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Aktuelle Termine

CEE IEH-ARCHIV

#264, Februar 2021
#265, April 2021
#266, Juni 2021
#267, August 2021
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#270, Dezember 2021

Aktuelles Heft

INHALT #266

Titelbild
Distanzierung
• das erste: Die islamistische Rechte. Teil 2: Türkische Massenbewegungen und Staatsislamismus
• inside out: Presserat spricht Missbilligung gegen Leipziger Volkszeitung Online aus
• interview: Interview mit CopWatch Leipzig zur Waffenverbotszone und zur Polizei
• review-corner buch: Frauenzwangsarbeit in Markkleeberg
• kulturreport: Frech frech frech.
• position: Das ewige Rauschen wird zum Dröhnen
• position: Mivtza Shlomo – Operation Salomon
• doku: Waffenarsenal in Nordsachsen
• das letzte: Gegendarstellung

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Gegendarstellung

Auf den letzten Seiten der Februar/März-Ausgabe des CEE IEH hatte ich mich kursorisch mit der sächsischen Pandemie-Politik beschäftigt(1) und war abschließend zu der leisen Hoffnung gelangt, mich nicht mehr allzu lange Zeit mit den hiesigen Zuständen herumschlagen zu müssen. Beim Verfassen des Beitrags war mir der im September vergangenen Jahres bei transcript erschienene Sammelband Jenseits von Corona leider noch unbekannt. Sonst hätte ich gewusst, dass es auch inmitten der Krise wichtig ist, »nicht nur in den Befindlichkeiten des Hier und Jetzt zu verweilen«.(2) Ohne »jahrelange Beschäftigung in der Wissenschaft« fehlte mir (wie wohl den meisten anderen) der scharfe Blick für die Entwicklungslinien hin zu jener Welt, in der »wir leben werden, wenn wir durch diese Krise gekommen sind, wenn das Virus seinen Schrecken verloren haben wird.«

Umso erfreuter also war ich, dass »deshalb [!] über 30 renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler […] ihren Blick auf die Welt nach Corona mit uns […] teilen« und »Orientierung bieten« wollten, und werde mich in der folgenden Selbstkritik maßgeblich auf den Beitrag von Carl-Eduard Scheidt beziehen.

Dieser sieht zwar einige Ungewissheiten hinsichtlich »der jetzt schon erkennbaren trajektoralen Linien der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung«, doch steht ihm ein »Verlierer der Post-Pandemie-Ära«, neben der »Giga-Kreuzschifffahrt«, bereits fest: »der Handschlag«.(3)

Ich gestehe ein, mich im Vorfeld meiner Glosse nicht ausführlicher mit der Geschichte und Verbreitung des Händeschüttelns beschäftigt, die Aussagen sächsischer Politiker somit ungeprüft wiedergegeben und damit unkritisch das Bild einer landestypischen Eigenheit weiterverbreitet zu haben. Doch der Experte für »klinische Bindungsforschung […] und Synchronisation der Interaktion«(4) belehrte mich nun »pointiert, prägnant und kenntnisreich«(5) eines Besseren. Er weiß den Handschlag nicht bei den Ex-Zonis, sondern »in vielen Ländern der westlichen Hemisphäre verbreitet«. Doch zu seinem Bedauern droht dieses »Ritual der Begrüßung und Verabschiedung schon bald zu einem archaischen Relikt der Vor-Pandemie-Zeit« zu werden. Denn »wenn es überhaupt in der globalen Corona-Krisenbekämpfung Einigkeit zwischen Hygienikern, Epidemiologen und Politikern gab, dann darin, dass die Handhygiene neben dem sehr viel aufwendigeren [sic!] Mund-Nasen-Schutz ein Kernbestandteil jeder Prävention zu sein hat.«

Von Erzgebirgslandrat Frank Vogel (CDU) wurden wir nicht nur über den damit einhergehenden Werteverlust, sondern auch über die Widernatürlichkeit der AHA-Regeln gegenüber dem gemeinen Erzgebirger sensibilisiert. Auch Scheidt entdeckt in der Natur der Sache »ein der menschlichen neurobiologischen Entwicklung ziemlich tief verankertes Bewegungsmuster« der »Hand-Mund- bzw. […] Hand-Gesichts-Koordination«, »das auch in vielen Alltagskonversationen unwillkürlich[!] aktiviert wird«.

»Warum aber – könnte man fragen –«, und Scheidt tut sich das, »hat man denn überhaupt so lange an diesem hygienischen Amok-Ritual festgehalten«? »Warum angesichts der großen kulturellen Vielfalt unterschiedlicher Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale, von denen viele auf Körperkontakt nicht nur zwischen den Geschlechtern verzichten, sich ausgerechnet die Hände geben, mit deren Hautoberfläche wir doch ständig gewollt oder ungewollt mit dem ›Schmutz der Welt‹ in Berührung kommen?«

Vom Leitkultur-Beitrag des ehemaligen Bundesinnenministers Thomas de Maizière (CDU) in der Zeit erfuhren wir, dass es hierzulande »er­prob­te und wei­ter­zu­ge­ben­de Le­bens­ge­wohn­hei­ten gibt, die es wert sind, er­hal­ten zu wer­den«, und dass »nicht[,] weil sie Inhalt, sondern weil sie Ausdruck einer bestimmten Haltung sind«. Aber was weiß ein studierter Jurist und an nationalkulturellen Absonderungen interessierter Politiker schon vom Allzumenschlichen der Westler, das auch diese in der Masse erst zum Ende des 19. Jahrhunderts ergriff?

Scheidt jedenfalls erblickt im Handschlag »nicht nur eine kulturell eingeübte Geste der friedensstiftenden Begrüßung, sondern zudem eine fühlbare Weise, sich der Präsenz eines anderen Menschen zu vergewissern. Wir registrieren in dieser Geste der Berührung spontan und zumeist unwillkürlich vieles von der Individualität der Person, mit der wir in Beziehung treten.«

Weil die Konfrontation mit der Individualität eines/r Anderen besonders fordistisch sozialisierte Menschen verunsichern kann, besticht der Handschlag auch durch eine gescheite Regulationskontrolle: »Der Gebrauch der Hände hat dabei noch den Vorteil, dass durch den Grad der Streckung im Schultergelenk mühelos auch die gewünschte Distanz in der Begegnung eingestellt und variiert werden kann.«

So kann »ein unter hygienischen Gründen durchaus abzulehnendes Ritual wie der Handschlag aus sozialen Gründen doch seine Berechtigung haben«, denn »in den kritischen Augenblicken einer menschlichen Begegnung, wie sie die Begrüßung und das Abschiednehmen darstellen, vergewissern wir uns der wohlwollenden Präsenz des Anderen durch eine dosierte und aufeinander abgestimmte, synchronisierte körperliche Bewegung und Berührung.«

Händeschütteln gegen den Volkstod

Hier zeigt sich die Kehrseite, die hinter der amtlichen Bauchpinselei über den »stärkeren Gemeinsinn bzw. Zusammenhalt« (Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU)) der Sachsen und dem Lob des »sehr familiären, sehr heimatverbundenen« Erzgebirgers, der »auf der persönlichen Ebene gerne und viele Kontakte und Freundschaften« pflegt (Erzgebirgslandrat Vogel), steckt: Nach Scheidt entlasten »Begrüßungsrituale […] von der Unsicherheit beim Aufnehmen eines Kontaktes, sei es bei der ersten Begegnung oder beim Wiedersehen nach einer Zeit der Trennung. Bei der Verabschiedung hingegen hilft das Ritual über den Schmerz der Trennung hinweg und birgt die Vergewisserung der Verbundenheit in der Fortdauer der Beziehung.«

Unter den geselligen Sächsinnen und Sachsen scheint diese Furcht besonders verbreitet. Laut dem letzten Sachsen Monitor sorgten sich bereits 2018 78% eher oder sehr, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt und 58% eher oder sehr, »dass die deutsche Kultur und Eigenart verloren geht«.

In der Leipziger Volkszeitung (LVZ) wurde dem Händeschütteln folglich ein eigener Beitrag zur Volkshygiene zugeschrieben. Ein Bericht zu den sonntäglichen Protesten an der B107 in Trebsen am 18.04.21 schilderte unter anderem die Beweggründe zweier beteiligter Wurznerinnen: »Die Demonstrantin Ingeborg Meißner […] protestiert vor allem gegen das Impfen«, erfahren die Leser/innen von Reporter Frank Pfeifer, der darüber hinaus erwähnt, dass sie dabei eine Fahne trage, »mit der sie die Wiederauferstehung des Königreichs Sachsens fordert, die ihrer Meinung nach vorbereitet wird und in nicht allzu ferner Zukunft erfolgt.«

Hinter solch auf den ersten Reptiloiden-Blick zunächst abwegig erscheinenden politischen Forderungen stehen anthropologische Grundbedürfnisse, deren Befriedigung unter dem AHA-Regime zwangsläufig eingeschränkt ist. Ohne Handschlag blieben Frau Meißner nur die verbale Versicherung der eigenen menschlichen Präsenz (»Wir sind doch keine Labor-Ratten«) und die Mahnung, sich angesichts der prekären Fortdauer der Beziehung ihrer völkischen Verbundenheit zu vergewissern (»Das ist der Dritte Weltkrieg gegen uns.«).

Die LVZ ließ sie anschließend ob der drastischen Wortwahl potenziell verschreckte Leser/innen beschwichtigen: »Beide Frauen beteuern, mit Radikalität jedweder Art nichts am Hut zu haben. Problematisch sei es für sie nicht, wenn sie mit Rechtsradikalen gemeinsam demonstrieren. ›Diese haben in Bezug auf Corona die gleiche Meinung wie wir‹, erklärt Ingeborg Meißner. ›Wichtig ist nur, dass wir alle friedlich bleiben. Ich gebe jedem die Hand. ‹«

Diesem tiefliegenden sächsischen Bedürfnis hatte der ebenfalls in Wurzen lebende LVZ-Redakteur Haig Latchinian bereits Mitte März in der Muldentaler Lokalausgabe zum Ausdruck verholfen: »Der Sachse hofft, dass bald wieder alles gut wird. Dass das Virus geht und das Wir kommt. Als braver Erdenbürger mag er keinen Ärger: Jung gegen Alt, Frau gegen Mann, Links gegen Leugner, Handel gegen Wandel, Bulgur gegen Beffsteck. Mir scheint, sobald es erlaubt ist, müssen wir Sachsen uns zwingend die Hand geben – nicht nur zur Begrüßung.«

Ich schlage vor: zum Abschied.

shadab

Anmerkungen

(1) Vgl. Sachsen seucht sich weg, in: CEE IEH #264, S. 51-57, online: www.conne-island.de/nf/264/13.html
(2) Dieses und alle folgenden Zitate der ersten beiden Absätze entstammen der Einleitung von Bernd Kortmann und Günther G. Schulze in: Dies. (Hg.): Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft, Bielefeld 2020, S. 10.
(3) Dieses und alle weiteren Zitate entstammen, sofern nicht anders angegeben, dem Beitrag Abschied vom Handschlag von Carl-Eduard Scheidt in: ebd., S.43-50.
(4) Autorenverzeichnis, in: ebd., S. 313.
(5) Kortmann, Bernd; Schulze, Günther G.: Einleitung, in: ebd., S. 10.

23.06.2021
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