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Aktuelles Heft

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Filmriss Filmquiz
Kleine Bühne Smokers Special

25 Jahre nach dem rassistischen Pogrom von Hoyerswerda
Räbbordy #2 - Das Hip Hop Quiz
DEATH INDEX / LA VASE (CAFEKONZERT)
Endstation Griechenland. Flucht in eine Sackgasse.
Wheelchair Skate Day
Skeletons, White Wine Double Release
All4HipHopJam 2016
Boysetsfire + Wolf Down
• review-corner event: Tag der offenen Tür in der Flüchtlingsunterkunft Braunstraße
• position: »The world has avoided another war«
• doku: Unser Elend ist euer Kapital!
• doku: „Im Tal der Ahnungslosen“ – Rassismus in Sachsen damals wie heute
• doku: Offene Grenzen als Utopie und Realpolitik
Digitalisierung und soziale Verhältnisse im 21. Jahrhundert
• das letzte: Die IHK Leipzig im Kampf um Freiräume für Investorenträume
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Die IHK Leipzig im Kampf um Freiräume für Investorenträume

Als Einheitskanzler Helmut Kohl den NeubürgerInnen im Anschlussgebiet »blühende Landschaften« versprach, war damit ein Deindustrialisierungsschock gemeint, infolgedessen mehr als 2,5 Millionen von ihnen den Arbeitsplatz verloren. Das »Freisetzungspotenzial« hatte der mit einem »offensiven Lösungsweg« beauftragte Thilo Sarrazin bereits im Vorfeld recht treffend mit »ca. 35 bis 40 v.H. der Industriebeschäftigten« bestimmt.

Für die AnwohnerInnen der Braunkohletagebaue im Leipziger Süden aber waren blühende Landschaften eine Verheißung, dem jahrzehntelangen Smog zu entkommen. Seit Beginn des letzten Jahrhunderts war in der Region Braunkohle gefördert worden, doch wurde der Kohleabbau besonders in der DDR ausgeweitet, um die Trennung von der Steinkohle Oberschlesiens und des Ruhrgebiets zu kompensieren und infolge der Ölkrise die energetische Unabhängigkeit abzusichern. Ortschaften in direkter Nachbarschaft wie etwa Espenhain waren landesweit für den alltäglichen, tiefhängenden gelben Kohlesmog bekannt. Noch vor dem Anschluss gingen deshalb im März 1990 10.000 AnwohnerInnen gegen die Erweiterung des Cospudener Tagebau auf die Straße – mit Erfolg. Zwei Jahre später wurde dieser geschlossen und das Gebiet zur Bewahrung des Auwaldes und zur Nutzung als Naherholungsgebiet renaturiert; andere folgten.

»Die Menschen in der Region erleben seither einen Landschaftswandel, der zu den größten und beeindruckendsten seiner Art weltweit« - darunter macht es die »Wohlfühlregion Leipzig« nicht mehr - »zählt«, heißt es in der Präambel der Charta 2030 des Leipziger Neuseenlandes. Das schafft Begehrlichkeiten. In der ehemaligen Kohleindustrieregion wird eine »neue reizvolle Wasser- und urbane Landschaft mit einer hohen Aufenthaltsqualität entwickelt«, die das Leipziger Neuseenland in den Augen der nun einkehrenden Tourismusindustrie zu einer »neuen touristischen Destination von internationaler Bedeutung« werden lassen soll. »Das Leipziger Neuseenland bietet Freiräume«, heißt es auf der Website des Marketingprojektes, »für Investitionen.«

Doch pünktlich zu Beginn der neuen Tourismus-Saison scheinen diese Freiräume gefährdet und waren deshalb Anlass einer brandbriefähnlichen Resolution der Vollversammlung der IHK Leipzig an die sächsische Landesregierung. Es gäbe »beträchtliche Herausforderungen« bei der »in Wert Setzung der Bergbaufolgelandschaft und der bereits durch Bund und Land getätigten Investitionen« zur Renaturierung, die für die betroffenen Unternehmen »zu Behinderungen in der Unternehmensentwicklung bis hin zur Existenzbedrohung« führen würden. An mangelndem Willen von Land, Stadt und Kommunen kann es nicht liegen, doch sorgten Kompetenzstreitigkeiten »in und zwischen den Ministerien und der Landesdirektion, ein stetiger personeller Wechsel und mangelnde Kommunikation zwischen den Behörden für erhebliche zeitliche Verzögerungen«. Der Leipziger IHK Präsident Wolfgang Topf sieht sogar die Gefahr der »Rückentwicklung zu einem Naherholungsgebiet«.

Nun mögen dies nicht unbedingt die Sorgen und Nöte, ja mitunter sogar die stillen Hoffnungen der AnwohnerInnen sein. Weil jedoch jede Schicht der bürgerlichen Gesellschaft weiß, dass sie ihre Interessen als allgemeine präsentieren muss, um sie hegemonial werden zu lassen, haben es die AnwohnerInnen auch in den letzten Absatz der Resolution geschafft. In ihren Forderungen sei sich »die Leipziger Wirtschaft mit der Mehrheit der Bürger einig.« Da so etwas schnell behauptet ist, fügt die IHK den Hinweis an: »Die in einem breiten Beteiligungsprozess entwickelte Charta des Leipziger Neuseenlandes macht deutlich, dass die Bevölkerung der Region die Entwicklung des Leipziger Neuseenlandes als touristischer Destination mitträgt.« Wie aber kam es zu diesem Ergebnis?.

Die Charta wurde zunächst »von den Mitgliedern der Arbeitsgruppen Gewässerverbund, Marketing und Standortentwicklung« vorformuliert, um diesen Entwurf anschließend mit »Bürgern, Bürgerinitiativen, Kommunen, Unternehmen, Verbänden und Vereinen« zu diskutieren und »qualifizieren«. »Jeder,« steht folglich in der Präambel, »ob Bewohner, Naturschützer, Sportler, Tourist oder Unternehmer(1), schaut aus seiner ganz eigenen Perspektive auf die begehrten Lagen am und auf dem Wasser.« Wäre dieser nicht von der Freunden der Tourismusindustrie vorformuliert worden, hätten Unternehmen und auch Touristen vielleicht gar nicht als relevante Akteure darin auftauchen müssen. Doch einmal so hineingeschrieben, »müssen die jeweiligen Ansprüche in ihren Wechselbeziehungen harmonisiert werden.«

Dass die AnwohnerInnen überhaupt zum Adressaten der Marketing-Kampagne geworden sind, ist ihrer Eigensinnigkeit geschuldet. So hatte ein Bericht zur Fortschreibung des regionalen Entwicklungskonzepts für den Südraum Leipzigs noch drei Jahre zuvor eine oft fehlende »gesellschaftliche Akzeptanz für wirtschaftliche Neuansiedlungen, die aber für das Investitionsklima sehr wichtig ist«, bemängelt und gefordert: »Hier muss unverzichtbare Überzeugungsarbeit geleistet werden, indem das Gespräch mit den Bürgern gesucht und Transparenz bezüglich Planungen und durchgeführter Maßnahmen geschaffen wird.«

Also hatten die Charta-InitiatorInnen die BürgerInnen »eingeladen, sich an diesem Prozess zu beteiligen und ihre Ideen zur touristischen, landschaftlichen, wirtschaftlichen und baulichen Entwicklung aktiv beizusteuern«. Dazu sollte neben Informationsveranstaltungen auch eine Umfrage dienen. Die dabei erhobenen Prioritäten liegen eindeutig: für »sehr« oder »eher wichtig« wurden die typischen Merkmale eines Naherholungsgebiets, wie eine »gute Wasserqualität« und »intakte Natur«, »öffentlicher kostenfreier Zugang« und ein »Rad- und Wanderwegenetz« (alle 90% + X) empfunden. Die Interessen der Investoren (bedeutende Tourismus-Branche, Nutzung durch Leistungssport und eine Schaffung von Wohngebieten am Wasser) erreichten hingegen unter den befragten LeipzigerInnen nur Werte zwischen 9% und 53%.(2) Breitensport und Freizeiterholung wurden deutlich mehr Priorität zugesprochen als dem Leistungssport.

Das Entwicklungskonzept für den Leipziger Südraum sieht allerdings vor, »neben der einheimischen Bevölkerung«, die ja nun einmal ohnehin vor Ort ist, mit den neu entstehenden »Angeboten besonders überregionale Gäste« anzulocken. »Den Südraum sollen speziell Trendsportart-Interessierte, also Special-Interest-Gruppen für Aktivurlaub besuchen«. Dazu ist es jedoch notwendig, »die einheimische Bevölkerung nicht außer Acht zu lassen.« Sie wurde mit scheinbar ergebnisoffenen Fragen wie »Wie stellen Sie sich das Leipziger Neuseenland 2030 vor?« oder »Welche attraktiven Angebote werden Touristen anziehen oder« - man beachte den bewusst eröffneten Gegensatz - »bilden die Seen Anwohnern wertvollen Erholungsraum?« zu Informationsveranstaltungen und zur Mitwirkung gelockt. Dabei stand die Richtung bereits seit Jahren fest: Unter dem Titel Investitionsfreundliche Region« war wenige Jahre zuvor ein Projekt aufgelegt worden, dessen Kurzbeschreibung sich wie folgt liest:

»In der Vergangenheit kam es mitunter zu Kollisionen von Interessen der Wirtschaft und denen von direkt oder indirekt betroffenen Bürgern. Das betraf touristische wie industrielle Vorhaben gleichermaßen. [...] Da unsere Zukunft in weiteren und mehr wirtschaftlichen Vorhaben als bisher liegt [!], besteht auch die Gefahr, dass damit entstehende Interessenkonflikte [...] auf eine Weise ausgetragen werden, die Investoren abschreckt, wirtschaftlichen Vorhaben behindert, die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert und unserer Region ein nachteiliges Image einbringt. Doch dürfen die entschlossene Durchsetzung von verständlichen Einzelinteressen, wie die Ruhe im Vorgarten, nicht das Gesamtwohl und die Zukunftsaussichten der Region und damit ihrer Bewohner beschädigen.«

Besonders die Essenz des letzten Satzes findet sich auch in der Präambel der Charta wieder: »Mit dem Willen für das Ganze und der Mitwirkung des Einzelnen wird eine gemeinsame Perspektive entwickelt.« Immerhin hat es durch die Bürgerbefragung ein Bedürfnis in die Charta geschafft, das den Freunden der In-Wert-Setzung so fremd sein musste, dass es in ihrem Aufriss vollkommen fehlte. Die »einzigartigen, blau schimmernden Seen sind und werden mit den natürlichen, von wertvollen Auen begleiteten Fließgewässern zu [...] attraktiven Räumen« mit »vielfältigen Potenzialen [...], die es sensibel und zukunftsorientiert weiter zu entwickeln und« - dieser Teil fehlte bis zuletzt - »weitestgehend [!] öffentlich zugänglich zu erhalten gilt.«

Bereits im Entwicklungskonzept für den Südraum Leipzig wurde konstatiert, dass sich die »Nutzungseinschränkungen der Wasserflächen bezüglich verschmutzender und lärmintensiver Motorsportaktivitäten« »nachteilig« auf »Aktivurlaub«-Angebote auswirken. »Diese würden aber zum einen«, gesteht man ein, »mit der Nutzung als Wohnstandort in Seenähe und als Erholungsgebiet sowie zum anderen mit der Naturschutzabsicht für viele Renaturierungsflächen kollidieren. Dennoch ist [...] eine ökologische Verträglichkeit« - die AnwohnerInnen und NaherholerInnen sind bereits wieder vergessen - »unter bestimmten Auflagen gegeben.«

Der Bericht schließt mit der Forderung, es müsse hinsichtlich der Nutzung »in der Region eine strategische Entscheidung getroffen werden.« Denn ein »erfolgversprechender Aufbau von erlebnisorientierten Aktivitäten auf dem Wasser [...] ist aufgrund bisheriger regionaler Nutzungsbeschränkungen, die befürchtete Verschmutzungen und den Lärmschutz betreffen, nicht möglich.«

Genau an dieser Stelle setzt die IHK Leipzig wieder an. »Ausnahme- und Einzelgenehmigungen sind keine Alternative für notwendige [sic!] Anpassungen von Gesetzen und Verordnungen«, heißt es in der Resolution. Zwar sei es »erfreulich, dass seit 1990 an vielen Stellen im Neuseenland neue Naturrefugien [...] entstanden sind«(3), tragen diese doch »als weiche Standortfaktoren unbestritten zur Attraktivität unserer Region bei. Misslich sind jedoch die Konfliktpunkte zwischen touristischer Entwicklung und Arten- und Biotopschutz im Einzelnen.« Vielmehr würden, wie beispielsweise beim Floßgraben, die »Naturschutzbelange auf die Spitze getrieben.« »Ausgerechnet« dieser sei »erst durch Maßnahmen in Vorbereitung der wassertouristischen Nutzung [...] als Gewässer gesundet.« Offenbar zu erfolgreich, weil sich die IHK nun darüber beschwert, dass der »der Eisvogel wieder einen für sich attraktiven Lebensraum vor[fand]« und die Landesdirektion nun erwägt den Floßgraben aus Artenschutzgründen ganz für den Wassertourismus zu sperren. »Im schlimmsten Fall«, schlägt die IHK Alarm, »droht hier ein ›wassertouristischer Totalschaden‹«. Zwar hat der Floßgraben auch eine Hochwasser-regulierende Funktion, doch ohne WassertouristInnen mag die IHK die beiden neu gebauten Schleusen nur noch als »Investruinen« abschreiben. Ebenso »einig« glaubt sich »die Leipziger Wirtschaft mit der Mehrheit der Bürger« hinsichtlich der blockierten Entwicklung eines »Beherbergungsgewerbes« am Schladitzer See, da diese vollständig im Siedlungsbeschränkungsbereich (Lärmschutz) rund um den Flughafen Leipzig/Halle liegt.

Die meiste Ablehnung erfuhren in der Charta-Befragung übrigens »Haus-Bauprojekte bzw. Privatisierungen von Ufern und Gewässern«, »Motorboote und Sport«, »Massentourismus« und »Kommerz/Profit«. Zur öffentlichen Unterzeichnung der »in einem umfassenden Beteiligungsprozess« entwickelten Charta wurden interessierte AnwohnerInnen dann symbolträchtig auf die MS Markkleeberg geladen.(4)

Doch alles halb so wild. Wer sich den Besuch der internationalen Tourismusdestination im Süden Leipzigs bald nicht mehr leisten kann, darf sich vielleicht bald im ebenso steuermittelrenaturierten, aber nicht-mehr-ganz-so-Naherholungsgebiet Möckern erholen. Immerhin sieht die IHK hier einen so »harten Rechtsrahmen« am Werk, dass für den Nordraum Leipzig »kaum mehr Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb des Leipziger Neuseenlandes bestehen.« Jedenfalls bis die Investoren kommen.

Vielleicht würde es sich für die IHK ja auch einmal lohnen, die Sache von der anderen Seite her zu betrachten und sich zu fragen, was eigentlich das ganze Prekariat/Proletariat tun würde, wenn es diese Seen nicht gäbe? Die Antwort liegt auf der Hand: auf dumme Gedanken kommen. Es ist nicht schwer zu erraten, dass Leipzig durch die Seen noch einiges an (zusätzlicher) Randale, Bambule, Krawall und Remmidemmi erspart bleibt. Mit anderen Worten: Die Rolle von Naherholung und Breitensport ist an dieser Stelle nicht zu unterschätzen. Denn, um wieder einmal Siegfried Kracauer herbeizuzitieren, »die Ausbreitung des Sports löst nicht Komplexe auf, sondern ist unter anderem eine Verdrängungserscheinung großen Stils; sie fördert nicht die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse, sondern ist insgesamt ein Hauptmittel der Entpolitisierung. Das hindert nicht, dass in der Übersteigerung des Sports sich auch die revolutionäre Massensehnsucht nach einem Naturrecht kundgibt, das wider die Schäden der Zivilisation aufgerichtet werden könnte. Nicht nur der vielen Seen wegen ist in Berlin der Wassersport so beliebt. Tausende junge Angestellte träumen vom Paddeln [...]. Der nackte Körper wächst zum Sinnbild des aus den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen befreiten Menschen heran, und dem Wasser wird die mythische Kraft zugeschrieben, den Schmutz des Betriebes abzuwaschen. Es ist der hydraulische Druck des Wirtschaftssystems, der unsere Schwimmanstalten übervölkert.«

In diesem Sinne: (Wasser)Sport frei!


shadab & marlon

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Anmerkungen

(1) Zu beachten ist hier auch die Singular- und Subjektform, die dem Ganzen den Glanz des Zwischenmenschlichen verleihen soll.


(2) In den strukturschwachen Landkreisen erzielten diese Punkte höhere Prioritätswerte (25-80%), was jedoch auch an der Nennung des Faktors Tourismus als regionalem Wirtschaftsfaktor und im Zusammenhang mit der Schaffung von Arbeitsplätzen in der Umfrage liegen mag.


(3) In dieser Formulierung wird zudem bewusst die zeitliche Abfolge umgekehrt, um den Tourismus anstatt der Renaturierung als ursprüngliche und damit vorrangige Bestimmung der Region festzuschreiben.


(4) Dies kann durchaus als richtungsweisende Antwort auf die Frage »Sollen Hausboote die Uferränder säumen oder soll ausschließlich unberührte Natur zu bewundern sein?« verstanden werden, mit welcher die AnwohnerInnen zur Diskussion über die Charta bewogen werden sollten.

24.05.2016
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