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Aktuelles Heft

INHALT #246

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Vom bedingungslosen Grundeinkommen und seinen kapitalen Freunden

Unmittelbar nachdem die AfD bei den Bundestagswahlen zur drittstärksten Kraft im Parlament wurde, lassen sich aus den Führungsetagen des exportorientierten deutschen Kapitals ungewohnte, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt besorgte Töne feststellen. Der Schwenk mag umso mehr überraschen, als mit SPD, Linkspartei und Grünen ebenjene Parteien, die im Wahlkampf besonders auf soziale Forderungen gesetzt hatten, keine Gewinne verzeichneten und gerade in jenen, vornehmlich ostdeutschen Regionen, in denen die AfD besonders stark abschnitt, sogar an Wählerzuspruch einbüßten.(1)
Eine von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (HBS) geförderte Studie kam zu dem Ergebnis, dass der durchschnittliche Nettoverdienst der AfD-Wähler/innen mit 1682 Euro nur zwei Euro unter dem Durchschnittslohn in Deutschland liegt – es sich mithin nicht um eine unmittelbar finanziell schlecht(er) gestellte soziale Gruppe handelt.
Dennoch erhielt der langjährige Propagandist des bedingungslosen Grundeinkommens, dm-Gründer Götz Werner, nach der Wahl Schützenhilfe durch die beiden DAX-Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser (Siemens AG) und Timotheus Höttges (Deutsche Telekom AG). Bei Werner, dessen Unternehmen im Geschäftsjahr 2016/17 mehr als Dreiviertel seines Umsatzes von 10,26 Mrd. Euro in Deutschland erzielte und Waren für den individuellen Konsum sog. Verbraucher/innen verkauft, liegt das unmittelbare Eigeninteresse auf der Hand: Die Löhne sollen um den Betrag des Grundeinkommens sinken, Abgaben für die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen entfallen und Einkommens- und Vermögenssteuern abgeschafft werden. Stattdessen soll das Grundeinkommen aus den Einnahmen der Mehrwertsteuer, d.h. über den individuellen Konsum der lohnabhängigen Massen finanziert werden. Der Anstieg der unteren und mittleren Einkommen würde diesen fördern und maßgeblich zur Finanzierung des Grundeinkommens beitragen, wohingegen Unternehmensprofite, große Einkommen und Vermögen verschont blieben. Götz Werner gewänne dreifach: durch Schonung seines Privatvermögens (laut Schätzungen des manager magazins 2013: 1,1 Mrd. Euro - Platz 109/BRD), durch die zu erwartenden Umsatzsteigerungen bei dm und durch den Wegfall bzw. die Senkung von Löhnen, Lohnabgaben und Steuern.
Was aber bringt Kaeser und Höttges, deren Unternehmen ihren Umsatz überwiegend im Ausland erzielen (Siemens: 87% von 79,6 Mrd. Euro, Telekom: 66,3 % von 73,1 Mrd. Euro), ihre Lohnarbeiter/innen dort beschäftigen (Siemens 2016: 68% von 351.000) und nur zum Teil Waren für den individuellen Konsum hierzulande produzieren, dazu sich Gedanken um die Einkommen der Niedriglohnempfänger/innen in Deutschland zu machen? Denn eine Frage, die Joe Kaeser, wie er dem Spiegel erklärte, »persönlich mächtig umtreibt«, ist die nach politischen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, die den Wahlerfolg der AfD befördert haben. »Vielleicht«, setzt er zunächst an, bekommt die AfD Zuspruch, »weil wir« – er meint die Allgemeinheit, nicht seine Klasse – »den Wohlstand nicht gerecht teilen.« Nun wird selbst Kaeser nicht behaupten wollen, dass das bedingungslose Grundeinkommen eine ›gerechte‹ Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums wäre, doch wie bereits oben angeführt, sind AfD-Wähler/innen vergleichsweise auch nicht besonders finanziell benachteiligt.
»Vielleicht auch deshalb,« rudert er zurück, »weil wir den Menschen nicht ausreichend erklären, was in der Zukunft passieren wird, und sie deshalb Angst haben.« Von den gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Eliten fordert er darum, in Dialog mit der Bevölkerung zu treten um »Einsichten [zu] erzeugen« und somit die »Integration der Gesellschaft [zu] fördern.« Doch woher kommt der Bedarf an gesellschaftlicher Integration, wenn man die AfD-Wähler/innen, wie Kaeser meint, nicht »als Menschen am Rande der Gesellschaft abtun« dürfe. Weshalb bedarf es einer gesellschaftlichen Integration der ›Mitte‹?
Worauf Kaeser abzielt, ist das Einschwören der Bevölkerung auf die Industrialisierung 4.0, das zukünftige Konkurrenzprojekt des deutschen Kapitals. »Wenn das nicht passiert,« warnt er, »wird die sogenannte vierte industrielle Revolution [...] nicht in sozialem Frieden passieren. Denn diese industrielle Revolution wird zunächst einen herausfordernden Strukturwandel bedeuten, wie im Übrigen auch schon bei den drei vorausgegangenen industriellen Revolutionen.« ›Strukturwandel‹ meint in diesem Zusammenhang einen weiteren Automatisierungsschub, der einhergehen wird mit der massenhaften Freisetzung von Arbeitskraft und dem Anwachsen der Sockelmassenerwerbslosigkeit. Kaeser könnte beinahe aus der Rede einer SPD- oder Linksparteipolitiker/in abgeschrieben haben, wenn er die Befürchtung äußert, dass dieser Transformationsprozess zu »deutlichen gesellschaftlichen Spannungen« führen und die »Gesellschaft weiter spalten« könnte. Nun ist die Klassenspaltung der bürgerlichen Gesellschaft kein bedauernswerter Nebeneffekt, sondern ihre Bedingung. Mit der Verschärfung des Klassengegensatzes werden jedoch häufig – je nach Partei – Hoffnungen auf oder Befürchtungen vor revolutionäre(n) Erhebungen verbunden. Das deutsche Kapital muss dies auf absehbare Zeit nicht befürchten, die Erfolge der AfD sprechen sogar deutlich gegen ein wachsendes Klassenbewusstsein der Proletarier/innen. Warum aber treibt einige seiner führenden Repräsentanten die Frage nach dem Wahlergebnis der AfD dann so mächtig um?
Es ist der darin sich manifestierende Erfolg des rechten »Populismus«, den Kaeser als die »Vorstufe des Nationalismus und damit auch des Protektionismus« begreift. Da die deutsche Volkswirtschaft »in weiten Teilen gesättigt« ist, »müssen wir« - d.h. die exportorientierten Fraktionen des deutschen Kapitals - »überlegen, wie wir unser Exportmodell erhalten können ...«. Nun sind die 12,6% Wahlstimmen für die AfD und die 5,8 Mio. Wähler/innen, die sie repräsentieren, keine unmittelbare Gefahr für die Fortschreibung des ›Freihandelskurses‹ aller Regierungskabinette unter Angela Merkel, doch Kaeser denkt langfristig. Wenn eine nationalchauvinistische Partei bereits in Zeiten wirtschaftlicher Konjunktur und steigender Beschäftigung einen für die Nachkriegszeit beispiellosen Wahlerfolg verzeichnet, was ist dann für die Zeiten ökonomischer Rezession oder dem transformationsbedingten Anstieg der Massenerwerbslosigkeit zu erwarten?
Die Frage bekommt besonderes Gewicht, berücksichtigt man die sozioökonomische Lage der AfD-Wähler/innen im Vergleich zu denen anderer Parteien. Laut einer Studie des unternehmensnahen Deutschen Wirtschaftsinstituts (DIW) leben 75% von ihnen in Gemeinden mit unter 50.000 Einwohner/innen, mit 73% haben im Parteienvergleich die meisten eine Berufsausbildung durch Lehre, Fachschule oder Meister (Grüne: 51%-SPD 68%). Mit einem Anteil von 50% arbeiten die Erwerbstätigen vorwiegend in Vollzeit (andere 40-42%), doch auch der Anteil der Arbeitslosen ist mit 7% am höchsten (andere: 1-2%, Linke: 5%). Von Arbeiter/innen (34%, Grüne: 9%-Linke: 22%) und Selbstständigen (14%, SPD/Linke: 7%, CDU: 12%, FDP: 15%) erhielt sie besonders viel Zuspruch, von Angestellten bisher hingegen am wenigsten (46%, CDU: 63%-Grüne: 72%). Hervorzuheben ist mit 36% der gewichtige Anteil von Lohnarbeiter/innen, die einfache Tätigkeiten ausführen (FDP: 13%-SPD: 24%). Bei der Gewichtung der Haushaltseinkommen nach Bedarfen, also der Berücksichtigung von Haushaltsgröße und -struktur, zeigt sich, dass in den Haushalten von AfD-Wähler/innen vergleichsweise weniger Personen Einkommen erzielen oder mit diesem mehr Familienmitglieder versorgen müssen.
Auch wenn die Streuung der Haushaltseinkommen bei der AfD-Wähler/innenschaft nach der DIW-Studie am größten ist, eine »substantielle Minderheit« also sehr hohe Einkommen erzielt (von diesem Potenzial hat laut HBS-Studie nur die Hälfte eine Wahlabsicht geäußert), besteht ihre Massenbasis aus Angehörigen der unteren Mittelschicht. In Politik und Wissenschaft wird stets die objektiv als nicht prekär beschriebene Lage dieser Schicht mit der in ihr weit verbreiteten Abstiegserwartung kontrastiert, um die Differenz einseitig zu einem »Unsicherheitsgefühl« aufzulösen. Dazu trägt bei, dass AfD-Wähler/innen, selbst die der obersten Einkommensgruppen, ihre eigene sozioökonomische Lage an und für sich, aber auch im Vergleich mit dem elterlichen Haushalt, stets schlechter beurteilen als die anderer Parteien.
Diese »verunsicherte Mitte« ist nicht nur Gegenstand sozialwissenschaftlicher Studien und politischer Integrationsbemühungen, sondern seit etwa drei Jahren auch ein wichtiges Thema des um die globale Kapitalakkumulation besorgten Weltwirtschaftsforums in Davos. Auf mehreren Podien, so berichtete die Süddeutsche Zeitung, sei dort in den vergangenen zwei Jahren auch über die Einführung eines Grundeinkommens diskutiert worden. Den Hintergrund bilden auch hier das weltweite Erstarken nationalchauvinistischer, protektionistischer Kräfte und die erwarteten sozialen Verwerfungen im Zuge der zweiten Phase der Digitalisierung. Den Anlass hatte 2013 eine Oxford-Studie von Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne gegeben, wonach 47% der Arbeitsplätze in den USA durch Automatisierung gefährdet seien. Im vergangenen Jahr übertrug die Weltbank dieses Modell auf die Nationalökonomien Indiens (69%) und Chinas (77%). Für Deutschland ermittelte die amerikanische Unternehmensberatung A.T. Kearney eine Gefährdung von einem Viertel aller Arbeitsplätze innerhalb der nächsten beiden Jahrzehnte.
Eine 2015 für den deutschen Arbeitsmarkt erstellte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) gelangte zu dem Ergebnis, dass die Tätigkeiten von 13,2 Mio. Lohnarbeiter/innen zu 30-70% mittels Automatisierung ersetzt werden könnten. Bei 4,4 Mio., also 15% der Erwerbstätigen, beträgt bereits das aktuelle Substitutionspotenzial über 70%. »Im Gegensatz zu anderen Studien« gelangen die IAB-Forscherinnen Katharina Dengler und Britta Matthes zu dem Ergebnis, dass »nicht nur Helferberufe, sondern auch Fachkraftberufe einem hohen Substituierbarkeitspotenzial durch computergesteuerte Maschinen unterliegen. Erst Spezialisten- und Expertenberufe sind mit einem niedrigeren Substituierbarkeitspotenzial verbunden.«
Eine aktuelle Studie des McKinsey Global Institute beschäftigt sich mit der Frage, wie sich der Arbeitsmarkt in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern entwickeln wird und gelangt zu folgender Einschätzung: »[…] die meisten der neu entstehenden Arbeitsplätze werden Bereiche betreffen, die sich bereits heute an der Spitze der Lohnpyramide befinden. Einige Bereiche des Niedriglohnsektors, etwa die Assistenz in Pflege- und Lehrberufen, werden ebenfalls wachsen, während eine große Anzahl der Tätigkeiten im Bereich der mittleren Lohneinkommen den größten Beschäftigungsverlust verzeichnen wird.« (eigene Übersetzung)
Anhand der angeführten Studienergebnisse zur AfD-Wähler/innenschaft wird deutlich, dass deren der unteren Mittelschicht zugehörige Mehrheit besonders stark von einer Automatisierung im Rahmen der zweiten Phase der dritten industriellen Revolution bedroht ist. Der globale Blick zeigt auch den mit Ökonomie Unvertrauten, dass unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise nicht die Automatisierbarkeit einer Arbeit an sich, sondern der Preis der Ware Arbeitskraft über den Einsatz von Maschinen entscheidet. »Die Produktivität der Maschinen«, betonte Marx, misst sich für den Kapitalisten »an dem Grad, worin sie menschliche Arbeitskraft ersetzt.« Die Differenz zwischen ihrem Wert und dem der zu ersetzenden Arbeitskraft markiert somit die Grenze ihrer Anwendung. Liegt der Anteil der »notwendigen Arbeit«, d.h. jenes bezahlten Teils der Arbeitszeit, in welcher der Arbeiter den für die Reproduktion seiner Arbeitskraft notwendigen Wert »produziert«, unter dem Maschinenwert, so würde eine Anwendung letzterer die Produktion für den Kapitalisten verteuern. Umgekehrt wird damit klar, welche Zumutungen Lohnarbeiter/innen bevorstehen, wenn ihre Arbeit oder Teile davon durch Maschinen ersetzt werden sollen: Erhöhung von Dauer, Intensität und Produktivkraft der Arbeit sowie Lohnkürzungen.
Das Reproduktionsniveau der Haushalte der unteren Mittelschicht ist akut bedroht. Die Arbeit vieler Fach- und Hilfsarbeiter könnte bereits heute ganz oder zu wesentlichen Teilen von Maschinen erledigt werden. Zugleich sind besonders bei den AfD-Wähler/innen die Grenzen einer Produktivitätssteigerung eng gezogen: Die vergleichsweise hohe Vollzeitbeschäftigungsquote ließe eine Ausdehnung der Arbeitszeit nur in jedem zweiten Fall zu, die mit zunehmenden Alter (46% sind 30-54 Jahre, 43% älter) entsprechende Leistungsfähigkeit setzt einer möglichen Erhöhung der Arbeitsintensität natürliche Schranken. Die Bedarfsgewichtung des Haushaltseinkommens hat zudem gezeigt, dass aus dem Einkommen von AfD-Wähler/innen mehrere Personen ihren Lebensunterhalt bestreiten (müssen). Ein Einkommensverlust hat hier über die eigene Person hinausweisende Folgen: den Zwang erwerbsfähiger Haushaltsmitglieder in die Arbeitsmarktkonkurrenz oder die Absenkung des Reproduktionsniveaus der ganzen Familie. Auch wenn dies angesichts einer Vielzahl von Produktionsstandorten jenseits der Metropolen spekulativ ist: Der Arbeitsmarkt von Gemeinden mit weniger als 50.000 Einwohner/innen, wo drei Viertel der AfD-Wähler/innen leben, gibt in der Regel nicht viel her. Ein Beispiel lieferte Siemens jüngst selbst mit der Ankündigung, sein Gasturbinenwerk in der 55.000-Einwohner/innenstadt Görlitz zu schließen und alle 980 Arbeiter/innen zu entlassen. Mit der Warnung »Wenn es Siemens hier nicht mehr gibt, gibt es auch Görlitz nicht mehr«, unterstrich ein Siemens-Ingenieur gegenüber der Leipziger Volkszeitung die Abhängigkeit der örtlichen Zulieferindustrie.
Ähnlich steht es um die Selbständigen, deren ökonomische Charaktermaske ein Zwitterwesen aus Kapitalist und Lohnarbeiter darstellt. Wie bei den Lohnarbeiter/innen die Automatisierung nicht im eigenen Betrieb erfolgen muss, um mittels Konkurrenz Druck auf ihre Arbeit auszuüben, so geraten diese durch kapitalkräftige Discounter, Versand- und Lieferdienste, Internetplattformen usw., aber auch die Absenkung der Kaufkraft durch Niedriglöhne und -renten unter Existenzdruck. Hierin liegt die materielle Basis dessen, was ich bereits früher am Beispiel Pegidas als »ökonomische und soziokulturelle Doppelbedrohung« von Lumpenbourgeoisie und Proletariat bezeichnet habe, die sich politisch in den entsprechenden Formen der herrschenden Alltagsreligion artikuliert.(2) Die Praxis besonders gewerkschaftsnaher Forschungsinstitute und linker Politiker, die Abstiegsängste von AfD-Wähler/innen entweder gesamtgesellschaftlich zu Verallgemeinern oder unter Verweis auf deren durchschnittliches Einkommen als objektiv unbegründet von sich zu weisen, wird dieser Situation nicht gerecht. Die in diesem Zusammenhang präzisere DIW-Studie offenbart den im Durchschnittslohn versteckten Niedriglohn, die Berücksichtigung der sozioökonomischen Situation steckt den Handlungsspielraum ab. Angesichts der prognostizierten ökonomischen Entwicklung ist für den Teil der unteren Mittelschicht, der die AfD gewählt hat, tatsächlich mehrheitlich von einem sozioökonomischen Abstieg auszugehen.
Arbeiter/innen im fortgeschrittenen Alter haben bereits jetzt Schwierigkeiten, nach einem Arbeitsplatzverlust in ihrem erlernten Beruf eine neue Anstellung zu finden. Die zweite Phase der dritten industriellen Revolution wird die mittels Automatisierung substituierten Tätigkeiten durch weniger und in ihrer Mehrheit höher qualifizierte ersetzen. Umschulungen, das Standardmittel der Arbeitsmarktpolitik in der fordistischen Prosperitätsperiode, werden bei dieser Entwicklung nur bedingt greifen. Kaeser macht daraus kein Geheimnis. »Wir« erklärt er und ist dabei ganz bei den seinen, »können auf die Langsamen nicht mehr warten. Dafür ist die Geschwindigkeit im internationalen Wettbewerb viel zu hoch. Deshalb müssen wir uns überlegen: Was machen wir denn mit denjenigen, die trotz bester Bemühungen, Umschulungen und Förderung nicht mithalten können?«
Die in der Konkurrenz um Arbeit Unterlegenen oder gänzlich Ausgeschiedenen nimmt in der »sozialen Marktwirtschaft« der Staat unter seine Fittiche. Dieses »Grundprinzip«, »den Unternehmen die Freiräume [zu] geben, um erfolgreich zu sein, und einen Teil der Wertschöpfung dann an die umzuverteilen, die Hilfe benötigen« hält Kaeser »auch heute noch« für »richtig« und fordert denen, deren Arbeitskraft das Kapital nicht zu seiner Verwertung benötigt, »durch eine Art Grundversorgung für das Alter eine Perspektive geben, damit sie nicht da hinunterfallen, wo« er »heute das Wählerpotenzial für nationalistische und populistische Parteien« sieht. Telekom-Chef Höttges brachte dazu gegenüber dem Tagesspiegel Instrumente wie »das bedingungslose Grundeinkommen und als Teilvariante davon die Grundversorgung im Alter« ins Gespräch. Kaeser schränkt hingegen ein, »mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, womit es manchmal verwechselt wird«, habe das »nichts zu tun.« Er hat darin insofern recht, als seine Bedingung für die Gewährung dieser Grundversorgung ein Absehen von der rechtspopulistischen Stimmabgabe an den Wahlurnen wäre. Wer nicht zur Kapitalverwertung beiträgt, soll auch keinen negativen Einfluss auf die Bedingungen derselben ausüben, so der Gedanke.
Das deutsche Sozialsystem kennt mit dem Arbeitslosengeld II (Alg II, ›Hartz IV‹) und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zwei Formen der Grundsicherung des Lebensunterhaltes, wenngleich keine bedingungslosen.(3) Der Vorstandsvorsitzende der BA, Detlef Scheele (SPD), zeigte sich bei seinem Amtsantritt im April dieses Jahres in einem Spiegel-Interview im Gegensatz zu den beiden DAX-Vorstandsvorsitzenden und entgegen der Studien des hauseigenen Forschungsinstituts berufsmäßig zuversichtlich, dass der Transformationsprozess der zweiten Phase der dritten Industriellen Revolution »ohne große Verwerfungen gelingen« könne. Helfen soll dabei neben Qualifizierungsangeboten und einer lebensbegleitenden Berufsberatung vor allem die »fürsorgliche Belagerung« der Arbeitslosen durch die Vermittler/innen von Arbeitsagentur und Jobcenter. »Fragen der Gerechtigkeit«, wie sie sein Parteikollege Martin Schulz im Bundestagswahlkampf bemühte, stellt Scheele dafür hinten an: wohl entstehe »bei denen, die aus dem Arbeitsmarkt gefallen sind« und vom »normalerweise etwas höheren Arbeitslosengeld I« auf das Niveau der Grundsicherung herabsinken, »ein Gefühl der subjektiven Ungerechtigkeit«, doch wird die »Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit [...] immer darin liegen, die Menschen so schnell wie möglich wieder in Arbeit zu bringen«: »Das gilt gerade für die 50-Jährigen, die noch 17 Jahre bis zur Rente vor sich haben. Da würde ich immer sagen: Vermitteln hat Vorrang.«
Wer Alg II bezieht, dem nimmt das Jobcenter durch die Grundsicherung die unmittelbare Existenznot, zwingt ihn jedoch zugleich, sich auf dem Arbeitsmarkt so zu verhalten, als gebe es diese Absicherung nicht: jeder Job gilt als zumutbar, oberstes Ziel ist die Beendigung oder zumindest Verringerung der zu gewährenden Grundsicherung. Werden Stellenangebote abgelehnt oder Terminvorladungen nicht befolgt, wird dies mit sich addierenden dreimonatigen Leistungskürzungen i.H.v. 10 oder 30 % sanktioniert. Scheele spricht diesbezüglich gegenüber dem Deutschlandradio Kultur von »generalpräventiven Gründen« für Sanktionen, damit die mit den gewährten Grundsicherung einhergehenden Pflichten erfüllt würden.
Der generelle Umgang der Jobcenter mit den eigenen ›Kunden‹ bewirkt jedoch zugleich eine ganz andersgeartete Prävention: die vor Inanspruchnahme der Leistungen. Die Volkswirtschaftlerin Irene Becker hat 2015 in einem HBS-Arbeitspapier zum Einfluss verdeckter Armut auf das Grundsicherungsniveau darauf hingewiesen, dass sich »trotz einiger Schwankungen im Zeitverlauf und methodisch sowie datenbedingter Abweichungen« in Studien zu den Grundsicherungsleistungen eine »Nichtanspruchsquote von ungefähren 40% […] als recht stabile Größenordnung herauskristallisiert« hat. Wenn von fünf Personen, die Leistungen zur Grundsicherung des Lebensunterhaltes benötigen, nur drei diese in Anspruch nehmen, kann dies Ausdruck einer nachhaltigen Beschädigung des bürgerlichen Verhältnisses zum Staat, der dafür Steuern und Abgaben erhebt, sein. Höttges und Kaeser knüpfen hier an, wenn sie sich von einem bedingungslosen Grundeinkommen erhoffen, dass es die Menschen – anders, als wenn sie auf der Suche nach Arbeit sind - aus der »Rolle des Bittstellers erlöst«. Es soll den Druck nehmen, mit dem Arbeitsagentur und Jobcenter ihren Leistungsbezieher/innen begegnen und der angesichts der zu erwartenden transformationsbedingten Sockelmassenarbeitslosigkeit bei der AfD-Wähler/innenschaft besonders anachronistisch wirkt.
Der Telekom-Vorstandsvorsitzende verfolgt dabei wie Götz Werner sein eigenes Profitinteresse, möchte aber vor allem einer konkurrierenden Kapitalfraktion das Massenpotenzial abspenstig machen. So war die AfD in ihrem eurokritischen Anfang durchaus mit Sympathie vom Verband Die Familienunternehmer, in welchem nach eigenen Angaben 180.000 Familienunternehmer mit acht Millionen Arbeiter/innen und einem Jahresumsatz von 1.700 Mrd. Euro vertreten sind, betrachtet worden. Nachdem die Eurozone vorerst stabilisiert werden konnte und sich Deutschland mit seinem Austeritätsdiktat durchgesetzt hatte, gingen sie jedoch wieder auf Distanz. Die Ankunft von Asylsuchenden begrüßten sie als Reservoir potenziell billiger Arbeitskräfte(4) und als es um die Neuregelung der Erbschaftssteuer und die Verhinderung einer Regierungskoalition für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer ging, gesellte sich der Verband zurück an die Seiten von CDU, FDP und SPD.
Aktuell erfährt die AfD von einigen wenigen finanzstarken Einzelkapitalist/innen Unterstützung, die die maßgeblich mittels Flüchtlingshetze erlangte Massenbasis absichern. Dies geschieht mittlerweile durch die im September 2016 gegründete Tarnorganisation Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten, um deren Identität geheim zu halten. Die Partei bleibt damit ein politischer Hebel im Wartestand für das protektionistische Interesse der in der internationalen Konkurrenz unterlegenen Kapitale und Kapitalfraktionen, den die darin erfolgreichen zur Absicherung ihrer weltweiten Kapitalakkumulation möglichst klein halten wollen.
So sieht sich die reformistische Linke der Ironie ihres Schicksals gegenübergestellt, dass nicht ihre politische Macht, sondern ihre politische Ohnmacht das bedingungslose Grundeinkommen zum ernsthaften Diskussionsgegenstand der neoliberalen Eliten in Politik und Wirtschaft werden lässt. Nicht ihre Kampagnen und Appelle für Menschenwürde, sondern ausgerechnet der diesen Werten entgegenstehende AfD-Wähler gibt in seiner Masse Anlass zu diesen Erwägungen. Dabei ist diese Entwicklung keinesfalls neuartig: sowohl bei Energiewende und Atomkraftausstieg als auch beim Mindestlohn war es die historische Schwäche der deutschen Arbeiterbewegung, die den Staat als geschäftsführenden Ausschuss (Marx/Engels) bzw. »ideellen Gesamtkapitalisten« (Engels) dazu nötigte, die bei Beibehaltung des Status Quo absehbaren gesellschaftlichen Verwerfungen abzuwenden oder wenigstens abzumildern. Dieses Umsteuern geschieht zwar gegen den Willen einzelner Kapitale und Kapitalfraktionen, ohne Druck von Unten jedoch zu den Bedingungen und damit unter weitestgehender Schonung des Kapitals. Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen ist da - das sollte deutlich geworden sein - keine Ausnahme. Es bedarf schon der Organisation und des Kampfes der Arbeiter/innen selbst, um die eigene Lage im Hier und Jetzt zu verbessern und bei ausreichender Macht die herrschenden Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch nach den Worten des jungen Marx »ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« Ansonsten wird sich die herrschende Klasse weiterhin den gesellschaftlich produzierten Reichtum aneignen und gelegentlich darüber sinnieren, was den Produzent/innen dieses Reichtums zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes zu gewähren ist, damit sie auch zukünftig zur Arbeit erscheinen.



shadab

Anmerkungen

(1) Das veranschaulicht auch die Wählerwanderung im Vergleich zur letzten Bundestagswahl: 70.000 Wähler/innen wechselten von der AfD zu SPD, Linkspartei und Grünen, von diesen hingegen 980.000 zur AfD. Noch deutlicher wird das, fasst man die Parteien zu den Blöcken ›marktliberal‹ (CDU/FDP/AfD) und ›regulativ‹ (SPD/Linke/Grüne) zusammen: Vom marktliberalen Parteiblock entschlossen sich mit 1.740.000 mehr Wähler/innen zur Stimmenthaltung, als jene 1.580.000, die zum regulativen Parteiblock überwechselten. Umgekehrt wechselten mit 3.010.000 fast doppelt so viele vom regulativen zum marktliberalen Parteiblock, als deren 1.650.000 Wähler/innen, die nicht mehr zur Wahl gingen. Während der marktliberale Block 4.290.000 Nichtwähler/innen zur Stimmabgabe motivierte, gelang dies dem regulativen Block nur für 2.510.000.

(2) Vgl. Von Schneeberg nach Dresden. Ein neues Kapitel sächsischer Demokratie, in: CEE IEH #220 und Der hilflose Antifaschismus. Pegida und die Folgen, in: CEE IEH #223.

(3) Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske hat im Rahmen der gewerkschaftlichen Kampagne zur Stärkung der gesetzlichen Rente unter Verweis auf eine Studie des ISP Eduard Pestel Instituts für Systemforschung darauf hingewiesen, dass nach aktuellem Stand ab 2030 die Hälfte aller lohnabhängig Beschäftigten in Deutschland eine Altersrente unter oder auf ›Hartz IV‹-Niveau erhalten würde. Betroffen wären danach Arbeiter/innen mit einem Bruttoerwerbseinkommen von bis zu 2.500 Euro bei 40 Beitragsjahren.

(4) »Wer nach Wegfall des Fluchtgrundes hier bleiben möchte, muss sich seinen Aufenthaltsstatus erarbeiten«, sagte der Präsident des Verbandes Lutz Goebel der Rheinischen Post. Damit diesen von Kapitalist/innen überhaupt die Gelegenheit zur Arbeit gegeben wird, bedarf es selbstverständlich einiger »Anreize«. Der Verband schlägt auf seiner Website u.a. vor: »Halbierung der Sozialabgaben, die Ausnahmen vom Mindestlohn und die Umwandlung des Kündigungsschutzes in ein Abfindungsmodell.«

14.12.2017
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