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Aktuelle Termine

CEE IEH-ARCHIV

#261, März 2020
#262, August 2020
#263, Oktober 2020

Aktuelles Heft

INHALT #261

Titelbild
Wahlen und andere Wahnsinnigkeiten
• das erste: Ein neuer Ordnungsbund für Thüringen
• inside out: Stellungnahme der Kritischen Jurist:innen Leipzig (KJL) und des Conne Islands zum Entzug der Gemeinnützigkeit des VVN-BDA vom 10.12.2019
• inside out: Stellungnahme des Conne Islands zum Übergriff beim HGich.T-Konzert am 27.12.2019
Tarek (K.I.Z.)
Die Sterne? Schon mal gehört…
Russian Circles × Torche
Turbostaat
Turbostaat
• review-corner buch: Chaos und Betriebsunfälle
• position: I hate to say we told you so!
• doku: Wir müssen doch etwas tun!
• das letzte: Das letzte Interview

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Ein neuer Ordnungsbund für Thüringen

»Endlich eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat«, stand auf seinen Wahlplakaten zur Thüringer Landtagswahl im vergangenen Oktober. Nach Annahme der Wahl zum Ministerpräsidenten durch FDP, CDU und AfD Anfang Februar war es denn auch der ehemalige Gymnasialgeschichtslehrer und AfD-Führer Björn Höcke, der Thomas Kemmerich (FDP) als Erster gratulierte. Dessen Angebot, nach den »Zeiten des Wahlkampfs und der gegenseitigen [!] Angriffe« lieber »gemeinsam über neue Formen der Zusammenarbeit«, etwa eine »von unseren Parteien gemeinsam getragene Expertenregierung« oder eine von seiner AfD »unterstützte Minderheitenregierung« aus CDU und FDP, »ins Gespräch zu kommen«, lag Kemmerich und CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring bereits kurz nach der Wahl im Herbst vor. »Vollende die Wende!« hatte die AfD im Wahlkampf plakatiert. Ein Auftrag, der Kemmerich persönlich gereizt haben mag.
Den Entschluss, Politiker zu werden, fasste er nach eigenen Angaben 2006 infolge der Erfurter Oberbürgermeister-Wahlen. »Sechs große Thüringer Städte fielen unter die Regentschaft der SPD«, erinnerte er sich mit Grauen noch drei Jahre später rückblickend vor den Landtagswahlen. Das war völlig inakzeptabel: »Damit stand fest, ›es reicht nicht mehr aus, auf bessere Zeiten zu hoffen, man muss sich aktiv einbringen um wirklich etwas zu bewegen‹.« Doch sein wirtschaftlicher Erfolg bei der marktgerechten Zurichtung privatisierter DDR-Unternehmen ließ sich nicht ohne Weiteres auf die politische Sphäre übertragen. Als er 2012 für das Erfurter Oberbürgermeisteramt kandidierte, landete er unter den sieben Bewerber/innen mit 2,7 % auf dem letzten Platz. Auch während der Auszählung der letzten Landtagswahlen musste seine Partei zittern. Der vorläufig ausgezählte Stimmenanteil von 5,0005% ließ noch ein Scheitern an der Sperrklausel hoffen, in der endgültigen Auszählung sicherten schließlich 73 Stimmen (5,0066%) den Einzug. Dieser knappe Erfolg sollte nicht ungenutzt bleiben. Zumal das Schreckensgespenst einer Neuauflage der Linkspartei-geführten Landesregierung einen, den schon eine handvoll SPD-Bürgermeister/innen zum Gegenlenken in die Politik zwangen, ungleich härtere Manöver erfordern würde.
Am Wahlabend vom ZDF heute journal auf die von ihm zur Geltung gebrachte »staatspolitische Verantwortung« hin befragt, ob er trotz ausdrücklicher Warnungen im Vorfeld vor einer Ausnutzung der Gelegenheit durch die AfD nicht geahnt habe, was mit seiner Entscheidung zur Kandidatur auf ihn zukommen könnte, antwortete Kemmerich: »Wir haben sehr detailliert in den Parteigremien besprochen, diese Kandidatur gegen Links und Rechts der demokratischen Mitte anzubieten und wir mussten damit rechnen, dass dieses« - welches? - »passiert.« Auch CDU-Fraktionschef Mike Mohring, aus dessen Besprechungsraum Kemmerich direkt zur Abstimmung in dritter Runde kam, beteuerte später, er habe alle seine Fraktionskolleg/innen »gefragt, ob sie mit der Situation umgehen können. Jeder hat Ja gesagt, jeder Einzelne.«
Irgendwie ist der Plan ja auch aufgegangen: es gab im dritten Wahlgang eine knappe Mehrheit von einer Stimme für Kemmerich, aus welcher er den »Auftrag« zur Regierungsbildung ableiten konnte. »Wir« - man beachte den Pluralis Majestatis für seine Eine-Person-Regierung - »werden jetzt«, wo die schmutzige Legitimationsprozedur der demokratischen Mehrheitsbeschaffung hinter ihm lag, »eine Politik machen« (ganz unspezifisch) »contra AfD« und »auch gegen linke radikalistische Forderungen« wie - hier wird er konkret - »Enteignungsphantasien«. Der neu gewählte Ministerpräsident kündigte in Ermangelung eines Regierungsprogramms und einer -mannschaft an, mit seiner Regierung der bürgerlichen Mitte, für deren Wahl es keine allgemein-bürgerliche, sondern nur eine konservativ-protofaschistische Mehrheit gab, »durch Taten überzeugen« zu wollen. Es mag angesichts der wiederholt unter Beweis gestellten Prinzipienlosigkeit von SPD und Grünen nicht ganz ausgeschlossen gewesen sein, dass diese einer bereits von Kemmerich zuvor beworbenen »bunten Regierung« mit CDU und FDP nach der Abwahl des bisherigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) beitreten würden. Doch der unter Zuhilfenahme der AfD ausgeführte Schlag gegen die über Monate hinweg vorbereitete rot-rot-grüne Minderheitsregierung, die vereinbarte Ressortverteilung und den ausgearbeiteten Koalitionsvertrag bot selbst den Wendehalsigsten unter ihnen keine glaubwürdige Option. Nach dem angekündigten Rücktritt Kemmerichs und der Verweigerung von Neuwahlen durch die Landes-CDU versuchte sich deren Bundesparteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrer Forderung nach einer Kandidatur aus den Reihen von SPD oder Grünen, »die nicht das Land spaltet, sondern das Land eint«, weiter in Vereinnahmungsversuchen zwecks Spaltung des rot-rot-grünen Koalitionsprojektes. Dass sie letztlich selbst politisches Opfer der Spaltung und Richtungskämpfe in ihrer eigenen Partei wurde, gehört zur Ironie der Geschichte.
Neuwahlen des Parlaments wurden von CDU und FDP unter Verweis auf eine erwartete Wiederkehr der politischen Pattsituation abgelehnt, obwohl oder wahrscheinlich vielmehr weil zugleich die erste Forsa-Wahlabsichtsfrage eine deutliche Mehrheit des linken Lagers mit einer erstarkten Linkspartei (37%, + 6%-Pkt.) und einer stark abgeschlagenen CDU (12%, -9,7%-Pkt.) und ausgeschiedenen FDP (4%) ermittelt hatte.
Da Kemmerichs Strategie einer »bunten Regierung« nicht fruchtete und ohnehin eine personell noch kleinere Minderheitsregierung als Rot-rot-grün bedeutet hätte, gerieten die bisher nicht auf eine Tolerierung durch AfD oder Linkspartei angewiesenen Bundes- und westdeutschen Landesverbände von CDU und FDP unter Druck. Es wurden recht zweifelhafte Versuche unternommen, in die Thüringer Landespolitik durchzuregieren.
Dabei kündigte sich bereits im Vorfeld der Wahl des Ministerpräsidenten eine parteiübergreifende Zusammenarbeit von CDU, FDP und AfD zur Einlösung des gemeinsamen Wahlversprechens der Abwahl der rot-rot-grünen Landesregierung an. So hatte sich der spätere AfD-Kandidat für die Wahl, Christoph Kindervater, zunächst bei AfD, CDU und FDP als Kandidat beworben. Der parteilose Bürgermeister der Kleinstgemeinde Sundhausen hatte im Jahr zuvor bei der Kreistagswahl noch auf einer Liste der CDU kandidiert und bezeichnete sich selbst als Unterstützer der erzkonservativen CDU-nahen Werteunion. Als Kandidat der AfD hatte er bereits im ersten Wahlgang drei Fremdstimmen anderer Parteien, höchstwahrscheinlich von CDU und/oder FDP, erhalten. Die FDP hingegen hatte im Vorfeld, wohl aus Kalkül über die zu erwartende ungeteilte Zustimmung der AfD-Fraktion zu einem ›bürgerlichen‹ Kandidaten und den damit verbundenen Makel, mehrfach betont, lediglich einen Kandidaten nominieren zu wollen, wenn die AfD ihrerseits einen aufstelle. Nachdem die AfD im dritten Wahlgang dann nicht ihren eigenen Kandidaten, sondern Kemmerich gewählt hatte, betonten CDU und FDP stets scheinheilig, dass man für das Wahlverhalten anderer Parteien keine Verantwortung trage. Dass der Zustimmung in Wahlen neben dem Machtkalkül auch eine inhaltliche Übereinstimmung mit den politischen Zielen zugrunde liegt, wurde dabei geflissentlich ignoriert und auch in Medienberichten nicht weiter thematisiert.
Dabei hatte Kemmerich bereits Mitte Januar vor einem parteiübergreifenden Treffen der demokratischen Fraktionen Mehrheiten gegen eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung mit den Worten »das kann man im parlamentarischen Verfahren nicht verhindern« ausdrücklich nicht ausschließen wollen. Am selben Abend noch beschloss auch die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag »alle parlamentarischen Möglichkeiten [!] nutzen« zu wollen, »um den im Wahlprogramm der CDU Thüringen beschriebenen Markenkern umzusetzen.« Es blieb dem Leiter ihres wissenschaftlichen Dienstes Karl-Eckhard Hahn vorbehalten, wenige Tage vor der Wahl des Ministerpräsidenten in einem Meinungsbeitrag für das liberalkonservative Debattenmagazin The European festzustellen, dass die »Programme von AfD, CDU und FDP« »zu rund zwei Dritteln ähnlich« seien. Der Mann weiß wovon er schreibt. Er ist Vorstandsmitglied der völkisch-nationalen Deutschen Gildenschaft, zu deren Mitgliedern u.a. auch der Spiritus Rector der AfD, Götz Kubitschek, das Kuratoriumsmitglied der AfD-nahen Desiderius Erasmus-Stiftung, Karlheinz Weißmann - beides Gründer des neurechten Instituts für Staatspolitik sowie des angegliederten Verlag Antaios -, und der Chefredakteur der neurechten Wochenzeitung Junge Freiheit, Dieter Stein, gehör(t)en.
Hahn ging in seinem vom später gegangenen Ostbeauftragten der Bundesregierung Christian Hirte (CDU) auf Twitter mit dem »Prädikat: Lesenswert!« versehenen Beitrag auch der angesichts von Kemmerichs angekündigten Kandidatur »virulenten« Frage nach, was es bedeute, »wenn eine [!] Regierung mit Stimmen von AfD-Abgeordneten ins Amt kommt?« In seiner Antwort gelangte er zu dem rechtspraktisch zutreffenden und für das politische System der repräsentativen Demokratie bezeichnende Urteil: »Die Stimmabgabe zugunsten eines FDP-Kandidaten, der ohne einen Koalitionsvertrag oder sonstige politische Zusicherungen an den Start ginge, verpflichtete diesen politisch zu absolut nichts. [...] Bei der Zusammenstellung eines Kabinetts wäre er vollkommen frei. [...] Sein Kabinett stünde im Parlament vor keiner größeren oder kleineren Herausforderung als jedes andere Minderheitskabinett auch. Jede Minderheitsregierung muss sich Mehrheiten suchen, weil sie keine eigene hat.«
Hans-Georg Maaßen (CDU), der Mitglied der Werteunion ist, als Präsident des deutschen Inlandsgeheimdienstes von August 2012 bis November 2018 mit dem Schutz des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland betraut war und zwischenzeitlich in Medienberichten selbst als möglicher Kandidat für das Ministerpräsidentenamt gehandelt wurde, teilte »dieses Entsetzen und diese moralische Entrüstung« im Gespräch mit dem NDR-Magazin Panorama wohl schon aus politischen Gründen ausdrücklich nicht. Als studierter Jurist wusste er jedoch auch scheinbar unabhängig seines eigenen politischen Interesses darauf hinzuweisen, dass es »letztendlich bei Wahlen nicht darauf ankommt, von wem man gewählt wird, sondern wer gewählt wird.« In seinem Satz verschränken sich verräterisch objektives und subjektives Interesse: Den ersten Teilsatz konsistent zu Ende geführt, müsste er vielmehr mit »sondern dass man gewählt wird« enden. Dass »man« die praktisch notwendigen Stimmen für Beschlussmehrheiten anschließend schon bei der AfD finden würde, waren sich Hahn und Maaßen realistischerweise so sicher, dass sie es nicht oder nur in allgemeiner Form – wir sahen schließlich bereits weiter oben, dass niemand Fremdstimmen von woher auch immer selbst zu verantworten habe – problematisieren mussten.
Die in ihren Teilnehmer/innenzahlen übersichtlich gebliebenen, spontanen Protestkundgebungen der Unterstützer/innen des unterlegenen rot-rot-grünen Regierungsprojektes erlangten maßgeblich durch die Unterstützung bundesweiter bürgerlicher Medien eine gewisse Bedeutung. Im Verlauf eines Tages zeigte sich jedoch, was aus Vorwahlbefragungen bereits bekannt war: eine schwarz-grüne oder auch »bunte« Minderheitsregierung fehlte es auch außerhalb des Parlaments an der Unterstützung gesellschaftlich relevanter Akteure. Neben einer Mehrheit der Wahlberechtigten(1), vielen einflussreichen, um ihre eigene politische Zukunft besorgten Bundes- und Landespolitiker/innen aus CDU und FDP und dem überwiegenden Teil der bürgerlichen Presse betraf das auch mehrere Landesverbände der evangelischen Kirche sowie schließlich auch den Verband der Wirtschaft Thüringens. Letzterer hatte Kemmerich unmittelbar nach dessen Wahl noch gratuliert und »Kraft für die großen Herausforderungen« gewünscht, ging jedoch am Folgetag »insbesondere nach den Absagen von SPD und Grünen, die jegliche Zusammenarbeit ablehn[t]en«, »beunruhigt« auf Distanz, da eine »handlungsfähige Regierung« nicht absehbar »sichergestellt« werden könne, und stellte die Frage nach Neuwahlen. Zweieinhalb Stunden nach dieser Meldung im Live-Ticker konnte der MDR schließlich über die Rücktrittsankündigung Kemmerichs berichten.
Der »Makel« der Thüringer Ministerpräsidentenwahl schade dem Wirtschaftsstandort nachhaltig, hieß es tags darauf. Die Unternehmen aber forderten ein »kalkulierbares, zügiges und verlässliches« politisches Handeln im »Austausch […] auf Augenhöhe«. Dazu gab man sich in realistischer Einschätzung der rot-rot-grünen Wirtschafts- und Finanzpolitik bereits im Vorfeld pragmatischer als die politische Konkurrenz von CDU und FDP. So berichtete etwa Spiegel Online, dass »wenige Wochen vor der Ministerpräsidentenwahl [...] zwei Unternehmerverbände die CDU aufgefordert« hätten, »mit einer möglichen rot-rot-grünen Minderheitsregierung und ihrem Kandidaten Bodo Ramelow zu kooperieren.«
Ramelow verstand den Auftrag. In fünfjähriger Regentschaft vorbereitet, übernahm sein Regierungsprojekt die von der CDU im westdeutschen Nachkriegsdeutschland aufgebaute und später in die neu angeschlossenen Ostbundesländer exportierte Rolle des politischen Garants von Stabilität und Status Quo. Gleich nach dem angekündigten Rücktritt Kemmerichs erklärte er sich BILD gegenüber für zuständig, eine »fundamentale Staatskrise« abzuwenden. Als zu diesem Zeitpunkt immerhin abgewählter, aber im Geiste eben fortregierender Landesvater a.D. erklärte er sich nach dem gescheiterten Manöver von CDU, FDP und AfD gegen ihn »willens, meine Hand auszustrecken« und »auch in Abstimmung mit CDU und FPDP das Land bis zu Neuwahlen zu regieren«. Die beiden Parteien hingegen versuchen, Land zurückzugewinnen. Während der im Amt bestätigte FDP-Bundesparteivorsitzende Christian Lindner in Thüringen Möglichkeiten sieht, »mit der Linken im Einzelfall in Sachfragen zusammenarbeiten«, hat der scheidende CDU-Landesfraktions- und Parteivorsitzende Mike Mohring in Rücksprache mit der scheidenden Bundesvorsitzenden seiner Partei, Annegret Kramp-Karrenbauer, besprochen, dass seine Partei »sich stabilen Verhältnissen nicht verweigern wird und Angebote von anderen für eine stabile Situation annehmen wird.« Ramelow dankte es ihnen, indem er sich ganz überparteilich staatstragend-nationalistisch gab und an einen Leitspruch des früheren Thüringer Ministerpräsidenten Bernhard Vogel (CDU) erinnerte: »Zuerst das Land, dann die Partei, dann die Person!« Es erinnert nicht nur an den Appell Kaiser Wilhelms II., »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«, zum Burgfrieden mit der SPD zur Mobilmachung für den Griff nach der Weltmacht im Ersten Weltkrieg. Nein, es gleicht fast haargenau einem Appell, den ein Redner kurz vor der Regierungskrise auf der 5. Plenarsitzung der Landtages an CDU und FDP gerichtet hatte. Unter Bezugnahme auf einen anderen Altvorderen lud dieser zunächst zu einem gemeinsamen politischen Projekt ein: »Lassen Sie uns gemeinsam dieses Land wieder vom Kopf auf die Füße stellen, lassen Sie uns hier die geistig-moralische Wende einleiten, die nicht nur in Thüringen, sondern deutschlandweit so dringend nötig ist und die Helmut Kohl angekündigt, aber niemals exerziert hat.« Dann fuhr er mit einem konkreten Angebot zur Umsetzung fort: »Sehr geehrter Herr Mohring, ich mache Ihnen hier noch mal das Angebot: Unterbrechen wir die Landtagssitzung nach diesem Tagesordnungspunkt. Wir ziehen uns mit dem Kollegen Kemmerich zurück. Ich bin bereit, meine persönliche Karriere dem Staatsziel zu opfern, dass Thüringen gut regiert werden muss. Wir werden gemeinsam einen bürgerlichen Ministerpräsidentenkandidaten finden, der dieses Land gut regiert.« Der Redner war Björn Höcke.
Dass die illiberale Politik einer AfD Anschluss an die von ihr gewöhnlich vehement kritisierten liberal(er)en bürgerlichen Parteien sucht ist dabei mehr als nur eine politische Taktik. Bereits 1934 hielt der Kritische Theoretiker Herbert Marcuse in seinem Aufsatz Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung der damals vorherrschenden massiven Verdammung des Liberalismus als Weltanschauung durch die autoritär-faschistische ihre unhinterfragte gemeinsame sozioökonomische Basis entgegen. »Bei aller strukturellen Verschiedenheit des Liberalismus und seiner Träger in den einzelnen Ländern und Epochen«, stellte er fest, »bleibt die einheitliche Grundlage erhalten: die freie Verfügung des individuellen Wirtschaftssubjekts über das Privateigentum und die staatlich-rechtlich garantierte Sicherheit dieser Verfügung. Alle ökonomischen und sozialen Forderungen des Liberalismus sind wandelbar um dies eine stabile Zentrum«, betonte er, und zwar »bis zur Selbstaufhebung.« Er erinnerte daran, dass »selbst gewaltsame Eingriffe der Staatsgewalt in das Wirtschaftsleben oft genug während der Herrschaft des Liberalismus geschehen, sobald es die bedrohte Freiheit und Sicherheit des Privateigentums verlangte« Er gelangte zu dem Schluss, dass »der Gedanke der Diktatur und der autoritären Staatsführung« dem Liberalismus deshalb »durchaus nicht fremd« seien. Zugleich sehe die faschistische Kritik des Liberalismus von der »wirklichen«, d.h. »ökonomischen und sozialen Struktur des Liberalismus« ab und reduziere diesen auf das Feindbild einer abweichenden gefährlichen Weltanschauung.
Wie der Faschismus vollzieht auch der Liberalismus eine Naturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, indem er »hinter den ökonomischen Kräften und Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft ›natürliche‹ Gesetze« entdeckt, »die sich in ihrer ganzen heilsamen Naturhaftigkeit erweisen werden, wenn man sie nur frei und ohne künstliche« - d.h. i.d.R. politisch-rechtliche - »Störung zur Entfaltung kommen lässt.« Im Unterschied zum faschistischen Naturalismus, der von einem irrationalen Ganzen ausgeht, leitet sich der liberalistische nach Marcuse von der rationalen Praxis der einzelnen Wirtschaftssubjekte ab:
»Die liberalistische Rationalisierung […] der gesellschaftlichen Organisation ist wesentlich eine private; sie ist gebunden an die rationale Praxis des einzelnen Wirtschaftssubjektes bzw. einer Vielheit einzelner Wirtschaftssubjekte. Zwar soll sich am Ende die Rationalität der liberalistischen Praxis im Ganzen und am Ganzen erweisen, aber dieses Ganze selbst bleibt der Rationalisierung entzogen. Der Einklang von Allgemein- und Privatinteresse soll sich im ungestörten Ablauf der privaten Praxis von selbst ergeben; er wird prinzipiell nicht in die Kritik genommen, er gehört prinzipiell nicht mehr zum rationalen Entwurf der Praxis.«
Weil der Liberalismus den Rationalismus allein den unmittelbaren Zwecken der Subjekte unterordnet, »wird der vernunftgemäße Aufbau der Gesellschaft um sein zielgebendes Ende gebracht […]. Gerade die rationale Bestimmung und Bedingung jener ›Allgemeinheit‹, bei der schließlich das ›Glück‹ des Einzelnen aufgehoben sein soll, fehlt. […] Struktur und Ordnung des Ganzen bleiben letztlich irrationalen Kräften überlassen: einer zufälligen ›Harmonie‹, einem ›natürlichen Gleichgewicht‹. Die Tragfähigkeit des liberalistischen Rationalismus hört daher sofort auf, wenn mit Verschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze und der ökonomischen Krisen die allgemeine ›Harmonie‹ immer unwahrscheinlicher wird; an diesem Punkt muss auch die liberalistische Theorie zu irrationalen Rechtfertigungen greifen. Die rationale Kritik gibt sich selbst auf; sie ist allzu leicht bereit, ›natürliche‹ Vorrechte und Begnadungen anzuerkennen. Der charismatisch-autoritäre Führergedanke ist schon präformiert in der liberalistischen Feier des genialen Wirtschaftsführers, des ›geborenen‹ Chefs.«
Der Marburger Politologe Reinhard Kühnl begriff den Faschismus lediglich als die janusköpfige zweite Form bürgerlicher Herrschaft neben dem Liberalismus. Björn Höcke, den man gerichtsfest einen Faschisten nennen darf, hatte bereits 2014 in einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen bekannt, gegen den »internationalen Finanzkapitalismus« und für eine »organische Marktwirtschaft« einzutreten. Zugleich erklärte er den Sozialstaat für »zu sehr aufgebläht« und sprach sich dafür aus, die oben beschriebene private Ratio zu stärken »und sich nicht nur [sic!] auf Leistungen der öffentlichen Hände [zu] verlassen.« Die Selbständigen, traditionell das Kernklientel der FDP-Wähler/innenschaft, wählten in Thüringen am Häufigsten AfD (28%), zu 22% CDU und zu 14% FDP (zu 20% auch Linkspartei).
In einem Interview mit Bayern 2 hat der Soziologe Andreas Kemper daran erinnert, dass die AfD als eine neoliberale Partei von Leuten wie Hans-Olaf Henkel und Bernd Lucke entstanden ist. Noch im Deutschlandtrend Extra von Infratest Dimap am Tag nach der Wahl Kemmerichs sprachen sich lediglich ein Viertel der befragten FDP-Parteianhänger/innen für den Ausschluss einer Zusammenarbeit mit der AfD aus (restl. Parteien ohne AfD mind. 69%). Gemeinsam sei FDP und AfD nach Kemper »vor allem der Antikommunismus. Alles, was irgendwie sozial ist, wird sofort als ›Kommunismus‹ oder als ›Sozialismus‹ gebrandmarkt und muss auf jeden Fall verhindert werden.« Dem steht auch die CDU in nichts nach. »Ich habe in Thüringen die Wende unterstützt«, bekannte Deutschlands ehemals oberster Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen noch am Wahlabend gegenüber dem Tagesspiegel und bilanzierte den »Riesenerfolg« von Kemmerichs politischem Winkelzug mit den Worten: »Hauptsache, die Sozialisten sind weg.«
Gegen den Wahn der rechten Gegner/innen wie auch die Illusionen der linken Unterstützer/innen der rot-rot-grünen Regierungskoalition in Thüringen soll an dieser Stelle nur kurz daran erinnert werden, dass sich Ramelow noch im vergangenen Jahr in der Debatte um die Berliner Kampagne zur Regulierung und Rekommunalisierung von Wohneigentum mit dem irreführenden Namen Deutsche Wohnen & Co. Enteignen! völlig ohne Not von einem »Überbietungswettbewerb mit dem Begriff Enteignungen« distanziert und die Debatte für »völlig überflüssig« erklärt hatte.
Die Gegenproteste demokratischer Kräfte empfindet Kemper jedenfalls als ermutigend. Sie erwecken den Eindruck, als bestehe vorerst eine wehrhafte gesellschaftliche Mehrheit in und für die Schönwetterdemokratie der Bundesrepublik. Es wird der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise vorbehalten bleiben, diese einer Belastungsprobe zu unterziehen. Am standfestesten könnten sich aus völlig verkehrten Gründen die sog. postmaterialistischen Milieus erweisen. Doch das wäre eine andere, noch zu schreibende Geschichte.

von shadab

Anmerkungen

(1) Zwei Drittel aller CDU-Wähler/innen waren laut einer Vorwahlbefragung von Infratest dimap dafür, dass die CDU ihre Entscheidung nicht mit der Linkspartei zu koalieren, überdenken solle. Zugleich waren vier von fünf weiterhin dafür, keine Koalition mit der AfD einzugehen. Jede/r Zweite war sogar mit der Arbeit der rot-rot-grünen Vorgängerregierung zufrieden und selbst unter FDP-Wähler/innen konnten sich 28% eine rot-rot-grün-gelbe Regierungskoalition vorstellen. 60% der CDU- und sogar ein Viertel der AfD-Wähler/innen hielten Bodo Ramelow (Linke) für einen guten Ministerpräsidenten. Bei einer Direktwahl hätte ihn selbst jede/r fünfte CDU- und jede/r sechste AfD-Wähler/in gewählt, er hätte gegen den CDU-Kandidaten Mohring mit 52% gewinnen können. Unter den Wähler/innen aller Parteien erhielt die Vorstellung einer Fortführung der rot-rot-grünen Regierungskoalition mit 40% die meiste Zustimmung (andere Varianten ≤ 25%). Gewiss handelt es sich bei den Werten, wie übrigens bei jeder Wahlstimme auch, lediglich um eine für den Fragenden bzw. Gewählten unverbindliche und erzwungenermaßen allgemeine Interessenbekundung. Die Geschehnisse in Thüringen führten jedoch selbst den staatsbürgerlich gesonnensten Wähler/innen die Reduktion des Demokratischen in der repräsentativen Demokratie auf die Methode der Regierungsbestellung vor Augen und sprachen der oft bemühten Rede vom (ohnehin nur aggregierten) Wähler/innenwillen Hohn. Der in den seitdem veröffentlichten Ergebnissen von Wahlabsichtsfragen bis weit in die CDU-Wähler/innenbasis hinein zu verzeichnende Unmut über die Vorführung der rechtlich tatsächlich völlig fehlenden Bindung jeder einzelnen Wahlstimme an ein politisches Programm oder eine Koalitionsoption mag, ob mit emanzipatorischer oder demobilisierenden Folgen, den nachhaltigsten Schaden für das politische System der Bundesrepublik bedeuten.

11.03.2020
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