gesellschaftlich-kulturelle Abwertung und Geringschätzung des Weiblichen.

Dialektik von Herrschaft und Unterwerfung in der Geschlechterbeziehung

Jessica Benjamin hat sich als Psychoanalytikerin und an der Kritischen Theorie geschulten Gesellschaftstheoretikerin der Erfassung der polaren Geschlechterbeziehungen angenommen und aus explizit feministischer Perspektive die unbequeme Frage gestellt, inwiefern die Unterdrückten an der Aufrechterhaltung dieses Herrschaftsverhältnisses mitwirken. Welche erworbenen psychischen Dispositionen korrelieren mit Unterwerfung, wie entsteht die libidinöse Verstrickung mit der eigenen Unterjochung? Anders als die klassische Psychoanalyse und damit die Kritische Theorie setzt sie bereits die präödipale (präsexuelle) Phase der Differenzierung; heißt die Phase, in der die Autonomie bedeutsam wird als entscheidend für die Identifizierung mit den geschlechtlichen Aspekten der Eltern und somit der Genese eines geschlechtlichen Selbst. Mit der Entwicklung des Geschlechtscharakters werden zeitgleich die Weichen für die Etablierung eines kongruent geschlechtsspezifischen Bindungsstils gestellt, der unter gegenwärtigen Bedingungen mit Herrschaft oder Unterwerfung einhergeht. Dazu ausführlich im zweiten Teil.

Literatur

Adorno, T., Frenkel-Brenswik, E., Levinson, D. J., & Sanford, R. N. (2019). The authoritarian personality. Verso Books.
Benjamin, J. (1993). Die Fesseln der Liebe: Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt a.M.: Stroemfeld [EA: 1990].
Burkart, G. (2014). Liebe im Kapitalismus zwischen Geschlechtergleichheit und Marktorientierung. GENDER–Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 6(2).
Chodorow, N. (1985). Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter. München: Frauenoffensive.
Freud, S. (2014). Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Frankfurt a. Main: Fischer.
Illouz, E. (2018). Warum Liebe endet: Eine Soziologie negativer Beziehungen. Suhrkamp Verlag.
Strömquist, L. (2018). Der Ursprung der Liebe. avant-verlag.
Tietge, A. (2019). Make Love, Don't Gender!?: Heteronormativitätskritik und Männlichkeit in heterosexuell definierten Paarbeziehungen. Wiesbaden: Springer VS.
Umrath, B. (2019). Geschlecht, Familie, Sexualität: Die Entwicklung der Kritischen Theorie aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung (Vol. 61). Campus Verlag GmbH.

AG Widerspruch

Anmerkungen

(1) Wenn im folgenden Text immer wieder von männlichen und weiblichen Charakteren, Eigenschaften und Fähigkeiten, sowie Beziehungsstilen gesprochen wird, so ist damit unter keinen Umständen den Geschlechtern inhärente, essenzielle Wesenseigenheiten gemeint. Das soziale Geschlecht wird verstanden als gesellschaftlich hergestellte Ideologie, die zuerst in der Familie psychisch internalisiert und in den späteren Beziehungen, allen voran den Intimbeziehungen, verfestigt wird. Der anatomische Geschlechtsunterschied zu Beginn des Lebens wird im Laufe des Lebens zu einer psychischen und sozialen Differenz. Die gesellschaftliche Ungleichheit produziert psychosoziale Geschlechts-und Beziehungscharaktere.
(2) Da wir uns in unserem Theoriegerüst grob an Kritischer Theorie, Freud und Jessica Benjamin halten, liegt unseren Überlegungen ein bestimmtes Modell von der bürgerlichen Familie, idealtypische Konstruktionen von Geschlecht, sowie primär die heterosexuelle Beziehung als Untersuchungsobjekt für Herrschaftsbeziehungen vor. Wir wagen jedoch die steile These, dass die unheilvolle Dynamik in intimen Beziehungen, jene, die bestimmt ist von Herrschaft und Unterwerfung oder etwas weniger drastisch formuliert, vom ewigen Ringen um Nähe und Distanz, Weglaufen und Hinterherlaufen- nicht auf heterosexuelle Beziehungen beschränkt ist. Anders formuliert: Die patriarchale Familiensituation, die in der Mehrheit dominant männliche oder weibliche Charaktere und Beziehungsweisen hervorbringt (kann auch innerhalb der Beziehung wechseln oder abhängig vom Partner bzw. der Partnerin sein), muss nicht notwendigerweise die klassische Vater-Mutter-Kind-Familie sein. Dasselbe gilt für die männlichen und weiblichen Charaktere und Beziehungscharaktere, welche nicht kongruent mit den empirischen Geschlechtern sein müssen. Deshalb vermuten wir, dass in homosexuellen Beziehungen ähnliche Dynamiken auftreten, da diese Verhaltensmuster lediglich die polare Organisation der Gesellschaft und deren Wertesystem repräsentieren und keine natürlichen Eigenschaften der Geschlechter sind.
(3) Objekt wird im psychoanalytischen Jargon allgemein für Personen außerhalb des eigenen Selbst (genannt Subjekt) verwendet. In diesem Text wird Objekt somit neutral als auch negativ verwendet, sofern es um die weibliche Objektposition im Gegensatz zum männlichen Subjekt geht.
(4) Die sexuelle Revolution versprach mehr sexuelle Freiheiten, die Abtreibung wurde unter bestimmten Voraussetzungen straffrei, Vergewaltigung in der Ehe strafbar, Geschlechterrollen weniger rigide und geschlechtliche Arbeitsteilung flexibler, die Ehe als vormals einzig legitime Beziehungsform verlor an Stellenwert. (Vgl. Burkhardt, 2014, Illouz, 2008)
(5) In den Studien zur Authoritarian Personality beschrieben die high scorer, also die besonders autoritären Charaktere, ihren Vater als »streng, jähzornig, kalt, distanziert und zurückweisend“ (Umrath: 249). Low scorer beschrieben ihren Vater ebenfalls als kalt und distanziert, aber häufiger als sanft und gelöst. So vermuten wir, dass die Distanz heute immer noch eine Rolle spielt (sei es physisch oder emotional), und die sich in ihrer Form und Ausprägung wandelnde Gewalt noch immer existsent ist, jedoch weniger als solche wahrgenommen wird. Ähnlich zeigt sich dies bei der Beschreibung der Mütter: high scorer betonten mehr die Unterwürfigkeit, Aufopferung, low scorer mehr die Wärme, Empathie und Liebenswürdigkeit. Wie wir sehen wird die Dynamik von Herrschaft (Männlichkeit) und Unterwerfung (Weiblichkeit) etwas abgemildert und erfährt gewisse Modifikationen, die männlichen und weiblichen Rollen bleiben jedoch klar verteilt; im Heute haben wir also noch immer dieselbe Rollenverteilung (Umrath, 2019).
(6) Wir hatten vorhin schon erwähnt, dass das empirische/anatomische Geschlecht nicht zwangsläufig mit der Verkörperung von Männlichkeit/Weiblichkeit einhergehen muss. Dennoch zeigt die Empirie durchaus, dass Jungen eher Männlichkeit internalisieren und Weiblichkeit verdrängen (mal mehr mal weniger erfolgreich) und Frauen in der Tendenz sich eher mit der internalisierten Weiblichkeit herumschlagen müssen. Selbstverständlich gelingt beides nicht widerspruchsfrei, insofern die jeweils gegengeschlechtlichen Identifikationen nicht einfach verschwinden.
(7) Diese Studie ist auch für uns besonders interessant, weil sie als umfassende wissenschaftliche Studie wiedergibt, was wir entweder leidvoll erfahren, beobachten und unwissenschaftlich analysiert haben: Gerade in sich als progressiv, gar links verstehenden Kreisen (denen wir uns in irgendeiner Weise ja auch irgendwie zuzählen), ist das männliche Dominanzgebaren nicht immer so einfach zu durchschauen, abgesehen von klassischen Fuckboys (Dominanz) und Ghosting experts (Nähe Distanz Problem). Denn Mann von heute kann besser so tun, als ob und das gefühlige, empathische Wesen vorgeben zu sein, während dahinter oft viel Leere und nicht so viel Gefühl ist, ob der männlichen Zurichtung und damit notwendigen Abspaltung von Emotionen. Somit ist die Fähigkeit zu wirklich emphatischer Zuwendung, als auch emotionaler Beziehungsarbeit tendenziell verkümmert.
(8) Diese Frauen verkörpern diese misogyne Vorstellung von Weiblichkeit selbstverständlich nicht freiwillig und schon gar nicht, um sich selbst abzuwerten. Ebenso wenig sind sie natürlicherweise so gefühlvoll, passiv und kindlich. Komplementär zum männlich-autoritären oder in der neuen Version, männlich-narzisstischen gibt es die weiblich-autoritären oder weiblich-narzisstischen Charaktere (die selten in Reinform auftreten, es geht wie immer um Idealtypen). Diese Weiblichkeit ist ebenso ein Schein wie es die komplementäre Männlichkeit ist. Sie ist Ausdruck einer stereotyp-patriarchalen Sozialisation mit einem dominanten/abwesenden Vater und einer unterwürfigen/abhängigen Mutter. Auch das gegenseitige Begehren dieser beiden ist Ausdruck einer patriarchalen inneren Triebstruktur, bedingt durch die spezifische familiäre Sozialisation.
(9) Das soll nicht bedeuten, dass die reale Mutter nicht tatsächlich Fehler macht, auch zu wenig auf die Bedürfnisse des Kindes eingeht, überfordert ist, usw. Oder eben tatsächlich überfordernd dem Kinde gegenüber, wirklich dominant und verschlingend ist, nicht nur in der kindlichen Fantasie, ob der relativen Macht gegenüber der gesellschaftlichen Ohnmacht in der frühen Betreuungssituation (siehe Kapitel über sadomasochistische Triebstruktur). Es gibt aber ein eklatantes Ungleichgewicht gegenüber der kindlichen Vorstellung der Mutter und der kindlichen Vorstellung des Vaters und der Notwendigkeit die frühen Bindungen von dieser Person zu lösen, aufgrund dessen, dass die erste Liebe für beide Geschlechter, zumeist die Mutter ist. Für die Entwicklung von Männlichkeit/Weiblichkeit und die Bindungsfähigkeit ist dieser Unterschied entscheidend. Ausführlich dazu im 2. Teil der Arbeit.
(10) Schon Freud spricht über die »Wahl« unserer LiebespartnerInnen als Klischee, aber wirkmächtiges Klischee, wenn er sagt »(…) daß jeder Mensch durch das Zusammenwirken von mitgebrachter Anlage und von Einwirkungen auf ihn während der Kinderjahre eine bestimmte Eigenart erworben hat, wie er das Liebesleben ausübt,[.]Das ergibt sozusagen ein Klischee (oder auch mehrere), welches im Laufe des Lebens regelmäßig wiederholt, neu abgedruckt wird, insoweit die äußeren Umstände und die Natur der zugänglichen Liebesobjekte es gestatten, welches gewiss auch gegen rezente Eindrücke nicht völlig unveränderlich ist.« (Vgl. Freud, 1912b: 364f.; nach Tietge, 2019:220)

20.06.2022
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