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Aktuelles Heft

INHALT #215

Titelbild
Editorial
• das erste: Thesen für kein »Allahuakbar«, sondern eine Todes-Fatwa
2cl Sommerkino auf Conne Island
Klub: KANN Garden
Klub: electric weekender 2014
• doku: Feuilleton vs Onkelz: Guter Pop, böser Pop
• inside out: Jahresbericht Projekt Verein e.V. 2013
• doku: Demagoge des Mainstreams
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• das letzte: ZWEI TAGE MIT MICHAEL

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Thesen für kein »Allahuakbar«, sondern eine Todes-Fatwa

Hamed Abdel-Samads neues Buch »Der islamische Faschismus – Eine Analyse«

»Ein wichtiges Buch, dessen Thesen Hamed Abdel-Samad eine Todes-Fatwa1 einbrachten.
Allein das entlarvt den Islamismus.«

So zumindest preist das Buch sich selbst. Allein, wenn sich der Islamismus so einfach entlarvte, wäre dieses Buch wohl nicht nötig gewesen. Aber wir wissen was gemeint ist. Schließlich schaffen Ideologen aller Sorten und ihr Publikum allerorten pro-faschistische Bewegungen als harmlose traditionalistisch-folkloristische Identitätspolitik zu verstehen, gewalttätige Nazis als marodierende Jugendbanden, den Verzicht auf Wahrheit als die Suche nach ihr, die auf Wohngebiete abgeschossenen Raketen der Hamas als legitimen Kampf gegen Unterdrückung, die Diskriminierung von Frauen und Homo-sexuellen als Ausdrucksform kultureller Souveränität, fanatische Selbstmordattentäter als verzweifelte Außenseiter, die zweite deutsche Staatsräson des Iran-Appeasements als verträglich mit Israels Sicherheit, dessen Selbstverteidigung als per se unverhältnismäßige Vergeltungsschläge, genauso wie den Antisemitismus in israelkritischer Ver-kleidung als legitime wohl-noch-sagen-dürfen-zu-werdende Kritik, der es dank und mit der Süddeutschen kontinuierlich auf deutsche Studenten-WG-Küchentische schafft.
Verstand und Urteilsvermögen von Ideologen wie Publikum erstmal dahingestellt – 
»eine Analyse« klingt doch schonmal nicht schlecht und zum Thema Islamischer Faschis-
mus wäre das ohnehin nicht verkehrt. Seine TV-Serie mit Broder war ja ganz lustig, aber ob ihn das schon für das Thema qualifiziert? Immerhin ist der aus Kairo stammende Hamed Abdel-Samad Politikwissenschaftler und früher selbst Mitglied der Muslimbrüder gewesen. Klingt schon spannender. Es stellt sich also die Frage: Kann er etwas zur Erkenntnis des Islamischen Faschismus beitragen? Und wenn ja, was?
In Teilen von »Der Islamische Faschismus« entsteht der Eindruck, als entpuppe sich Hamed Abdel-Samad hier als ein radikaler Religionskritiker, da er auch die theolo-gischen Grundlagen des Islam in seiner Betrachtung nicht unangetastet lässt. Er leitet das Buch schon mit seiner Grundthese ein, dass faschistoides Gedankengut bereits in der Urgeschichte des Islam begründet sei.
Hierfür beginnt er, seinen Begriff von Faschismus darzulegen, den er vor allem als politische Religion versteht und nennt dafür einige seiner wesentlichen Merkmale: Das Vorhandensein eines unfehlbaren Führers mit einem als heilig bestimmten Auftrag, ein auf Freund-Feind-Schema basierendes zweigeteiltes Weltbild, Opferbereitschaft bis zum Tod, Militarismus, Weltherrschaftsanspruch und die Anknüpfung an eine mythisch verklärte Geschichte sowie darüber hinaus Sexismus, Machismus, Fremdenfeindlichkeit und die Unterdrückung von Kritik.
Zweifelhaft ist hier bereits, dass er sich auf totalitarismustheoretische Annahmen stützt und zur Gleichsetzung neigt. Zu diesem Zweck zieht er immer wieder fragwürdige Vergleiche mit der anderen vermeintlichen totalitären Bewegung des 20. Jahrhunderts heran, die er mal Kommunismus, mal Bolschewismus nennt. Der moderne Islamismus zeige nun genau diese Merkmale in mehr oder weniger starker Ausprägung. Dafür spielt das Dschihad-Prinzip eine besondere Rolle. Der Begriff unterliegt zwar verschiedenen Deutungen. So wird er oft als bloßer Dienst an Gott sowie als Mittel der Selbstverteidigung verharmlost. Doch die Realität, d.h. die Praxis des Dschihadismus sieht anders aus, worauf später noch näher einzugehen sein wird. Sein Text leidet hier leider unter Pauschalisierungen etwa derart, dass dem Dschihad-Prinzip zufolge am Ende die Weltherrschaft stehen werde und alle Feinde bzw. Ungläubigen ausgelöscht würden.(2)

Eine weitere These ist die von Faschismus und Islamismus als »Krankheiten verspäteter Nationen«, was auf traditionell muslimische Nationen, die sich im post-kolonialen Zerfall befänden, besonders zutreffe. In diesen Ländern käme es ähnlich wie im Deutschland und Italien des beginnendes 20. Jahrhunderts zu einer gefährlichen Mischung aus der Sehnsucht nach Wiederauferstehung zu alter Größe, nach Rache für »Ungerechtigkeiten«, wie sie Deutschland etwa in Versailles gesehen hatte, sowie von Ohnmachts- und Allmachtsphantasien, was auch immer das heißen mag.
Die für seine Argumentation herangezogenen Theoreme mögen zwar in gewisser Hinsicht eine Berechtigung (gehabt) haben, sind aber zur Erklärung faschistischer Bewegungen nicht wirklich ausreichend und ihre Rolle in der Faschismusforschung kann als überholt angesehen werden. Umso weniger geeignet sind sie somit für einen Vergleich dieser Bewegungen zumindest dann, wenn nicht mehr empirisches Material zu ihrer Begründung geliefert wird. Dass Abdel-Samad den vorhandenen Erkenntnisstand
bewusst umgeht rückt ihn in die Nähe zur Indoktrination. Damit hängt sicher auch
Abdel-Samads Schwäche zusammen, dass er zwischen Faschismus- und Totalitaris-
mustheorie hin und her wechselt, als wären ihre Erklärungsansätze schlicht die gleichen. So klingt es dann auch ein wenig Jesse und Backes, wenn er im Islamismus – neben Faschismus und Bolschewismus – die dritte Widerstandsbewegung gegen die Moderne im 20. Jahrhundert ausmacht. Alle drei »wehrten sie sich vehement gegen zentrale Eckpfeiler der Aufklärung: Vernunft, persönliche Freiheit und Freiheit des Denkens, Individualität, Menschenrechte, die Autonomie des menschlichen Körpers sowie die Meinungs- und Pressefreiheit.«(3)
Er lässt dabei außer Acht, dass diese Bewegungen eben gerade auch Modernisierungsbewegungen waren, sich aber dennoch gravierend unterschieden. Die Totalitarismus- sowie die Extremismustheorie verwischen jedoch deren Unterschiede zugunsten von Gleichsetzung und damit politischer Funktionalisierung.

Erneut fällt seine ungenaue Wortwahl auf, wo er etwa schreibt, dass »ein Islamist, egal welche politische Färbung oder Tarnung er hat, nur ein Motiv kennt, wenn er in die Politik geht: Er will die islamistische Gesellschaftsordnung und die Gesetze der Scharia durchsetzen...«(4) (Hv. d. A.) Hier stellt sich natürlich die Frage: ist das in einer so pauschalisierenden Weise zulässig? Dieses Problem hat in der einzig ernstzunehmenden Rezension des Buches, die in der jungle world(5) erschienen ist, bereits Hannes Bode berührt, für den allerdings schon die Rede von »dem Islam« zuviel ist. Wenn dieser meint, dass Abdel-Samads Hinweis auf die Uneinigkeit der Muslime darüber, »welche Form des Islam nun die wahre ist, […] die Rede über »den Islam« ad absurdum führt«, sei nur am Rande die Frage angemerkt: Was ist eigentlich Hannes Bodes Problem mit Allgemeinbegriffen?

Achse Kairo – Rom – Berlin:
Muslimbrüder und Faschisten

Im Anschluss daran bildet die Analyse der Muslimbruderschaft einen wichtigen Teil des Buches. Deren Gründer Hassan Al-Bana hatte den italienischen und Nazi-Faschismus und deren Führer nicht nur als Vorbilder bewundert, sondern sich auch von ihnen für seine eigene Organisation inspirieren lassen und wesentliche Elemente übernommen.
So sei Al-Bana etwa begeistert über den faschistischen Militarismus gewesen und habe diesen schon als im Islam angelegt gesehen, mit einem Unterschied allein in der Zielsetzung beider: »Kaum eine Sure im Koran, wo der Muslim nicht aufgefordert wird, Mut, Ausdauer, und Kampfgeist zu zeigen und den Dschihad für die Sache Gottes zu führen«.(6) Die zweite zentrale Figur, der Mufti von Jerusalem Amin El-Husseini übertraf Al-Bana noch in der Begeisterung für den Faschismus. Nach einem arabischen Aufstand gegen die Britische Kolonialmacht im damaligen Palästina musste er fliehen und wurde in Nazi-Deutschland sogar als persönlicher Gast Hitlers aufgenommen. Der Einfluss des NS vergrößerte sich im Nahen Osten, die Verbreitung antisemitischer Propaganda lief dank bester Zusammenarbeit im großen Maßstab an.

Im weiteren Verlauf schaut sich der Autor die theologischen Grundlagen des Islam an und vergleicht sie mit den anderen beiden monotheistischen Religionen, dem Juden- und dem Christentum. Ausschlaggebend ist hier die Geschichte von Abraham, der seinen Sohn Isaak fast für Gott geopfert hatte, die sowohl im alten Testament der Bibel, als auch – abgewandelt – im Koran aufgeschrieben wurde. Und schon hier findet er
zwei Kern-Aspekte des Faschismus wieder: bedingungsloser Gehorsam und absolute
Opferbereitschaft. Damit verknüpft er zwar die Aussage, dass der Faschismus tendenziell mit dem Monotheismus im Allgemeinen verwandt sei, besonders im Vergleich mit
dem Polytheismus, beschränkt sich aber im Weiteren auf den Islam, dessen Name sich im übrigen vom arabischen Verb aslama für (sich) ‘unterwerfen’ ableite, als speziell
von faschistoiden Gedanken durchzogen. Den Gott des Islam beschreibt er als blutrünstig, despotisch und machtbesessen, vergisst aber den Hinweis, dass dies den Gottes-
bildern in den anderen monotheistischen Religionen entspricht.

Er versucht weiterhin nicht nur auf die zeitlichen, sondern auch die inhaltlichen und strukturellen Parallelen zur NS-Bewegung hinzuweisen, betont aber auch, dass der Geist der Muslimbrüder schon frühere Wurzeln hat. Dafür gibt Abdel-Samad eine religionsgeschichtliche Betrachtung des Islam und dabei vor allem der Wendung des Propheten Mohammed und der Heimstätte des Islam – Mekka – von Offenheit und Toleranz gegenüber Andersgläubigen hin zu Feindseligkeit und Verfolgung. Er geht dabei speziell auf Theologen ein, die für heutige islamistische Strömungen wegweisend waren, das jedoch womöglich um den Preis der Ausklammerung einer Vielzahl moderater theologischer Schulen.
Seine historische Analyse führt ihn zur Feststellung, der Islam habe zur Fortschrittlichkeit (in) der arabischen Welt des Mittelalters kaum etwas beigetragen. In seinen Anfängen sei der Islam noch vom Prinzip des »fiqh« (‘verstehen’) gekennzeichnet. Dies habe sich aber gewandelt, und dieser Wandel sei in der Regel durch Krisen und Angriffe von außen verursacht worden, v.a. etwa in der Zerstörung Bagdads durch die Mongolen (im 14. Jahrhundert). Folglich sei es auch zu einem Wandel des Bildungsideals gekommen hin zur Maxime: »Alles Wissen steht im Koran«. Somit war die oft eingeführte Erneuerung durch neue, sich teils revolutionär gebende Strömungen stets ein zurück-zu-den-Wurzeln.
Einen weiteren Eckpfeiler seines Buches stellt das bereits angesprochene Dschihad-Prinzip dar. Er schreibt, dass dieses nicht moderne Islamisten erfunden hätten, sondern vom Propheten Mohammed stammt. Von der oft betriebenen Relativierung des Begriffs als Differenzierung zwischen »kleinem« Dschihad als bewaffnetem Kampf gegen die Feinde des Islam und »großem« Dschihad – verstanden als »Sichabmühen auf dem Weg zu Gott« – solle man sich genausowenig täuschen lassen, wie von den vielen, nach den Anschlägen des 11. September 2001 von Geistlichen verbreiteten »apologetische[n] Texte[n], in denen sie den Islam als Religion des Friedens bezeichneten, die jede Form von Gewalt ablehnt«.(7)

Abdel-Samad betont dagegen: »Der Dschihad, wie ihn der Prophet verstanden und praktiziert hat, ist das eigentliche Problem. Die koranische Aufteilung der Welt in Gläubige und Ungläubige ist das Problem. Die Unantastbarkeit des Propheten und des
Koran ist das Problem.«(8) Seine radikale Kritik ist zwar sympathisch. Dass er im selben Absatz allerdings von einem Virus spricht, verleiht all dem einen üblen Beigeschmack, der sich fast durch das gesamte Buch zieht. So sei etwa die katastrophale Situation der despotischen arabischen Gesellschaften eine »genuin islamische Krankheit« und als solche der Nährboden für Antisemitismus und Fundamentalismus, zitiert er den Historiker Abdel-Wahab Meddeb.(9)
Des weiteren nimmt der wohl maßgeblichste islamistische Theoretiker Sayyid Qutb einigen Raum in Abdel-Samads Buch ein. Dessen Denken bezeichnet der Autor als revolutionär und seine Werke mit Titeln wie »Unser Kampf mit dem Juden« gelten als Standardwerke nicht nur für islamistische Terrorgruppen: »Die Mehrzahl der Führungskräfte der Muslimbruderschaft heute sind »Qutbisten«.(10) Für ihn war das Dschihad-Prinzip die »sechste Säule des Islam«.

Aufschlussreich, wenn auch nicht neu, ist seine bis ins Mittelalter zurückreichenden historischen Betrachtung des arabischen Antisemitismus, aber vor allem der fruchtbaren Kooperation von Nazis und Muslimbrüdern, für die er sich chronologisch an einigen Wegmarken des antisemitischen Durchbruchs im Nahen Ost entlang hangelt. Genannt wird etwa: die Forderung des Mufti von ‘31 nach einem judenfreien Palästina, den an Juden verübten Massakern von Hebron ‘29 und Constantine ‘34 (Algerien), die Übersetzung der Protokolle der Weisen von Zion ins arabische, der arabische Aufstand gegen die Briten ‘37 sowie dessen Niederschlagung und die anschließende Flucht der Führung, der Aufenthalt des Mufti in Deutschland ‘41.

Porno-Paradies als Utopie

Im nächsten Kapitel widmet sich der Autor auch der islamischen Erlösungsvorstellung, die er durch die islamische Theologie in endlosem Sex mit einer Vielzahl von Jungfrauen im Paradies beschrieben sieht. Dieses Paradies stelle insofern das komplette Gegenteil des Diesseits dar, weil die Märtyrer dort die Aufhebung aller diesseitigen Einschränkungen erwarte. Dass in den entsprechenden theologischen Beschreibungen Frauen nur als Objekte und als das bloße Beiwerk für die Genüsse der Männer dargestellt werden, als das sie ja in den islamistisch geprägten Gesellschaften auch nur behandelt werden, versteht sich fast schon von selbst. Er spricht darüber hinaus von »sexuellem Dschihad« als einer auf den Propheten zurückgehenden Tradition, da von jenem überliefert ist, dass er eine seiner Frauen, Safiyya, auch vergewaltigt habe. Mohammeds Frauen gälten davon abgesehen als Vorbilder für muslimische Frauen und damit auch als Rechtfertigung für Geschlechterapartheid. Abdel-Samad verschweigt dabei jedoch nicht, dass die islamische Sexualmoral und Ablehnung bzw. Skepsis gegenüber Frauen und daraus resultierende Gebote im Kern aus dem Judentum übernommen wurden, z.B. das Verbot außerehelichen Geschlechtsverkehrs und die Steinigung von Ehebrecher-
innen. Zur Veranschaulichung der Dimensionen, die erreicht werden, wenn solche Ideen verrechtlicht werden, liefert er Auszüge aus dem haarsträubenden iranischen Strafgesetzbuch, in denen etwa die zu leistende Entschädigung bei Körperverletzung bzw. Mord festgelegt ist: für einen versehrten linken Hoden (dem die Zeugung von Männern zugeschrieben wird) 66 Kamele – für eine Frau 50 Kamele.

In einem weiteren Kapitel beleuchtet er knapp die Rolle der Schiiten, wofür er als inside view auch den skeptischen schiitischen Theologen Hani Fahs zu Rate zieht und versucht, der faschistischen Gesellschaft des Iran auf den Grund zu gehen. Danach lässt der Autor – in einem mit »Aufstand der Ungläubigen« überschriebenen Kapitel – mit seiner Beschreibung des immer offeneren Auftretens von sich als Ungläubigen oder Atheisten verstehenden Menschen in Ägypten die Hoffnung beim Lesenden aufkeimen, dass dort in den letzten Jahren ein wirklicher Wandel begonnen habe.
Aber schon im nächsten Kapitel fällt der teils positive Bezug auf Thilo Sarrazin negativ auf, der abgesehen von seinen rassistischen Thesen (oder auch gerade mit ihnen), »einen Nerv getroffen« habe. In diesem Kontext hält Abdel-Samad etwa die »Unsicherheit
vieler Deutscher in Bezug auf ihre eigene Identität und die Zukunft, vor allem bei der
Generation sechzig plus« für nachvollziehbar. Gleichwohl ihm die Funktion von
kollektiver Identität als Kitt für eine von Widersprüchen zerrissene Gesellschaft hier zu entgehen scheint, ist ihm zu Gute zu halten, dass er die Tendenz zur Benachteiligung und zum Ausschluss alter Menschen gegeben sieht, die für ihn die Empfänglichkeit für Chauvinismus und Sozialdarwinismus der Sarrazinschen Prägung vergrößert, was sich wiederum im verstärkten Ressentiment gegenüber Muslimen ausdrücke. Außerdem stellt er fest, es gäbe ein hohes »Beleidigungspotenzial vieler Muslime, die sich leicht in die Opferecke ziehen lassen«. Hierdurch vertieften sich die Gräben oder neue entstünden.

Salafismus: Ableger des Islamismus in Europa

Eine weitere Parallele wird von Abdel-Samad zum türkischen Präsidenten Erdogan gezogen, dem er die Rolle eines Wolfs im Schafspelz und damit eine Vorbildrolle für Islamisten und ihr ambivalentes Verhältnis zu demokratischen Wahlen zuschreibt, da dieser die Zielsetzung und Praxis der Nazis teile: Unterwanderung demokratischer Institutionen sowie ihre Auflösung und Abschaffung.
In diesem Zusammenhang beleuchtet er auch nochmal die beiden wichtigsten islamistischen Strömungen der Salafisten und Dschihadisten, die sich konkurrierend bis feindlich gegenüberstehen. Den Salafismus beschreibt er als vor allem in den europäischen Gesellschaften attraktive Alternative für orientierungslose Jugendliche, sieht hier sogar die wichtigste Rekrutierungsinstanz. Außerdem weist er auf die Gefahr von muslimischen Parallelgesellschaften in Europa hin, die ihre eigene, meist extrem patriarchalische Rechtsprechung aufbauten, in die der Staat nicht eingreife, was eine enorme Frauenunterdrückung bedeute.
Im Hinblick auf die europäischen Staaten stellt er einige Forderungen. Bemerkenswert ist, dass er sich an die schweigende Mehrheit der friedlichen und demokratischen oder unpolitischen Muslime richtet und meint, diese sei nun gefragt. Sie müsse gegen Extremismus in ihrer Religion kämpfen und z.B. auch gegen den Terror protestieren, genau so wie sie etwa gegen die Mohammed-Karikaturen aufschreit. Gleichzeitig sei auch der Staat gefragt. Die Institutionalisierung von Religionsverbänden sieht er als höchst problematisch an. Die Islamverbände in Deutschland strebten danach, Körperschaften des öffentlichen Rechts zu werden, um ihren Einfluss zu vergrößern, beriefen sich dabei auf das Staatskirchenrecht, das Religionspflege als öffentliche Aufgabe festschreibt. Dieses Recht sei jedoch ein Anachronismus und nicht mehr angemessen. Statt Religionsverbänden mehr Privilegien einzuräumen, solle der Staat für neutrale Wissensvermittlung sorgen. Zudem müsse er für mehr Chancen und Möglichkeiten für muslimische bzw. generell migrantische Jugendliche sorgen sowie stärker gegen verbreitete Vorurteile ankämpfen. Und andererseits müssten die Muslime lernen, offener mit Kritik umzugehen. Er ist realistisch genug, zu konstatieren, dass diese Forderungen schwer umzusetzen sind und nennt als zwei Kernprobleme hierfür: die Ideologie und Struktur der muslimischen Communities sowie die Geisteshaltung der Europäer. Wenngleich Aktionismus und Lippenbekenntnisse zu nichts führten, so hält er dennoch fest: Die »Debatte über den Islam darf weder Ängste schüren noch alle Muslime unter Generalverdacht stellen. Sie sollte vielmehr übergehen in eine Debatte über den Einfluss von Religionen im Allgemeinen.«(11)


Fazit

Zwar äußert sich der Autor schon zu Beginn als Religionskritiker, lässt aber, seiner liberalen Grundhaltung getreu, die Legitimität der Glaubensgemeinschaft der Muslime unangetastet, versucht also den Spagat zwischen Religionskritik einerseits und dem Zugeständnis der freien Auslebung des Glaubens im Sinne der Religionsfreiheit
andererseits. Dass er den Islamismus seinem Sinnbild folgend als unfähigen, verkrüppelten alten Mann, der wütend mit seiner Krücke um sich schlägt und daher vielmehr als Identitätskrücke denn als identitätsstiftend ansieht, mag zwar treffend klingen wollen, verkennt aber, dass der Islam genau das ist – nämlich identitätsstiftend. Doch eigentlich weiß er es selbst besser, denn er beleuchtet später genau diese gesellschaftliche Funktion der Religion, die in Europa ebenso zutrifft, da der Islamismus hier eine Alternative zur Moderne zu bieten scheint, während er in den islamischen Gesellschaften weniger ein identitäres Alternativ-Angebot ist, sondern eine ungeheuer wichtige und nicht wegzudenkende Rolle durch seine gewaltigen Machtmittel und die starke Verankerung im Alltagsleben erhält (oder kurz: etabliert ist).
Als ein generelles, wenn nicht das Kernproblem sieht der Autor nun die Unantastbarkeit der Religion und formuliert – obgleich nur implizit – die Forderung nach Religionskritik bzw. danach, mit dieser nicht vor dem Islam zurückzuschrecken. Er offenbart dadurch eine Schnittstelle mit materialistischer Gesellschaftskritik. Und die ist aus guten Gründen und schon mit Marx beginnend, seit ihren Anfängen religionskritisch.
Letztlich übernimmt der liberale Autor Abdel-Samad, was die Pflicht jeder materialistischen Kritiker_in wäre, nämlich die Demontage der Religion des Islam.
Denn es gilt (sich) daran zu erinnern, welches emanzipatorische Potential Religionen bieten: Keines. Im Gegenteil, sie beinhalten vielmehr seit jeher das Potential für Unterdrückung. Und die Befreiung der Menschen musste und wird weiterhin als Befreiung vom Joch der Religion anfangen. Abdel-Samad nimmt diese Aufgabe wahr, indem er, wenn auch mit großen Mängeln, zeigt welcher Art die Gefahr für die Freiheit – sei diese Freiheit auch nur eine unter dem Mantel der Rechtsstaatlichkeit – tendenziell ist, die vom Islamismus ausgeht: nämlich eine faschistische.
Zu fragen ist daran anschließend nach den Gründen, warum die vielen anderen, christlich geprägten Nationen den Sprung zur Säkularisierung geschafft haben oder, was dasselbe ist, warum sich die mit der Aufklärung verbundenen Freiheiten in den muslimisch geprägten Staaten der Welt noch nicht durchgesetzt haben. Abdel-Samad bietet darauf einige Antworten, die jedoch nicht zufrieden stellen.

Die These der verspäteten Nationen klingt zwar erst einmal plausibel, ebenso wie die Feststellung, dass sich nach der Zeitrechnung des Islam dieser im Jahre 1435 befindet, also einer Epoche, die der Autor analog dem Christentum als Mittelalter bezeichnet. Zudem sprechen die enorme Macht und der Einfluss des Klerus bzw. der theologischen Schulen des Islam, die Sektiererei und die Vielzahl religiös motivierter kriegerischer Auseinandersetzungen sowie die teils verheerenden ökonomischen und politischen Situationen der vielen altmodischen arabischen Länder für einen Vergleich mit dem christlichen Mittelalter. Die These hätte jedoch noch weitaus mehr Grundlegung nötig, als bloßer augenscheinlicher Parallelen, wie sie Abdel-Samad aufzählt, was jedoch womöglich weder in den Umfang des Werkes, das er ja lediglich als Weckruf verstanden wissen will, noch in die Intention seines Autors passte. Der bereits erwähnte Hannes Bode hat in seiner Rezension auf die inhaltlichen Schwächen hingewiesen, jedoch leider ohne dies ausreichend zu begründen: »Bei den meisten von Abdel-Samad angeführten Entwicklungen handelt es sich eher um ideologische Reaktionen auf krisenhafte Transformationsprozesse der kapitalistischen Moderne, als um einen im ursprünglichen Islam angelegten Faschismus.« Darüber hinaus wirft er ein Augenmerk auf biographische Motive, wenn er auf die islamistische Sozialisation Abdel-Samads aufmerksam macht: »Hat er sich nun auch von den Islamisten abgewandt, bleiben sein Wissen über religiöse Traditionen, Gesetze und Pflichten sowie sein Gottesbild bestimmt von ihrem ideologischen identitären Begriff des Islam. […] Die erfundene Tradition versteht er als Realgeschichte.« Dafür, dass sein Begriff des Islam ideologisch identitär (!) sein soll, hat Abdel-Samad allerdings relativ viel davon begriffen, nämlich zumindest das nötigste und damit mehr, als jenes bürgerliche bis rechte Feuilleton, in dem er möglicherweise nur deshalb mitunter so positiv aufgenommen wird – wie Bode meint (und er wird weitaus nicht so positiv aufgenommen wie Bode meint) – weil er deren Ängste und Bedürfnisse nach identitärer Abgrenzung und Ausschluss befriedigt.
Unabhängig davon ist die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Islam zur Politik gerade für eine auf Befreiung des Individuums zielende Kritik der Gesellschaft unerlässlich. Das beinhaltet auch jene steinharte und vor den Bedürfnissen der einzelnen Gläubigen nach Halt in eben jener Religion nicht zurückschreckende Kritik, deren Stein Abdel-Samad zumindest anzustoßen versucht.


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Anmerkungen

(1) In der islamischen Rechtsprechung eine von einer religiösen Autorität erteilte Auskunft oder Gutachten zur Klärung rechtlicher Fragen oder Probleme, einschließlich der Verkündung von Todesurteilen (d.h.: Mordaufrufen).
(2) Seite: 21
(3) Seite: 25
(4) Seite: 29
(5) 22/2014, http://jungle-world.com/artikel/2014/22/49947.html
(6) Seite: 38
(7) Seite: 128
(8) Ebd.
(9) Seite: 93
(10) Seite: 79
(11) Seite: 198

23.07.2014
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